1000 Tage - Foto iStock© digitalskillet 1„Eine Zunahme der sich gut entwickelnden Kinder in den nächsten 15 Jahren würde ein starkes Fundament für gesunde, gerechte und friedliche Gesellschaften schaffen. Es ist schwer zu erkennen, wie die Welt Armut und Ungleichheit beenden kann, ohne die frühkindliche Entwicklung zu berücksichtigen“, so das Resümee von Dee Dee Yates, einer weltweit anerkannten Expertin, die sich auf den Bereich der frühkindlichen Entwicklung konzentriert und sich für gefährdete Kinder und Familien einsetzt, einschließlich derjenigen, die von HIV und AIDS betroffen sind.

In ihrem Vortrag beschreibt sie welchen entscheidenden Einfluss die ersten 1.000 Lebenstage auf das körperliche Wachstum sowie die emotionale und soziale Entwicklung haben. DeeDee Yates war mehrere Jahre lang als technische Beraterin für die Regierung Namibias im Bereich Early Childhood Development tätig.

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Da Ihre Erkenntnisse übertragbar auf alle Kinder dieser Welt sind, haben wir im Folgenden den Vortrag „Do the first 1000 days determine the rest of your life?“ ins Deutsche übersetzt.

„Bestimmen die ersten 1000 Tage den Rest unseres Lebens?“

Heute möchte ich Ihnen zeigen, wie uns ein starker Start dabei helfen kann, mehr Gleichheit in der Gesellschaft zu schaffen.

Als wir in Namibia nach 25 Jahren die Unabhängigkeit feierten, haben wir uns an magische Momente unserer Geschichte erinnert, zum Beispiel diesen: Als Frank Fredericks den 200 m Lauf und damit Namibias erste Goldmedaille gewann.

Glaubt irgendwer, dass Frank damit einverstanden gewesen wäre, dass sein Startblock zehn Meter hinter der Startlinie aufgestellt sein würde? Oder auch nur fünf oder einen Meter? Natürlich nicht! Denn Frank weiß, dass er einen starken Start braucht für den Erfolg. Einen starken Start braucht er auch für einen guten Schlusslauf. Und wissen Sie was? Dasselbe gilt auch für das Leben an sich.

Die ersten 1000 Tage des Lebens, von der Befruchtung bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, sind absolut fundamental für die Entwicklung, für die Gesundheit des Kindes, für sein Wohlbefinden und sogar für seinen zukünftigen Erfolg und Wohlstand.

In den ersten 1000 Tagen des Lebens entsteht die Architektur des Gehirns.

Die ersten 1000 Tage des Lebens sind eine Phase des Wachstums und der Entwicklung. Sie bilden ein Zeitfenster voller Möglichkeiten, welches den größten Unterschied für die Entwicklung des Kindes ausmacht.

Ich rede nicht von Theorien. Ich spreche auch nicht als Lehrerin. Ich berichte über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung.

Das Diagramm bei 2 Min. basiert auf bildgebenden Hirnuntersuchungen, die erst seit kurzem möglich sind. Die untere Achse zeigt die Lebensjahre des Kindes und die farbigen Linien sind die verschiedenen Aspekte der Hirnentwicklung. Wir sehen, dass alle Aspekte der Hirnentwicklung den größten Teil ihrer Ausprägung weit vor dem vierten Geburtstag haben, und in vielen Fällen bereits im ersten Lebensjahr.

Vielleicht wissen Sie bereits,

dass das Hör- und Sehvermögen, die grüne und die dunkle violette Linie, sich sehr früh entwickeln und zwar im ersten Lebensjahr.
Dasselbe gilt auch für Sprachentwicklung – die gelbe Linie. Auch sie entwickelt sich deutlich, bevor das Kind zur Schule geht.

Am meisten überraschte mich, als ich diese Abbildung das erste Mal sah, dass sogar Fähigkeiten wie

  • Beziehungen unter Gleichaltrigen
  • soziale Entwicklung und emotionale Entwicklung

sich ebenfalls in einem sehr frühen Alter entwickeln, weit bevor ein Kind in irgendeinen Kindergarten geht, also zu einer Zeit, wo ein Kind den Tag noch in seiner Familie verbringt.

