Arno Gruen
Wider die kalte Vernunft
Klett-Kotta Verlag
ISBN: 978-3-608-94903-2
141 Seiten
12,- Euro
Kampf ums Überleben oder Empathie als Triebkraft der menschlichen Evolution
Wo kommen wir her, wo wollen wir hin?
„Wider die kalte Vernunft“ heißt das letzte Buch der „Wider-Trilogie“ von Arno Gruen, einem Psychoanalytiker und Wissenschaftler, der im Oktober vergangenen Jahres im Alter von 92 Jahren verstarb. Unermüdlich geht er auch in seinem letzten Werk der Frage nach, wo uns Menschen die Menschlichkeit abhandengekommen ist und wie wir es schaffen, den Weg zu unserem Herzen zurückzufinden.
Der Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die Bindung zwischen Mutter und Kind, weil sich in ihr letztendlich die Gesellschaft spiegelt. Diese erste zarte Bindung scheint also der Schlüssel für ein menschliches Miteinander zu sein, das Gruen in seinen Schilderungen zu unseren Vorfahren zurückverfolgt. Sie schienen noch zu wissen, wie Empathie und Fürsorge funktioniert.
Gruen geht dabei weit zurück in der Evolution des Menschen, um herauszufinden, ob Wettkampf, Rivalität und Krieg als gewaltsame Energie in uns Menschen verankert ist oder ob es sich dabei vor allem um ein Problem unserer Zeit handelt.
Vom Barbaren zum Vorzeigemenschen?
Gerne betrachten wir Menschen uns als goldene Spitze der Evolution, während unsere Vorfahren als primitives Volk mit Keule und Lendenschurz dargestellt wird. Die Keule diente natürlich dazu, um sich und sein Territorium vor den täglichen Angriffen anderer Barbaren zu schützen.
Laut Gruen ist das ein verzerrtes Bild, was unseren Vorfahren nicht gerecht wird. In seinem Buch kritisiert er die Forschungsweise der Humanwissenschaft, die sich rein auf Beobachtungen stütze und so falsche Rückschlüsse auf die menschliche Evolution ziehe. Dadurch bekämen wir eine Vorstellung von unseren Vorfahren, die geprägt sei von dem persönlichen Weltverständnis der Forscher und nicht der tatsächlichen Realität entspreche.
Der Wettkampf wurde „als eigentlich evolutionäre Motivation unhinterfragt vorausgesetzt, während andere Quellen, die das Verhalten erklären könnten, zum Beispiel Vergleichsstudien von Primaten und Beobachtungen früher Mutter-Kind-Bindung und Kooperation, unbeachtet bleiben“ (S. 24).
Für Arno Gruen basierte das damalige Zusammenleben nicht auf einem andauernden Überlebenskampf. Stattdessen geht er von kooperations- und empathiebasierten Verhaltensmustern aus, von denen unsere Frühgeschichte bestimmt wurde (S. 17). Merkmale wie Wettkampf, Rivalität und Krieg gehören laut Gruen eher in den aktuellen Grundwortschatz, um die zwischenmenschlichen Umgangsformen zu beschreiben. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und bezeichnet unsere Spezies als „die einzige, die Artgenossen foltert und gezielt ermordet“ (S. 38), während er unseren Vorfahren eine Empathie zuspricht, die ihren Ursprung in einer lebendigen Interaktion zwischen Mutter und Kind hat und letztendlich das Überleben unserer Spezies erst ermöglichte. Gruen plädiert für eine Neuorientierung der wissenschaftlichen Erforschung des Menschen, in der die evolutionäre Entwicklung an der Menschlichkeit und nicht am kognitiven Denken gemessen wird, da Empathie die Kraft ist, „die die Menschheit in ihrer Evolution vorangetrieben hat“ (S. 83).
