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Rainer Patzlaff
Sprache – Das Lebenselixier des Kindes
Moderne Forschung und die Tiefendimensionen des gesprochenen Wortes
Verlag: Freies Geistesleben
ISBN 978-3-7725-2858-3
555 Seiten
€ 39,00

 

Moderne Forschung und die Tiefendimensionen des gesprochenen Wortes

In seinem aktuellen Buch blickt Rainer Patzlaff besorgt und mit Ehrfurcht auf die Gesundheits- und Sprachentwicklung des Kindes und beschreibt, welche tragende Rolle das gesprochene Wort dabei spielt. Er zeigt Wege, die aus dem farblosen Nebel unbedeutender Phrasen führen, um wieder zu einer Sprache zu kommen, die lebendig und gesundheitsschaffend ist.

Leblose Sprache: Im Nebel

Gleich zu Beginn des Buches muss der Leser stark sein, denn harte Fakten rütteln am Bild einer hochentwickelten Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Während sich ein Teil der Menschen an den Vorzügen der Globalisierung erfreut, spricht Patzlaff von einer „Rückentwicklung menschlicher Kulturfähigkeiten“. Zahlen belegen, dass sowohl in der erwachsenen Bevölkerung, als auch bei unseren Kindern die Fähigkeit mit seiner Muttersprache umzugehen, seit Jahren versiegt.

Der Autor macht nicht ausschließlich den sozialen Status einer Familie dafür verantwortlich. Davon sind „durchaus auch Kinder von Akademikern und aus der Mittelschicht […] betroffen, selbst wenn sie rein deutschsprachig aufgewachsen sind“, so der Autor. Seiner Meinung nach müsse nach anderen Ursachen gesucht werden. Hinzu kommen “chronische Krankheiten“, die eine ganz neue Bedrohung für unsere Kinder darstellen. Der Autor bezieht sich u.a. auf den Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann, der 2003 feststellte, dass Infektionskrankheiten und Epidemien weitgehend verschwunden sind. Stattdessen haben Kinder heute mit Diabetes und Auffälligkeiten im Wahrnehmungsbereich zu tun – die im Buch angeführte Liste ist weit länger. „Wir stehen vor einer Katastrophe“, für die laut Patzlaff nur wir selbst verantwortlich sind.

Er gibt aber einen Lichtstrahl indem er von einer Münze spricht, die es jetzt gilt, „in das volle Licht der Bewusstheit heraufzuheben und in harter Arbeit umzuschmelzen“. Wir sind also handlungsfähig, die Frage ist, ob wir diese Aufgabe ergreifen?

Sprachstörungen treten zusammen mit anderen Entwicklungsstörungen auf

Für die Frage, warum der Weg des Kindes in die Sprache heute gehemmt ist, scheint die Tatsache wichtig, „dass frühkindliche Sprachentwicklungsstörungen in der Regel […] zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Defizite [auftreten]“. Patzlaff bezieht sich hier auf statistische Erhebungen, die zeigen, dass Sprache eng mit der sensomotorischen, seelischen und geistigen Verfassung des Kindes verbunden ist. Diese wiederum ist stark abhängig vom Umfeld des Kindes, also vom Sprechen und Wirken des Erwachsenen in der unmittelbaren Umgebung:

Kleinkinder bis zu zwei Jahren erwerben das Sprach- und Sprechvermögen ausschließlich durch die direkte Interaktion mit anderen Menschen.

Sein Blick wendet sich also zunächst einmal ab vom Kind und hin zum Erwachsenen. Hier findet er Eltern vor, die seiner Meinung nach kein natürliches Bauchgefühl, keinen elterlichen Instinkt mehr haben, der sie im Umgang mit ihrem Kind leise führt.
„[…]und so können wir nicht mehr mit der früheren Naivität an die Alltagsvorgänge herangehen, sondern müssen sie mit Bewusstsein gestalten“.

