Auch Babys erzählen Geschichten 1 - Foto © Annemarie Lea Geburtsfotografie Jeder Mensch hat seine eigene Lebensgeschichte von Anfang an, die im Unterbewusstsein gespeichert wird. Auch Babys haben ihre Geschichte, die sie uns zwar nicht mit Worten erzählen können, aber dennoch werden ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten, sich zu bewegen, zu fühlen, Dinge wahrzunehmen, ihre Gewohnheiten und ihre Gefühlswelt im passiven Gedächtnis gespeichert. Neugeborene erkennen beispielsweise den Herzschlag ihrer Mutter wieder, den sie während der Schwangerschaft gehört haben. Sie identifizieren die Ähnlichkeit zum Geschmack des Fruchtwassers, wenn sie von ihrer Mutter gestillt werden. Ihre gesammelten Erfahrungen während der Schwangerschaft und unter der Geburt sind im Körper gespeichert und immer verfügbar, nicht als bewusste Geschichten, aber sie sind da.


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Babys drücken das, was sie erlebt haben, auf vielfältige Art und Weise aus. Spannungen bauen Neugeborene etwa durch Schreckbewegungen, Zuckungen oder ein abschüttelndes Lächeln ab. Babys teilen ihr Unbehagen, Schmerz, Hunger, Müdigkeit oder Frustrationen je nach Bedürftigkeit aus. Das Weinen ist dabei die stärkste Ausdrucksform.

Bedürfnisweinen oder Erinnerungsweinen?

Auch Babys erzählen Geschichten 2 - Foto iStock © ArtMarie

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Die meisten Menschen denken, dass ein weinendes Baby Hunger hat, müde oder überreizt ist. „Babys haben genau wie Erwachsene einen inneren Gefühlszustand“, erklärt Matthew Appleton, britischer Körperpsychotherapeut, der sich auf prä- und perinatale Psychologie spezialisiert hat. Dieser beinhaltet auch das Geburtserlebnis z. B. einen Kaiserschnitt, eine Geburt mit Saugglocke oder eine Zangengeburt. „In den letzten 20-30 Jahren weist die Forschung mit immer mehr Belegen auf, dass Babys viel wacher, sensibler und bewusster sind, als wir uns das je vorstellen konnten.“

„Wie wir geboren werden, ist seit Menschengedenken in uns tief verankert. Bei Kaiserschnittbabys werden die natürlichen Grenzen übergangen; das Baby wird quasi ‚überrumpelt‘, da es erwartete durch den Geburtskanal zu gehen, aber das wird übergangen und plötzlich ist das Baby draußen, anstatt in dieser geschlossenen Umgebung zu sein und es ist ziemlich geschockt.“ Medikamente und ihre Wirkung spielen eine weitere Rolle genauso wie ein Steckenbleiben des Babys unter der Geburt – alles das sind Erfahrungen, die im Körpergedächtnis abgespeichert werden.

Auch Babys erzählen Geschichten 3 - Foto iStock © ArtMarie

Foto: iStock © ArtMarie

Und diese Erfahrungen teilen uns Babys mit. Vom ersten Augenblick an suchen sie intensiv nach Berührung, nach Gehört werden in ihren frühen Erfahrungen, sowie Ansprache, Kommunikation und der Gegenwart eines menschlichen Zeugen. Das Baby selbst hat aufgrund seiner Unreife nicht die Möglichkeit Stress zu regulieren. Es sucht nach emotionaler Abstimmung und dabei können Mutter und Vater am besten helfen, da sie dem Baby gewöhnlich am vertrautesten sind. An sie als seine Liebesquelle kann es sich mit seinem Kummer wenden und von seiner Geschichte erzählen.

Wie Eltern und Babys miteinander interagieren und wie wichtig eine gelingende emotionale Abstimmung in den frühen Entwicklungsjahren ist, zeigen heutzutage Computertomographien, Herzschlag- und Cortisolmessungen genauso wie Studien, die auf Beobachtung und Auswertung von Videoaufnahmen basieren. Im YouTube-Video „Still Face Experiment“ zeigt der US-Entwicklungsforscher Dr. Edward Tronick (Harvard Child Development Unit) am Beispiel eines Mutter-Kind-Paares, wie verzweifelt Babys reagieren, wenn ein Kontakt nicht stattfindet. Ein Baby braucht einen Erwachsenen, der es aus dem negativen Stresszustand herausholt, der ihm hilft, seine inneren Spannungen zu regulieren und sich wieder sicher in der Welt zu fühlen.

