W. Thomas Boyce
Orchidee oder Löwenzahn?
Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können
Verlagsgruppe Droemer Knaur
ISBN: 978-3-426-27713-3
336 Seiten
19,99 Euro
E-Book 7,99 Euro
Bei dem Buch „Orchidee oder Löwenzahn? Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können“ von Prof. Dr. W. Thomas Boyce gibt die eigene Familiengeschichte des Autors den Anstoß dazu, sich mit dem Wesen und Werden unserer Kinder zu beschäftigen. Durch eine rein zufällige Begegnung entstanden die Kategorien Orchidee und Löwenzahn, in die sich laut Boyce jedes Kind einordnen lässt. Mit diesem Wissen verspricht er sich, dass es dem Erwachsenen gelingt, noch feiner und differenzierter auf die Kleinsten unserer Gesellschaft einzugehen. Ihre Bezugspersonen tragen eine enorm hohe Verantwortung und dieses Buch kann und soll helfen, diese noch besser ergreifen zu können.
Sensible Orchideen und robuste Löwenzahnkinder
Orchideenkinder sind, wie die Zuordnung schon vermuten lässt „gesegnet und belastet mit einer außerordentlichen Empfindsamkeit“. In ihnen stecken „verborgene Kapazitäten für ein Leben von Schönheit, Ehrlichkeit und bemerkenswerten Leistungen“, doch macht sie ihre Sensibilität auch empfänglicher für negative Einflüsse, die ihre Existenz und Gesundheit gefährden können. Häufig haben Orchideen eine „Tendenz zu Schüchternheit, sensorischer Empfindlichkeit und Furcht vor neuen Situationen“. Daher betont Boyce, wie entscheidend es bei Orchideenkindern ist, dass sie ein liebevolles Umfeld haben. Dann nämlich führt ihre außergewöhnliche Sensibilität dazu, dass sie die Zuneigung ihres Umfelds im besonderen Maße genießen können, weil sie eben genauso durchlässig für gute und heilsame Bedingungen sind.
Löwenzahnkinder hingegen ließen sich „weniger leicht von den Launen des Lebens beeindrucken […] und zeigten weniger extreme Reaktionen, positive wie negative“. Das zeigt, „dass Orchideen- und Löwenzahnkinder ein und dieselbe Erfahrung völlig anders erleben […]“. Löwenzahnkinder, die deutlich häufiger unter Kindern zu finden sind, zeigen eine „bemerkenswerte Resilienz gegenüber den Herausforderungen und Bedrohungen des Lebens“.
Boyce betont allerdings, dass es viele Melodien dazwischen gibt und dass die Zugehörigkeit zu einem Orchideen- oder Löwenzahnwesen keineswegs die Zukunft eines Kindes festschreibt. Orchideenkinder können in einem liebevollen Umfeld strotzen vor Gesundheit. Und dann bleibt auch immer noch ein Bereich des Unvorhersehbaren, die Launen des Lebens.
Ein Hintergrundrauschen wird entschlüsselt
Das Buch und auch der Weg des Autors, die Unterschiede in der Entwicklung von Kindern und ihrer Gesundheit zu erforschen, beginnt mit der persönlichen Geschichte von Boyce und seiner Schwester Mary. Sie wachsen in derselben Familie auf und doch entwickeln sich ihre Lebenswege vollkommen unterschiedlich. Während das Leben seiner Schwester geprägt ist von Leid und Krankheit, führt der Autor ein sehr erfolgreiches und gesundes Leben. Boyce stellt sich die Frage, warum manche Kinder wesentlich häufiger krank werden, als andere. Ihm begegnen wissenschaftliche Ansätze, die nicht nur äußere Faktoren wie die Ernährung als Faktor betrachten, sondern auch sozioemotionale Faktoren, also soziale Beziehungen und die dazugehörigen Emotionen. Das erscheint Boyce plausibel und er möchte von da an eine eigene Wissenschaft verfolgen und noch intensiver der Frage nachgehen, „wie sich die sozialen und emotionalen Erfahrungen von Kindern auf ihren biologischen Körper auswirken“. Zwar lässt sich schnell durch Studien belegen, dass es „signifikante Zusammenhänge zwischen Aspekten von Stress oder Herausforderung und dem breiten Spektrum von Krankheiten, Verletzungen und Störungen der geistigen Gesundheit“ gibt, doch bleibt ein hohes Maß an „Hintergrundrauschen“, wie Boyce es bezeichnet, eine beachtliche, scheinbar zufällige und unerklärbare Variation. Zunächst einmal versucht Boyce mit seinem Team das Hintergrundrauschen herauszufiltern, was allerdings nicht gelingt. Die Hartnäckigkeit des immer gleichen schwammigen Ergebnisses bringt die Forscher schlussendlich zu der Annahme, dass „die Tatsache, dass der Kontakt von Kindern mit Stressoren durchgehend so unterschiedliche Auswirkungen zeigte, genau der Kern der Sache [war]“. Es gibt Kinder, die offensichtlich ein hohes Maß an Resilienz gegenüber den Widrigkeiten des Lebens haben und andere, die wesentlich verletzlicher sind und empfindsamer auf Umweltbedingungen reagieren. Das ist also nun die Einteilung in Orchideen und Löwenzähne. Aber ist es lediglich die Umwelt, die frühkindlichen Erfahrungen, die darüber entscheiden, ob ein Kind Orchidee oder Löwenzahn ist?