Auch die Sprache ist damit nichts Leichtfüßiges mehr, sondern bedarf heute Tipps und Anregungen. Dabei ginge es nicht unbedingt darum, mehr mit den Kindern zu sprechen – „[…]dieses Rezept allein greift […] nicht“, so der Autor. Wir haben laut Patzlaff auch kein sozioökonomisches oder -kulturelles Problem, sondern ein Suchtproblem. Eltern haben genug Zeit für den abendlichen Dialog am Bettrand oder das gemeinsame Frühstück, wenn sie denn ihre Prioritäten anders setzten. Stattdessen würde die nahezu jedem Elternteil zur Verfügung stehende beachtliche Zeit „geradezu zwanghaft zum Fernsehen verwendet, ergänzt durch Computer und Smartphone“. Hinzu kommt, dass bereits kleine Kinder mit derartigen Medien konfrontiert werden, was in den Augen des Waldorfpädagogen „eine subtile Form von Kindesmisshandlung darstellt“, da der zu frühe Medienkonsum ganz erhebliche Auswirkungen auf die Kindesentwicklung hat.

Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz .

Kinder brauchen Vorbilder, den sprechenden Menschen, statt hochqualitative Medienangebote. Ansonsten drohen wir zu verstummen in dieser lauten Welt …

Die Sprachentwicklung des Kindes

Anschließend nimmt Rainer Patzlaff den Leser mit auf die spannende Reise durch die Sprachentwicklung des Kindes. Um zu wissen, welche Sprache das Kind braucht, muss der Leser erfahren, wie es sich seine Sprache aneignet.

Die Reise beginnt beim Ohr, welches „[gegen Ende des fünften Schwangerschaftsmonats […] als erstes Sinnessystem voll funktionsfähig [ist]“  und damit den ersten leisen Dialog zwischen Mutter und Kind ermöglicht. Das Ungeborene hört zum ersten Mal die Stimme seiner Mutter, hört ihr Herz pochen und die Luft, welche die feinen Lungenbläschen bei jedem Atemzug durchströmt. Das Kind nimmt also teil am Seelenleben seiner Mutter, indem die Stimme mal lauter und mal leiser ist, ihr Herz mal schneller und mal langsamer pocht oder ihr der Atem stockt, weil sie fast ein Kätzchen auf der Straße übersehen hätte. „Eine innigere Symbiose ist kaum denkbar“, so Patzlaff.
Die Musik der mütterlichen Sprache prägt sich so tief ins Kind ein, dass es auch nach der Geburt noch in der Lage sei, die Stimme seiner Mutter unter vielen herauszuhören. Es zeigt sich also eine eindeutige Hingabe des Kindes an das Musikalische, weshalb Patzlaff es befürwortet, „wenn [eine Mutter] ihre Sprache ganz in der Musik aufgehen lässt, indem sie singt […]“.

Gegen Ende der Schwangerschaft wird dem Ungeborenen zunehmend eng im Mutterleib, weshalb es häufig die Embryonalstellung einnimmt und damit sich und seine Mama auf die Geburt vorbereitet. In dieser Position erinnert das kleine Menschenwesen an ein Ohr, was laut Patzlaff kein Zufall ist, denn mit dem Ohr beginnt die Sprachreise und damit der stille Weg des Kindes auf die Welt. Die Stille wird im nächsten Moment von einem meist ohrenbetäubenden Schrei abgelöst: „Hallo, ich bin da!“, heißt es aus voller Kehle. Die Sprachreise geht weiter, denn schon bald wird das Kind selbst Sprache hervorbringen wollen.

Bevor allerdings die ersten wohlklingenden Wörter aus dem Mund purzeln, ist eine gründliche Vorbereitungszeit notwendig. Zunächst einmal möchte der Neuankömmling seinen Körper kennenlernen, denn dieser ist noch ganz fremd und deshalb sehr spannend. Hoffentlich entsteht in dieser Zeit so oft es geht ein inniger Dialog zwischen Eltern und Kind, sei es beim Wickeln oder vor dem Stillen, damit das Kind anschließend satt und zufrieden einschlafen darf. Nicht selten fordert uns sogar das Kind dazu auf, falls wir seine zarten Zeichen bemerken, statt sie im Alltagsgewusel zu übersehen. Zunehmend entsteht aus diesen magischen Dialogen ein unbewusstes Gefühl dafür, wie Gesagtes mit Gestik und Mimik zusammenspielt.

Das Kind findet seine Heimat

Ab dem sechsten Lebensmonat kann es passieren, dass nach einem genüsslichen Gurren das erste Mal “mamamamamam“ oder “bababababa“ aus dem kleinen Mund kommt. Ein hörbares Zeichen, dass das Kind jetzt auch sprachlich auf dieser Erde ankommen möchte. Nachdem es sich federleicht durch die Laute aller Landessprachen bewegte, hängt es nun an den Lippen des Erwachsenen und möchte sprechen, was er spricht.