„Der Versuch, unsere Vorfahren zu verstehen, setzt ein Verständnis dafür voraus, dass Empathie das elementarste und älteste Medium der Wahrnehmung und des Umgangs mit uns selbst und unserer Umgebung ist.“ (S. 31)
Die innige Mutter-Kind-Bindung als Schlüssel
Die traurige Erkenntnis Gruens ist also, dass unsere Vorfahren weit friedvoller miteinander umgingen und dass Kampf und Rivalität keinesfalls Naturgesetze sind, sondern Ergebnisse einer menschlichen Entwicklung, die dadurch wenig glorreich erscheint. Der Autor sieht vor allem in der innigen Mutter-Kind-Interaktion unserer Vorfahren einen Schlüssel, um die Geschichte des Menschen zu verstehen und heutige Verhaltensmuster zu überwinden. Die Mutter-Kind-Bindung hilft uns zu verstehen, weshalb unsere Vorfahren ein friedlicheres Zusammenleben hatten. Allerdings hätten sich die Voraussetzungen für das Bindungsverhalten der Eltern zu ihren Kindern stark verändert in den letzten Jahrtausenden. so habe die Schwangerschaft einer Neandertalerin elf bis zwölf Monate gedauert, während Kinder heute mit neun Monaten das Licht der Welt erblickten. Dadurch fehlten drei Monate in der schützenden Hülle der Mutter, die laut Gruen die kritischsten sind.
Babys brauchen eine Atmosphäre, die sich entscheidend von der des normalen Alltagslebens unterscheidet und deren wesentliche Kennzeichen – Isolation und Sicherheit – dem Zustand während der Schwangerschaft sehr ähnlich sind. (S. 50)
Der Wissenschaftler ist der Meinung, dass vielen Eltern nicht bewusst ist, „wie unfertig und unreif der menschliche Säugling bei seiner Geburt tatsächlich ist“ (S. 50) und dass daraus häufig ein Mangel an Fürsorge und Körperkontakt entsteht, der seine Entwicklung nachhaltig negativ beeinflusst. Dadurch könne das Kind die notwendigen Entwicklungsprozesse nicht durchleben die entscheidend sind, um Vertrauen und Sicherheit zu erlangen und mit Belastungen und Stress umzugehen. Der Autor spricht dem heutigen Menschen eine ständige Rastlosigkeit und Nervosität zu, die er in unzureichend empathischen Reaktionen der Eltern auf ihre Kinder begründet sieht. Zusammen mit weiteren Wissenschaftlern geht er davon aus, „dass eine längere Schwangerschaft eine solidere Basis bildet, um ein Sicherheitsgefühl zu entwickeln […]“ (S. 50) und letztendlich empathiefähig zu sein.
Erst wenn wir verstehen, wie wichtig Empathie für unsere Geschichte als Menschen ist, werden wir alles tun, was die Bindung zwischen Mutter und Kind fördert. (S. 114).
Weshalb Gruen überwiegend von der Mutter-Kind-Bindung und nicht von der Eltern-Kind-Bindung spricht, erklärte er in einem Interview, in dem er betont, dass der Vater ebenso wichtig sei aber dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind, aufgrund der innigen Phase der Schwangerschaft, einen besonderen Stellenwert habe.
Entwicklung der Zivilisationen als Empathie-Bremse
Nun stellt sich die Frage, wodurch sich die Schwangerschaft im Zuge der menschlichen Evolution verkürzte, wenn sie doch förderlich für ein gesundes Zusammenleben war. Gruen sieht in dem Aufkommen sogenannter „höherer Zivilisationen“ den Auslöser für ein neues Bewusstsein, das Empathie mehr und mehr verdrängte und Besitz, Macht und Herrschaft in den Vordergrund stellte. Durch sie veränderten sich die Natur-Rhythmen unserer Vorfahren und mit ihnen unser gesellschaftliches Miteinander.
