„Die Familien” befinden sich in einer paradoxen Situation: Einerseits gewähren Mütter und Väter den Kindern in den ersten 12 Lebensmonaten weitestgehend, was sie brauchen. Gleichzeitig sehnen sich viele Eltern regelrecht nach der Krippenaufnahme, weil sie die Abhängigkeit und Kleinheit des Kindes als bedrohlichen Zustand erleben. Andererseits wollen sie die Bedürfnisse des Kindes bis zur Selbstverleugnung befriedigen, nicht zuletzt, weil sie die frühe Elternschaft mit ihren eigenen, inneren, unbewussten Säuglingserfahrungen in Kontakt bringt.
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So reagieren bei der Geburt ihrer eigenen Kinder ehemalige Krippenkinder häufiger und schwerer als in der Fachliteratur angegeben, mit psychischen, psychosomatischen und somatischen Störungen. Dadurch war es ihnen dann auch schwerer möglich, sich empathisch auf ihr Baby einzulassen. [1]
Mit der frühen Fremdbetreuung entziehen sich die Eltern weitgehend ihrer natürlichen Bedeutung ab dem 12. Lebensmonat. Man könnte auch sagen, sie verlieren ihre Autorität, da sie sich aus der Betreuung ihrer Kinder zurückziehen.
Gesellschaftliche Widersprüche
„Die Gesellschaft” befindet sich ebenfalls in der paradoxen Situation, da einerseits so viel wie noch nie Wissen über die menschliche Entwicklung und die basalen Anforderungen für eine gute Entwicklung bekannt ist: dank bildgebenden Verfahren in der Medizin und biochemischer Untersuchungen, dank erleichterter visueller-auditiver Dokumentation von Beobachtungen und experimentellen Situationen, dank sorgfältiger teilnehmender Beobachtungen, dank elektronischer Verarbeitung der Daten.
Wir wissen, dass sich im Zeitfenster der ersten Lebensjahre das limbische System entwickelt und wesentliche Reaktionsmuster geprägt werden, die die Fähigkeit zur Theorie of Mind, Reflexion, Empathie, Altruismus, psychischer Stressbewältigung ausmachen.
Wir müssen davon ausgehen, wenn die erste Zeit des intensiven Zusammenlebens zu kurz ist, führt die frühe öffentliche Erziehung zu einem „Mangel an Spiegelungen” d. h. emotionaler Zustände und damit zu unzureichender Aktivierung der Spiegelneuronen, die für unser Empathievermögen Voraussetzung sind.
Ebenso wird die „Denkfähigkeit”, die ausgelöst und angeregt wird durch den Versuch einen anderen zu erkennen, unzureichend angeregt, wenn kein anderer da ist, den man entlang eines ständigen Hin und Her im Austausch erkennen kann.
So bleiben die „inneren Arbeitsmodelle” vom Anderen und damit von sich selbst „instabil, schwach” und wenig hoffnungsvoll.
Ein Kind, das zu wenig Fähigkeiten hat, sein Ungleichgewicht zu regulieren, ob ausgelöst durch innere Vorgänge oder von außen, fühlt sich schnell bedroht, angegriffen, verfolgt und reagiert deshalb schnell aggressiv. [2]
Kinder sind von Natur aus altruistisch und unser Körpersystem ist entsprechend ausgerüstet, intrinsisch, also dass wir aus eigenem Impuls heraus altruistisch sein können:
Spiegelneuronen, Belohnungszentrum, Oxytocin sind drei wesentliche angeborene Helfer, die jedoch erst durch freundliche zwischenmenschliche Erfahrungen aktiviert werden müssen.
Wir wissen, dass sich die Darm-Hirn-Achse, die das „Darmhirn” und das „Kopfhirn” miteinander verbindet, in den ersten Lebensjahren aufgebaut wird [2].
Wir wissen von der entwicklungshemmenden Wirkung des Stresshormons Cortisol auf die höhere Nerventätigkeit. Wenn wir den „natürlichen” Gruppenstress in der Kita einbeziehen, dann ist nicht verwunderlich, dass die Kleinkinder das Stresshormon Cortisol vermehrt bilden.
Zuviel Cortisol hemmt die Immunabwehr des Körpers und es hemmt den Ausbau der neuronalen Verbindung zwischen dem Mittelhirn und der Großhirnrinde, so dass die bewusste, gedachte Selbstwahrnehmung behindert wird: Was ist mit mir los? Was muss ich tun? Stattdessen kommt es zu primitiven Angstreaktionen, Explosionen, Körpersensationen, Schlaf- und Konzentrationsproblemen u. ä.