Obwohl ein Baby schon mit allen Gehirnzellen, die es jemals haben wird, auf die Welt kommt – hunderte Millionen, ach was hunderte Milliarden davon –, werden die Verbindungen zwischen diesen Neuronen in den ersten Lebensjahren angelegt. Und diese Verbindungen benötigen sowohl Anregungen als auch sichere Fürsorge. Wenn das Gehirn in dieser frühen Phase des Lebens nicht angeregt wird, rauben wir dem Kind die Chance auf eine gesunde Entwicklung.

Das Neugeborene Hirn verbraucht 97 % aller Energie, die dem Kind zur Verfügung steht. Ein vierjähriges Gehirn braucht im Vergleich nur 44 % dieser Energie.

Was passiert, wenn ein Kind mangelernährt wird?

Stress und Unterernährung führen dazu, dass die Gehirnfunktionen sich reduzieren und die Chancen auf eine bestmögliche Entwicklung des Kindes sich verringern. Unbeabsichtigt vergrößern sich auch die Ungleichheiten im Hinblick auf eine sozial gerechte Gesellschaft und das bereits zu einem so frühen Zeitpunkt.

Studien haben gezeigt, dass Kinder, die mangelernährt werden, keine Anregungen bekommen, Gewalttätigkeiten oder erhöhtem Stress ausgesetzt sind, schlechte Schulnoten haben, weniger verdienen und kränker sind als ihre gut ernährten Altersgenossen.

Statistiken aus Namibia belegen, dass 36 % der Kinder nicht bei ihren biologischen Eltern leben – in manchen Regionen sind es sogar 52 %. Das ist besonders für die Gesundheit von Mädchen ein Risikofaktor. Eine mögliche Vorsorge für die Gesundheit von Mädchen wäre der Besuch eines Kindergarten, aber die Qualität der Kindergarten und Vorschulen sind in Namibia ungleich gut. So gibt eine Mutter, die in einer der ärmeren Vorstädte lebt und die etwa als Haushaltshilfe arbeitet, ihr Kind In die Obhut einer Nachbarin. Hat diese Nachbarin schon acht andere Babys zu betreuen, liegen diese meistens alle auf einem Bett in einem abgedunkelten Raum und erhalten nur minimale Zuwendung und nicht die aufmerksame liebevolle Fürsorge, die für eine gesunde Hirnentwicklung nötig ist. Das ist fatal für die Entwicklung und Gesundheit dieser Kinder. Denn die Statistiken zeigen, dass eines von fünf Kindern bereits die erste Klasse wiederholen muss. Wenn eines von fünf Kindern die erste Klasse wiederholen muss, ist das System nicht sehr effizient.

Aber es gibt gute Neuigkeiten. Und die gute Neuigkeit ist, dass frühe Interventionen wirksame Hilfe bieten können.

1000 Tage - short term, the Jamaican StudyDie Abbildung bei 8:30 Min. zeigt eine Studie aus Jamaika. Sie veranschaulicht, dass mit entsprechenden Programmen Kinder mit Entwicklungsrückständen aufholen können. Die oberste Linie zeigt den Entfaltungsverlauf eines gut entwickelten Kindes und direkt die Linie darunter zeigt das Ergebnis von einem in der Entwicklung gehemmten Kindes, das an einem Programm mit zwei Komponenten teilnahm.

Zum einen waren Hausbesuche Teil des Programms. Dabei gingen ausgebildete Früherzieherinnen in die Familie von Risikomüttern mit potentiell benachteiligten Kleinstkindern. Diese zeigen den Müttern, wie sie feinfühlig mit ihren Kindern umgehen können. Die zweite Komponente waren Nahrungspakete. Diese beiden simplen Dinge brachten die Kinder innerhalb von 24 Monaten nahezu auf das gleiche Level wie die gleichaltrigen gut entwickelten Kinder.

Die dritte Linie der Grafik zeigt: Auch die Kinder, die nur Hausbesuche bekamen, verbesserten sich deutlich. Das Besondere, sie entwickelten sich sogar besser als diejenigen Kinder, die nur die Ernährungspakete bekamen.

Daran kann man erkennen, dass die Interaktion der Eltern mit ihren Kindern extrem wichtig ist. Die Erfahrung verändert ganz wörtlich den Aufbau des Gehirns. Ist das nicht interessant?

Die Umgebung eines Kindes und die Art der Fürsorge, die es erhält kann seine Nervenverbindungen zahlreicher machen oder auch reduzieren – und zwar um bis zu 25 %.