Über die Bedeutung und Aufgabe der linken beziehungsweise rechten Gehirnhälfte gibt es verschiedene Auffassungen. Laut Gruen hat die rechte Gehirnhälfte das Ganze im Blick und erfasst die Bedeutung der Teilaspekte innerhalb eines Kontextes, während die linke Hälfte einzelne, voneinander isolierte Feinheiten wahrnimmt (S. 35). Außerdem ist Gruen zusammen mit der Wissenschaftlerin Azevedo der Meinung, dass die rechte Gehirnhälfte bei der Bindung des Kindes an die Mutter sowie bei späteren Bindungsmustern in Erwachsenenbeziehungen eine Rolle spielt (S. 23).
Unterdrückung der Emotionen und „kalte Vernunft“
In der linken Gehirnhälfte sitze dagegen unsere Fähigkeit zur Abstraktion, wodurch wir heute imstande seien, uns von unserer Gefühlswelt zu distanzieren und Schmerz und Unsicherheit zu verleugnen. Welches Bewusstsein sich entwickelt, hängt laut Gruen davon ab, wie der Mensch als Säugling behandelt wurde. Während bei den Neandertalern ein Bewusstsein herrschte, was in der rechten Hemisphäre verwurzelt war, hätte die inadäquate Pflege der Eltern zu dem heutigen Bewusstsein geführt, was eher linksdominiert ist. Während bei unseren Vorfahren Gefühle wie Schmerz und Leid nichts Verwerfliches waren, macht unsere Kultur aus Beziehungen immer eine Frage von Unterwerfung beziehungsweise Eroberung (S. 70 f.). Während sich unsere Vorfahren im Angesicht der weißen Eindringlinge für den Rückzug entschieden, wird bei uns entweder gekämpft, oder man identifiziert sich mit dem Stärkeren – eine andere Reaktion gälte als Unterwerfung.
Diese Verleugnung der emotionalen Seite in uns, führe laut Gruen zu einer kalten Vernunft, einer Vernunft, die die Ablehnung der Empathie beinhalte, woraus ein ausschließlich abstraktes Denken entstehe, was uns von der Wirklichkeit abtrenne.
Die Folgen dieses Realitätsverlustes führt der Autor im vorletzten Kapitel auf: „Der Klimawandel und all das, was damit einhergeht, wie der Verlust unserer Nahrung, die Verschmutzung unserer Trinkwasserquellen durch das Fracking, die Abholzung des Regenwaldes, alles um des Profits Willen, ohne Rücksicht darauf, was dem Leben angetan wird. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die ungleiche Verteilung des Reichtums […]“. All das passiere laut Gruen, weil sich der Mensch über die letzten Jahrtausende mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernt und dadurch die Folgen seiner Handlungen aus dem Blick verloren hätte. Daraus entstehe ein Leben, was nicht mehr im Einklang mit der Umwelt sei, wie das noch bei unseren Vorfahren der Fall gewesen wäre.
Die Botschaft: Gegen die Ideologie der Macht auf die Macht der Empathie setzen!
Der Autor, wenn ich ihn recht vertehe, fordert uns auf, das Leben und gesellschaftliche Miteinander unserer Vorfahren zu verstehen und anzunehmen, um das Menschsein selbst verstehen und annehmen zu können. Er sieht die Basis des Menschseins in der Empathie, die jedem von uns innewohnt. Es ist unsere Entscheidung, ob wir beim gängigen Rollenspiel mitspielen und uns „die Ideologie der Macht und des Herrschens einverleiben“ (S. 96) oder ob wir uns frei machen und unserer eigenen Wahrheit folgen. Diese alleine führe laut Gruen zu einer mitfühlenden Kultur, die die menschliche Entwicklung erst ermöglicht. Wir sollten uns also zunächst fragen, woher wir gekommen sind, um zu wissen, wohin wir gehen möchten.
Ein persönliches Resumé
Wenn man gesellschaftskritische Texte liest und etwas zartbesaitet ist, hat man nach der Lektüre vielleicht ein Schweregefühl im Magen oder knabbert noch lange an dieser oder jenen Textstelle, bis man endlich einschlafen kann. Ich bin so ein Mensch, der sehr schnell berührt ist von Dingen, die in der Welt passieren. Bei diesem Buch allerdings, hat es mir großen Spaß bereitet mit Arno Gruen zusammen kritisch in diese Gesellschaft zu blicken.