Ko-Regulation hilft dem Baby,
seine Gefühle wahrzunehmen und sie zu regulieren

Auch Babys erzählen Geschichten 4 - Foto © Annemarie Lea Geburtsfotografie„Das Geburtserleben wird häufig durch bestimmte gegenwärtige Erlebnisse stimuliert, die das Baby sehr aufbringen können. In solchen Situationen, wenn ihm etwa Kleidung über den Kopf angezogen wurde, berührt es immer wieder einen bestimmten Teil seines Kopfes,“ berichtet Matthew Appleton, der dies im Rahmen seiner Integrativen Babytherapie immer wieder von Eltern hört. „Wenn das Baby geboren wird, dehnt sich der Muttermund über den Kopf des Babys und es werden dabei bestimmte Bereiche sogenannte Kontaktflächen besonders stimuliert. Empfand das Baby dies als unangenehmen Druck, weint es jetzt, weil es diese Erfahrung noch nicht vollständig integriert hat. Babys, die immer wieder diesen Druck spüren, berühren möglicherweise diese Stelle, weil sie noch immer etwas fühlen, das sie ängstigt, bedrückt und ärgert.“ Indem Eltern sich auf das Baby einlassen und sich von seiner Körpersprache und seinem emotionalen Ausdruck leiten lassen, spiegeln sie intuitiv die kindliche Befindlichkeit. Dieses Zwiegespräch entlastet das Baby und es lernt nach und nach diese ursprünglich überwältigende Erfahrung zu integrieren.

Genauso wie beim „Still Face Experiment“ – lächelt das Baby, lächeln die Eltern intuitiv zurück – so können Eltern, wenn sie die emotionale Qualität des Weinen spüren, diese Zeichen des Babys auch spiegeln. Sie können ihre Hand in die Nähe der Stelle bewegen oder entsprechend auf eine ganz bestimmte Gebärde reagieren. Auf diese Weise signalisieren Eltern die mitfühlende Botschaft: „Ich sehe, hier bist du festgesteckt, das muss sehr weh getan haben“.

Da das Baby das starke Bedürfnis hat, sich mitzuteilen und mitfühlend verstanden zu werden, können Eltern auch mit ihrem Baby sprechen. Dabei geht es mehr um die empathische Absicht im Sinne von: „Ich kann sehen, wie wütend du aussiehst.“, als mit der eigentlichen Bedeutung der Worte, auf die das Baby reagiert.

Wenn du das Baby richtig verstehst, sind sie wie gebannt. Sie sehen dich tief an, als ob sie sagen wollten: ah, du verstehst mich! Matthew Appleton

„Wenn die Babys sich durch ihre Geschichte bewegen – vielleicht einmal, vielleicht zweimal, vielleicht ein paar Mal – verbinden sie sich wieder mit ihrer Mutter / ihrem Vater. Jedes Mal, wenn sie sich verbinden, integrieren sie die für sie damals als schwierig erlebte Situation etwas tiefer. Wir können dann sehen, dass die jeweilige Babykörpersprache verschwindet. Sie fassen sich nicht mehr auf die gleiche Weise an den Kontaktflächen an. Wir bemerken, dass das Verhalten, wegen dem die Eltern ursprünglich kamen, wie etwa mein Baby kommt nicht zur Ruhe, mein Baby weint viel – sich verringert oder ganz verschwindet.“

Störungen haben Vorrang*

Auch Babys erzählen Geschichten 5 - Foto iStock © Valeriia Titarenko

Foto: iStock © Valeriia Titarenko

Wie herausfordernd es ist, die Beziehung zwischen dem Baby und seiner Mutter oder seinem Vater zu verstehen, verdeutlich eine beispielhafte Situation aus einem Gespräch zwischen Marc Rackelmann und Matthew Appleton: „Nehmen wir an, du versuchst mir eine Geschichte zu erzählen, die dich stresste und ich will sie gar nicht hören. Ich sage nur, es ist alles gut, es ist gut! Oder ich sage: Ich glaube, du bist hungrig. Ich hole etwas zu essen, füttere dich … Vielleicht fühlst du dich dann besser, aber fühlst du dich auch als ganze Person angenommen?