Schon bald werden aus den Silbenketten einzelne Elemente, wie “mama“ oder “baba“ herausgegriffen und Personen, Tieren oder Dingen zugeordnet. „Ein mehr kognitives Element zieht in die Sprache ein“. Mit den ersten klaren Lautgestalten, welche nun nicht mehr der reinen Klangerzeugung dienen, sondern vielmehr der gezielten Kommunikation, tauchen auch im Außen “Formgestalten“ auf, die das gesprochene Wort des Kindes von nun an begleiten: Die Gebärden.
Bereits beim Säugling sind diese kleinen Gesten vorhanden, wenn er z.B. seine kleine Oberlippe über die Unterlippe legt, um sein Bedürfnis nach Muttermilch zu signalisieren. Weil diese Bewegungen hauchzart sind, entziehen sie sich meist unserem Bewusstsein, weshalb der Erwachsene oft erst bei deutlicheren Unmutsbekundungen reagiert.

„Gesten gehen also dem Sprechen voraus“

Die ersten deutlichen Gebärden tauchen mit etwa neun Monaten auf. Bevorzugt streckt das Kind jetzt erstmals seinen Zeigefinger von sich weg und in die Welt – Die Rede ist von der “Da-Phase“.

Mit etwa 18 Monaten kann das Kind seine ersten Einwortsätze und schon bald darauf die ersten Zweiwortsätze bilden. Gleichzeitig erkennt es im lebendigen Dialog mit seinem Gegenüber erste grammatische und syntaktische Strukturen, die zunächst einmal als wiederkehrende Gesetzmäßigkeit durch Wiederholung erkannt werden, ohne nach dem tieferen Sinn zu forschen.

Mit drei Jahren geht die Entwicklung rasant voran. Auf der seelischen Ebene erfolgt jetzt das Erleben von sich im Außen. Sprachlich macht das Kind jetzt große Schritte. Es taucht das erste Mal “Ich“ im Satz auf und „[aus der universellen Fülle des im Gehirn verankerten Potenzials wird dasjenige gepflegt, vertieft und ausgebaut, was zur Bewältigung der speziellen Sprach- und Lebensbedingungen vor Ort erforderlich ist; alles andere tritt in den Hintergrund“.

Es findet also auch in der Sprache eine Form von Abgrenzung und Spezialisierung statt.
Mit dem Auftauchen von Mehrwortsätzen, werden außerdem erstmals Bezüge zwischen den einzelnen Wörtern hergestellt und der Zahlenbegriff taucht auf. Mit Zeitangaben wird spielerisch umgegangen.

Die innere Sprachbühne

Zwischen drei und vier Jahren wird ein Teil der Kräfte frei, um jetzt dem Vorstellungsleben zur Verfügung zu stehen. Die Fähigkeit zur Imagination erwacht und mit ihr die Anfänge des persönlichen Gedächtnisses. Auch Fantasiekräfte entfalten jetzt ihre bunte Vielfalt, in Form von heldenhaften Königen, verzauberten Prinzessinnen oder gefräßigen Tigern, die sich im nächsten Moment in zahme Kätzchen verwandeln können. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, weshalb der Erwachsene erneut nur lauschen und aufpassen kann, dass er keinem der unsichtbaren Zwerge auf den Kopf tritt.

Das Kind tritt in einen inneren Seelenraum ein, in dem es die äußerlich erlebte Welt in innere Bilder hineinprojiziert. Das heißt aber nicht, dass die Gestaltung des Leibes hiermit abgeschlossen ist, vielmehr verlagert sich der Schwerpunkt aus der Peripherie des Körpers in seine Mitte, dort wo das Atem-Kreislaufsystem zuhause ist.

„Diese mittlere Phase des ersten Jahrsiebts ist die erste große Zeit der Sprach- und Gesangspflege“, schreibt Patzlaff.

Das Kind arbeitet in dieser Zeit an seinem inneren Seelenleben, welches eng mit dem Herz-Kreislaufsystem verbunden ist. Nicht umsonst hüpft unser Herz vor Freude oder wir frieren, wenn es uns schlecht geht.