Der Autor hat eine sehr subtile und dennoch deutliche Art, unsere heutige Zeit zu erfassen, ohne dass es zu sehr schmerzt oder gar einen Groll auslöst. Sehr gekonnt lässt er die verschiedensten Stimmen aus der Wissenschaft zu Wort kommen und verwebt sie mit seinen eigenen Erkenntnissen und Beobachtungen. Einleuchtend auch der Blick auf unsere Vorfahren. Gruen ist der Meinung, dass wir von ihnen vieles lernen können und dass Evolution nicht immer ein Nachvornegehen bedeuten muss, sondern auch ein Stehenbleiben. Manchmal macht man vielleicht einen Schritt zurück, um noch einmal neu anzusetzen. Eine hilfreiche Einsicht, finde ich!
Auch mochte ich seine klare Sprache und die Untergliederung in viele kurze Kapitel. Dadurch wird das Buch zu einem Nachschlagewerk, in das man auch zwischendurch gerne mal hineinguckt.
An manchen Stellen setzt Arno Gruen ein Wissen voraus, was der Leser nicht unbedingt mitbringt. So spricht er zum Beispiel von dem berühmten, aber halt nicht allgemein bekannten “Gehorsams-Experiment“ von Milgram, ohne dieses weiter auszuführen. Der Reichtum an Zitaten und Bezügen macht den Inhalt des Buches lebendig, sorgt aber auch dafür, dass man Arno Gruens Meinung nicht immer klar herausfiltern kann. Dann wieder ist er fast absolut und ohne Gnade in seinen Auffassungen. So schreibt er etwa (S. 86) unserer Gesellschaft einen „Männlichkeitswahn“ zu, ein Bedürfnis, „alles, auch natürlich die Frauen, in den Griff zu bekommen, also alles zu besitzen“. Er scheint ein sehr klares Männer- und Frauenbild zu haben, woran sich der ein oder andere Leser stören könnte.
Zusammenfassend ist Gruen eine spezielle Gesellschaftskritik gelungen, in der er uns auf sympathische und leider auch überzeugende Weise als die eigentlichen Barbaren entlarvt.
von Lorene Friedrich
Über den Buchautor: Arno Gruen
wird am 26. Mai 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. Schon als Kind zeigt sich sein kritischer Geist, nicht umsonst gibt er seinem Vater folgende Antwort, als dieser ihm erklärt, weshalb er als Jude nicht am Religionsunterricht teilnehmen darf: „Ich dachte, wir sind alle Menschen“.
Damals ist Gruen 13 Jahre alt. 1936 flieht er zusammen mit seinen Eltern nach New York, wo er später als Therapeut und Professor der Psychologie tätig ist. In den siebziger Jahren kehrt er nach Europa zurück und lebt bis zu seinem Tod am 20.Oktober 2015 in seiner Wahlheimat Zürich.
Arno Gruen hinterlässt ein beeindruckendes Lebenswerk. Als Therapeut sitzt er uns gegenüber, erfährt, wie es den Menschen in dieser Gesellschaft geht. Als Wissenschaftler erforscht er, worin der Ursprung positiver und negativer Gefühle liegt. Und als Schriftsteller publiziert er seine Beobachtungen, kritisch, direkt und doch subtil. Er gibt uns also die Chance, an unseren Lebensthemen zu arbeiten, um als Gesellschaft gesund zu werden. Sein Rezept lautet:
- Empathie, statt Ignoranz und Kälte
- Freiheit, statt Unterwerfung und Gehorsamkeit
- Identität, statt Identifikation und Fremdbestimmung
Und zuletzt geprägt auch und vor allem durch eine innige Mutter-Kind-Bindung, die laut Gruen die Basis für all die positiven Menscheneigenschaften darstellt. Auf ihr kann der Mensch entfalten, was in seinem Ursprung verborgen liegt: sein mitfühlendes Wesen.