Wenn wir nun noch davon ausgehen, dass ich der Ansicht bin, das Richtige getan zu haben und ich nicht verstehen kann, warum du dennoch so – wütend – auf mich reagierst, könnte ich mich fragen: Was mache ich hier falsch? … Fazit: Du musst mich wirklich hassen, so wie du dich verhältst!“

*Ruth Cohn, Psychoanalytikerin und Psychologin schrieb 1975 dazu: „Das Postulat, dass Störungen und leidenschaftliche Gefühle den Vorrang haben, bedeutet, dass wir die Wirklichkeit des Menschen anerkennen; und diese enthält die Tatsache, dass unsere lebendigen, gefühlsbewegten Körper und Seelen Träger unserer Gedanken und Handlungen sind.“

Wenn das Weinen des Babys nicht aufhört, fühlen Eltern sich oft hilflos oder schuldig.

Auch Babys erzählen Geschichten 6- Foto © Annemarie Lea Geburtsfotografie„Für Mütter und Väter ist es eine große Erleichterung, wenn sie verstehen, dass Babys auch eine Geschichte zu erzählen haben und ihr Baby ihre Unterstützung braucht. Wenn sie anfangen, sich die vergangenen Erlebnisse des Babys anzuhören, verschwindet das schwierige Verhalten, und ihre Beziehung verbessert sich.

Wenn unglückliche Babys versuchen, ihre Geschichte zu erzählen, ist dies ein Ausdruck einer natürlichen und gesunden Reaktion d.h. das Baby ist gesund, wenn keine weiteren organischen Beschwerden vorliegen. Erst wenn sie von ihrer stressigen Erfahrung berichten können und Gehör finden, können sie sich entspannen, vollständig ankommen   – eben wie beim Erwachsenen.“

Schwangerschaft und Geburt sind ein Beziehungsgeschehen

 Foto iStock © Halfpoint

Foto: iStock © Halfpoint

„Es ist wichtig, dass Eltern wissen, wie sie auf ein Baby reagieren sollten, das Stress und Schmerz aus seiner pränatalen oder Geburtserfahrung ausdrückt. Denn im Nachhinein verschiebt sich ihre Erfahrung von: „Hilfe mit meinem Baby stimmt etwas nicht.“ zu: „Mein Baby ist so intelligent!“, wie Matthew Appleton immer wieder beobachtet.

„Im Gespräch mit den Eltern kommen wir auf die Schwangerschaft und das Geburtsgeschehen zu sprechen und wir erkunden, wie das Baby es erlebt haben mag. Und die Eltern erinnern sich an einzelne Situationen, wo das Baby feststeckte oder plötzlich alles so schnell ging oder es sehr schmerzhafte und lange Wehen erlebte. Und dann finden wir Übereinstimmungen oder Anknüpfungspunkte im Erleben des Babys, der Mutter und des Vaters.

Schwangerschaft und Geburt sind ein Beziehungsgeschehen und Babys sind sehr aktiv im Geburtsprozess. Die inneren Gefühlszustände, die in Verbindung mit diesen Erfahrungen stehen, sind die ganze Kindheit und das Erwachsenenleben hindurch aktiv. Werden sie von Anfang an nicht angemessen reguliert, kann es passieren, dass früher Stress aktiviert wird, wenn wir im späteren Leben auf Stress treffen. Das kann ein Verhalten erzeugen, das nicht angemessen ist. Oft verhalten wir uns dann so, dass wir uns selbst nicht verstehen. Es sind Situationen wie: Warum habe ich das denn eben getan? oder: Warum fühle ich mich jetzt gerade so gestresst?“