Weil das Kind genau weiß, was es in diesem Moment braucht, beginnt mit dem Ausbau des Rhythmischen Systems, wie Rudolf Steiner die Mitte des Menschen nennt, auch seine Vorliebe für Rhythmus und Klang und für Musik und Versgestaltung, weshalb jetzt neben der Zeit der Märchen und Geschichten auch die Zeit der Klangspiele, Reime und Rhythmen angebrochen ist, um das Kind in diesem Entwicklungsschritt auch sprachlich zu begleiten.

Deutlich an den geschilderten Schritten der Sprachentwicklung des Kindes wird, dass sie zwar als Kulturfähigkeit im Menschen verankert sind, ihr Gelingen jedoch abhängig von der Anwesenheit eines liebevollen und sprechenden Erwachsenen ist. Die Fähigkeit, später einmal seine Gefühle ausdrücken, Argumente abwägen oder einen wunderbaren Deutschaufsatz schreiben zu können, entwickelt sich an der Seite eines Erwachsenen, der freudig und ebenso sprachschöpferisch wie das Kind einen Dialog von Ich zu Ich entstehen lässt.

Lebendige Sprache: Der Weg aus dem Nebel

Während der Spracherwerb früher „quasi naturgesetzlich erfolgte“  und die Menschen „wie ausgegossen in die Welt um sie herum“  waren, müssen wir uns jetzt fragen, was das Kind braucht, um sich wieder in Sprache und Welt zu beheimaten. Um den Nebel unbedeutender Phrasen zu verlassen, fordert Patzlaff den Leser auf, eine Sprache zu pflegen, die realitätsschaffend und damit sprachschöpferisch ist. Nur dadurch wird der Erwachsene dem Bedürfnis des Kindes nach Wahrhaftigkeit und Durchschaubarkeit gerecht und pflegt seine Gesundheitsentwicklung. Das Kind braucht die unbedingte Gewissheit, dass Worte Tatsachen schaffen, um am gesprochenen Wort körperlich, seelisch und geistig gesund zu werden. „Der Erwachsene übt hier unwissend eine magische Wirkung aus, positiv wie negativ.“

Außerdem könne sich der Erwachsene wieder deutlich mehr darin üben, eine lebendige Sprache zu sprechen, die Bilder enthält, wie das z.B. in vielen Märchen, Liedern oder Kinderversen der Fall ist.

Worte wie „enthüllen“, „haarsträubend“ oder „schnurstracks“ hinterlassen in der Kinderseele nicht nur kostbare Schätze, sie bahnen auch den Weg zum anderen Menschen und tragen laut Patzlaff zur Völkerverständigung bei.

Ein kurzes Fazit

Ich habe es genossen, dieses Buch zu lesen. Rainer Patzlaff ist es gelungen, die Sprache nicht nur zu ehren, nein, sie bekommt durch dieses Buch etwas Göttliches. Dadurch wird der Leser auf berührende Art und Weise daran erinnert, dass auch er etwas Göttliches in sich trägt. Gleichermaßen ist das Buch sehr informativ. Es enthält zahlreiche spannende Sprachexperimente und Forschungsergebnisse rund um das Thema, um auch das Bedürfnis des wissbegierigen Lesers zu stillen. Man spürt auf über 500 spannenden Seiten das unheimliche Fundament an Wissen, das der Autor hat. Sein Studium in Germanistik und Graecistik zeigt die Leidenschaft zur Sprache des Autors. In seiner Tätigkeit als Waldorflehrer begegnet ihm die Anthroposophie und Waldorfpädagogik. Dadurch ist Rainer Patzlaff in seinem Buch eine Sprache zwischen Wissenschaft und Anthroposophie gelungen, zwischen Wissen und dem alltäglichen Leben des Lesers.

von Lorene Friedrich

Buchautorin Prof. Dr. Rainer Patzlaff

Über den Buchautor: Prof. Dr. Rainer Patzlaff

Germanist, Waldorfpädagoge und Anthroposoph. Leiter des Instituts für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) und Professor für Kindheitswissenschaft an der Alanus Hochschule in Alfter.
Nach dem Studium der Germanistik, Gräzistik und Philosophie war er als Wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin tätig und wechselte dann in eine Lehrtäigkeit am Gymnasium, später an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart und als Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart.
Autor vieler Bücher und Artikel, darunter „Der gefrorene Blick. Die physiologische Wirkung des Fernsehens auf Kinder