1000 Tage - brain development, urbanchildinstitute.orgDie Grafik bei 9:40 Min. zeigt die Synapsen (Kontaktstellen zwischen zwei Nervenstellen) eines Neugeborenen, im Alter von einem Monat, mit neun Monaten, mit zwei Jahren sowie im Erwachsenen Alter. Der größte Unterschied ist in der Altersspanne zwischen einem Neugeborenen und einem zweijährigen Kind. Zwischen dem Alter von zwei Jahren und dem erwachsenen Alter gibt es vergleichsweise geringe Unterschiede. Die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns und die Lernfähigkeit sind umso besser je intensiver und positiver die Verbindungen im Gehirn sind.

Mütterliches Wissen: Wie man Kinder aufzieht und welche Bedürfnisse sie haben

Neben Krankheiten wie HIV gibt es in Namibia Risikofamilien wie Armut, Alkoholsucht, häusliche Gewalt und Mütter mit Depressionen. Die traditionellen Erziehungspraktiken wie Stillen, die sofortige Reaktion auf das Weinen eines Kindes, Füttern nach Bedarf, Tragen des Kindes, häufiges Berühren und Massieren der Babys, Geschichten erzählen und Singen – alle diese traditionellen Elemente – sind sehr wirkungsvoll, denn sie entwickeln das Gehirn und schützen die Kinder.

In einer ländlichen Gegend in Ruanda haben die Hauswände geometrische Muster in schwarz-weiß und paradoxerweise reagieren Babys stark auf kontrastreiche Muster genau auf diese Hüttenmuster in Ruanda.

Jeder Moment zählt

Die Beziehungsebene gehört zu den grundlegenden Erfahrungen die ein Baby machen kann. Diese hat besonders starke Auswirkung auf die soziale und emotionale Entwicklung.

1000 Tage - every moment counts

Hier ist ein Bild mit einer Mutter, die auf das Weinen ihres Kind reagiert und was tut sie? Sie wendet den Kopf und schaut es an, sie berührt es, sie benutzt Babysprache – ein universelles Element in allen Kulturen und Gesellschaften. Durch die mütterliche Zuwendung beruhigt sich das Baby.

Als Mutter und Vater sind wir genetisch programmiert auf die Signale eines Babys in positver Weise zu reagieren.

Kinder sind wiederum genetisch programmiert auf die Signale ihrer Eltern zu reagieren.

Babys brauchen wirklich menschliche Zuwendung

Wenn ein Kind in einem Krankenhaus mit hellem Licht, Geräuschen und Überwachungsmonitoren geboren wird, meinen Sie das Kind schaut auf die Monitore? Nein, das Baby sucht das Gesicht der Mutter, ihre menschliche Stimme und ihre Berührung. Seien Sie bitte nicht zu vorschnell, ihren Kindern elektronische Spielgeräte wie Tablets zu geben, sie brauchen wirkliche menschliche Zuwendung.

Babys imitieren und spiegeln die Eltern und die Eltern tun dies mit ihren Babys

Mütter und Väter haben eine wichtige Funktion und Kinder spiegeln schon sehr früh Emotionen und ahmen ihre Eltern nach. Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder auf Sie hören, von Ihnen lernen, wenn Sie wollen, dass ihre Kinder ihnen nacheifern, warten Sie nicht darauf, dass sie ein Alter von 6 Jahren erreichen oder gar 10 oder 12 Jahre als sind, sondern leben Sie die Beziehung sofort.

Beziehung macht die Kommunikation zwischen Menschen aus

Eine positive Beziehung legt tiefe Spuren im Gehirn an, die die Grundlagen bilden für

  • Vertrauenswürdigkeit – Geheimnisse für sich behalten können, seinen Worten Taten folgen lassen, Versprechen einhalten, für Menschen ein offenes Ohr und offenes Herz haben
  • Verständnisbereitschaft – Fähigkeit, andere zu verstehen und sich verständlich zu machen

Diese frühen Investitionen sind von höchster Bedeutung. Inverstitionen in Kinder zu einem späteren Zeitpunkt sind längst nicht so effektiv.