Prof. Eva Rass, Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin beschreibt es so: „Es ist nachweisbar, dass affektive (vorübergehende Überflutungen negativer Gefühle) Prozesse das Grundgeschehen im tiefsten Persönlichkeitskern ausmachen, was dazu beiträgt, viele Phänomene im menschlichen Leben aus dieser Perspektive zu verstehen. Viele experimentelle und klinische Arbeiten zeigen, dass die Reifung der Affekte das Schlüsselereignis im Säuglingsalter ist, und dass der Erwerb einer Kontrollfunktion für die Selbstregulation von Affekten einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung darstellt. Die Entwicklung der Affektregulation ist somit ein wesentliches organisierendes Prinzip der emotionalen Entwicklung und der Hirnreifung.“

von Redaktion fürKinder

Quelle
Interview mit Matthew Appleton Brauchen Babys Therapie? von Marc Rackelmann

zur Person

Matthew Appleton, Kinder- und Jugendpsychologe, Craniosacral-Therapeut, ausgebildet in pränataler Psychotherapie spezialisiert auf die Arbeit mit Säuglingen, Kindern und Eltern und deren Körpersprache. Zunächst arbeitete er als Hausvater in Summerhill, einer Schule in England, die nach Prinzipien unterrichtete, die besagten: „Wenn man sich um die Emotionen kümmert, kümmert sich der Intellekt um sich selbst. Die Kinder konnten also sehr frei sein und sich ausdrücken. Sie mussten nicht am Unterricht teilnehmen, sie taten es erst, wenn sie sich motiviert fühlten. Alle Belange wurden in regelmäßigen Sitzungen demokratisch geregelt. Das andere Prinzip war, dass die Schule zum Kind passen musste und nicht andersherum. Diese Kinder waren starke Persönlichkeiten, weil sie starke Persönlichkeiten sein durften. Entgegen den Erwartungen vieler Leute konnte man sehen, wie die Kinder Struktur und Regeln wollten. Diese regelten sie innerhalb der Gemeinschaft.“

Mitgründer des Conscious Embodiment Trainings

Workshops und Trainer-Ausbildung zum Babytherapeuten der Integrativen Babytherapie, als Zusatzausbildung für Hebammen, Doulas, Psychotherapeuten, Psychologen, Kinderärzte, Kinderkrankenschwestern etc. Um das Bewusstsein dafür zu fördern, wie unsere Erfahrungen im Mutterleib, während der Geburt und in der frühen Kindheit uns als Individuen und in der Gesellschaft beeinflussen und zur praktischen Unterstützung der Eltern-Kind-Beziehung.

Links zum Thema

→ Die vier Stufen der Geburt
→ Menschliches Baby, menschliches Wesen

Prä- und perinatale Perspektiven der Babytherapie – Matthew Appleton erläutert anschaulich (mit faszinierenden Videobeispielen) Babys, deren Verbindung frühzeitig abgerissen ist und wie Babytherapie den Kontakt unterstützend wieder herstellen kann.

Bindung entdecken: sicher gebunden – stark fürs Leben
Weil die Bandbreite normalen Wachsens bei Babys und Kindern riesengroß ist, liefern pauschale Ratgeber selten das individuell passende Rezept. In unserem Elternkurs finden Mütter und Väter wissenschaftlich fundierte Informationen über das Abenteuer „Frühe Entwicklung“ und ihre Rolle in diesem Prozess. Betrachten Sie diese Fakten als Nährboden Ihrer elterlichen Intuition, als Schokolade fürs Elternherz, als sichere Basis für ein Kindern zugewandtes Leben.

Keine Angst vor Babytränen: Wie Sie durch Achtsamkeit das Weinen Ihres Babys sicher begleiten. Das Elternbuch, Thomas Harms, Psychosozial-Verlag

Basic-Bonding-Elternkurse → Bindung durch Berührung, Stressmanagement, Säuglingsbeobachtung, Eltern-Wissen
Ein Konzept des Zentrums für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie: Wie wir körperliche Berührungen im Elternalltag, in der Bindungsförderung und Therapie einsetzen können, um die emotionale Beziehung von Eltern und ihren Säuglingen gezielt zu stärken und zu bereichern.

Ängste und Traumata

Es ist nicht egal, wie wir geboren werden: Risiko Kaiserschnitt, Michel Odent, Walter-Vlg; 1st edition

Eltern-Kind-Bindung: Mein weinendes Baby verstehen, begleiten und beruhigen, Dr. med. Cyril Lüdin, Spezialarzt für Kinder und Jugendliche FMH, www.eltern-kind-bindung.net