Liegt’s in den Genen oder formt uns die Umwelt?
Boyce spricht in seinem Buch vom Umwelt- und Gendeterminismus, die sich lange Zeit gegenüberstanden und gegenseitig abgelöst und ausgeschlossen haben. Mal wurde davon ausgegangen, dass die Umwelt allein dafür verantwortlich ist, wie sich ein Kind entwickelt und dann wieder sollten es die Gene sein, die darüber entscheiden. Boyce kam zu dem Schluss, dass die Antwort „irgendwo zwischen Anlage und Umwelt“ zu finden ist. Für ihn ist es keine Frage von Entweder-oder, sondern von Sowohl-als-auch. „Beinahe jede menschliche Veranlagung und jede Störung psychischer und körperlicher Art fußt in einer komplexen Interaktion zwischen internen und externen Ursachen […]“, so Boyce. Nun genügt es dem Autor allerdings nicht, eine Wechselwirkung festzustellen. Er geht also weiter der Frage auf den Grund, wie diese Wechselwirkung vonstatten geht, also wie eine Erfahrung im Außen zu einem Prozess im Inneren wird und umgekehrt. Hierfür macht er einen anschaulichen Ausflug in die Wissenschaft der Epigenetik, die dafür sorgt, „dass wer wir sind – Orchideen, Löwenzähne und jeder dazwischen – sowohl zu dem Umfeld passt, in dem wir aufwachsen, als auch zu den genetischen Unterschieden, die vorgeben, was aus uns werden kann“. Wie wunderbar, dass die Natur solche Schutzmechanismen eingebaut hat.
Die natürliche Welt ist immer eleganter, komplexer, strahlender, als unsere liebsten Hypothesen und Annahmen, vgl. S. 52
Oft ist die Frage der Beginn einer großen Erkenntnis
Am Anfang habe ich die Verantwortung angesprochen, die wir tagtäglich, in jedem kleinen Moment, unseren Kindern gegenüber tragen. Der Autor geht in seinem Buch so weit, dass das Überleben unserer Spezies davon abhängt, wie wir als Gesellschaft diejenigen erkennen und schützen, die am verletzlichsten und empfindsamsten sind. „Es sind die Babys, Kleinkinder, Schulkinder und Teenager, die unsere kollektive Zukunft bewahren“. Je mehr wir vom Wesen und Werden unserer Kinder wissen, desto besser können wir dieser Verantwortung nachkommen. Das Buch von Boyce trägt zu mehr Wissen bei und leistet dadurch eine große und wertvolle Stütze für Eltern, Großeltern, Pädagogen und Kinderärzte. Er legt seinen Fokus dabei sicher auf die zarten Orchideenkinder, doch auch Eltern der robusten Löwenzahnkinder, so wie meine Tochter sicher eines ist, können unheimlich viel aus dem Buch mitnehmen, denn auch Löwenzähne brauchen es, gesehen zu werden.
Ich habe beim Lesen dieses Buches immer wieder über die Kinder in meiner Umgebung nachgedacht, über meine Tochter, die Kinder meiner Familie und die Kinder, die mir als Waldorfpädagogin bisher begegnet sind und dabei viele interessante Aha-Momente erlebt.
Boyce fragt: „Was könnte in Kindergärten, Familien, Gesellschaften getan werden, um die Wunden sozialer Unterordnung zu heilen, die Grundlage für gerechtere menschliche Beziehungen zu legen und der besonderen Empfindsamkeit ihrer empfindlichsten und verletzlichsten Mitglieder gerecht zu werden?“ Mein vorsichtiger Versuch darauf zu antworten wäre, niemals aufzuhören, Fragen zu stellen, um immer wieder neu auszuloten, wo das Kind, ich, Sie, wir gerade stehen. So wie Boyce es getan hat, der mit einer simplen Frage gestartet ist und ein sehr wertvolles Buch für uns geschrieben hat.
von Lorene Friedrich
Über den Buchautor: Prof. W. Thomas Boyce
ist emeritierter Professor für Pediatrie und Psychiatrie an der University of California und hat mehr als 20 Jahre an der Berkeley School of Public Health geforscht. Sein Interesse gilt der Erforschung des Zusammenwirkens von neurobiologischen und psychosozialen Prozessen bei Kindern. Er konnte zeigen, wie psychischer Stress die körperliche Verfassung von Kindern beeinträchtigt.