Mütter sind die erste Bildungsinstanz im Leben eines Kindes

1000 Tage - investing, HeckmanDie Abbildung bei 14:00 Min. zeigt eine berühmte Studie aus dem Jahr 2007 über die Gewinnrate an Investitionen in verschiedenen Lebensabschnitten. Der größte Unterschied wird in den frühen Lebensjahren erzeugt. Wenn wir hier nicht investieren, verpassen wir das wichtigste Entwicklungsfenster, um die Hirnstruktur dergestalt zu beeinflussen, dass die Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird, die Lernfähigkeit. Und diese Momente sind hinterher nicht mehr einholbar.

Im Moment investieren wir hauptsächlich in primärer sekundärer und tertiäre Erziehung und manche Leute sagen schon, das lohnt sich doch alles gar nicht. ich möchte hier keinesfalls andeuten, dass es falsch wäre in den höheren Bildungsstadien zu investieren, aber was ich hiermit vorschlage ist: Dass wir deutlich mehr in die Allerjüngsten investieren sollten. Wir vernachlässigen die sehr frühen Jahre.

Durch entsprechende Maßnahmen wie etwas in Jamaika gewährleisten wir, dass soziale Ungleichheiten vermindern werden, und dass Kinder ihr Potential voll ausschöpfen und einen starken Start bekommen, auf das sie auch einen guten Ziellauf nehmen.

1000 Tage - Foto iStock©digitalskillet 2Als persönliche Botschaft an die Männer: „Männer, liebt die Mütter Eurer Kinder. Das Wichtigste, dass ein Vater für seine Kinder tun kann, ist, ihre Mutter zu lieben und pflegt die Beziehung zu Euren Kindern vom ersten Moment an. Frauen, vermeidet Alkohol und Zigaretten, ernährt Euch gut, sucht die Unterstützung anderer Mütter und schätzt Eure Rolle als erste Bildungsinstanz Eurer Kinder. Und Eltern, genießt das Zusammensein mit Euren Kinder – umarmt sie, küsst sie, knuddelt mit Ihnen, kitzelt sie. Das ist alles nicht trivial. Das sind echte Investitionen.“

Zusammengefasst möchte ich sagen, dass die Flexibilität und die Plastizität des Gehirns in den ersten Lebensjahren – in den ersten 1000 Lebenstagen – und seine Fähigkeit zu wachsen, den Grundstein für spätere Gesundheit und Erfolg setzen.

Abschließend ein Zitat aus dem Science Magazine von Kariee L. Silver and Peter A. Singer, Juli 2014:

„Eine Zunahme gut gedeihender Kinder in den nächsten 15 Jahren wäre der wichtigste Grundstein für eine gesunde, wohlhabende und friedliche Gesellschaft. Es ist schwierig sich vorzustellen, wie unsere Welt Armut und Ungleichheit beseitigen kann, ohne sich um die frühe Entwicklung der Kinder zu kümmern.

von Redaktion fürKinder

Quelle
TED-Talks zu Elternschaft, Erziehung und Bildung (englisch)
Do the first 1000 days determine the rest of your life?, Dee Dee Yates

Links zum Thema

„Frühkindliche emotionale Vernachlässigung und Stress behindern die Gehirnentwicklung mit negativen Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter“, Nuria K. Mackes et.al., PNAS January7, 2020 117 (1) 641-649

„Stress im Säuglingsalter prägt Teenager-Gehirn“, Burghy, C.A. et.al, Development pathway to amygdala-prefrontal function and internalizing symptoms in adolescence. Nature Neuroscience 15, 1736-1741 (2012)

„Warum Kinder am besten mit Gefühl lernen“, Prof. Ralph Dawirs, Neurobiologe; Prof. Gunther Moll, Kinderpsychiater, Welt, 2.11.2007

„Finanzielle Sorgen unsicherer Bindungserfahrungen an Eltern,The cost of love: financial consequences of insecure attachment in antisocial youth, Bachmann C, Beecham J, O’Connor T, Scott A, Briskman J, Scott S.
Journal of Child Psychology and Psychiatry 2019, 60:13431350, Webseite: Christian Bachmann

Sprachliche Defizite „Tablets schaden Kinderhirnen“, Anne Bäurle, ÄrzteZeitung, 07.11.2019

„Was ein Baby glücklich macht“, Stiftung Zu-Wendung für Kinder, 2019
Gerade in den ersten Wochen, wenn Mamas und Papas sich noch im Liebestaumel mit ihrem Baby befinden, bestärkt diese kleine Broschüre junge Eltern darin, auf ihr Bauchgefühl zu hören.