Wir wissen, dass die Krippenbetreuung unabhängig von welcher Qualität, die körpereigene Produktion von Cortisol erhöht bzw. nach anhaltendem Stress die Cortisolbildung erheblich senkt. Zu wenig Cortisol kann einhergehen mit Tagesmüdigkeit, die sich in der Resignation des Kindes wiederspiegelt. Es passt sich an, weil es nichts mehr gegen den Stress ausrichten kann. Es erträgt. Eine gewisse emotionale „Taubheit” oder Leere kann sich einstellen. Dem Kind fehlt der Zugang zu seinen Gefühlen. Aber auch das Gegenteil, eine Übererregbarkeit und Reizbarkeit können sich im Zusammenhang mit einer Unterfunktion bei denjenigen Kindern einstellen, die besonders zu einer Kampf-Flucht-Reaktion neigen. [vergl. 3]
Wir wissen um den lebhaften Dialog der Babys, selbst der Frühgeborenen mit dem pflegenden Anderen, über ihre feinen Reaktionen, ihre Streben nach Verbindung von Anfang an.
Wir wissen um die Einzigartigkeit der Primärbeziehungen.
Internationale Studien weisen auf erhebliche Veränderungen in den Verhaltensmustern, Erkrankungsneigungen, sozialen Störungen etc. hin, wenn die Trennung von den primären Bezugspersonen zu früh, also in den ersten 24 Monaten geschieht.
Die amerikanische NICHD Studie weist auf negative Veränderungen der Mutter-Kleinkind-Beziehung im Zusammenhang mit einer frühen Krippenbetreuung hin. Kinder und Mütter ziehen sich voneinander zurück. [4]
Eine Studie über Auswirkungen außerfamiliärer frühkindlicher Betreuung (AFB) auf die Entwicklung psychischer Verhaltensauffälligkeiten, Risikoverhalten, Schulleistung im Vergleich zur elterlichen Betreuung kommt zu dem Ergebnis, dass ein frühes Eintrittsalter in die Krippe unter 12 Monaten unter anderem mit signifikant höheren psychischen Auffälligkeiten im Jugendalter korreliert [5].
Dagegen wird emotionales Lernen entlang von Bindung und Verbindung im intersubjektiven* Beziehungsraum, ja die Gesetzmäßigkeit des Lernens überhaupt – über die wir nunmehr wirklich viel wissen, ignoriert oder klein geredet. Wie in der DDR wird frühen Beziehungen und Verbindung wenig Bedeutung für die Entwicklung beigemessen.
* von mehreren Personen in gleicher Weise nachvollziehbares Geschehen
Kinder brauchen in erster Linie Zeit und Geduld. Ganz zu schweigen davon, dass wir unbedingt das
„Recht auf Bindung von Geburt an als ein Menschenrecht” ansehen müssen.
Bindung und Verbindung sind in den Augen der Konsumantreiber eine gefährliche Quelle, weil sie nicht kontrollierbar sind und sich nicht zum Konsum und Geldausgeben eignen.
Andererseits hält man seit 2012 in der Bundesrepublik Deutschland am Ausbau der Krippen und dem Recht auf einen Krippenplatz ab dem 13. Lebensmonat sowie einer Propaganda und Versprechen fest, die Krippe sei der beste/bessere Entwicklungsort sogar unter den katastrophalen personellen Bedingungen, die 330.000 fehlende Erzieher:innen bieten.
So werden den Kleinkindern wesentliche Lernmöglichkeiten vorenthalten. Hierin unterscheidet sich die DDR-Politik nicht von der in unserer jetzigen BRD – auch, wenn die Erziehungspraxis jetzt deutlich kindzentrierter ausgerichtet ist.
Es ist für ein Kleinstkind einfach nichts Gutes an einer Frühaufnahme in die Krippe bevor es ausreichend sprechen kann, sicher laufen kann, selbstständig essen kann und sich selbst beruhigen kann – den Erwachsenen als Bezugsobjekt weniger als Gleichaltrige braucht.
- Sich täglich zu trennen und wieder zusammen zu kommen, sind für ein Kleinstkind innerlich bewegende Übergänge, in denen es auf das Engagement (und die Fähigkeit) seiner Eltern und Erzieher angewiesen ist, dass sie liebevoll und geduldig zwischen den unterschiedlichen Erfahrungswelten eine „Brücke“ schlagen, damit sich das Kind verbinden und entbinden kann.
Darüber hinaus braucht es seine Eltern, um seinen anstrengenden „Arbeitstag“ – mag die Betreuung noch so gut gewesen sein – emotional zu verdauen. Es braucht ihre nachdenkliche Empfindsamkeit, um Missmut, „Jammrigsein“, Unlust oder Wut, deren Ursache es selbst noch nicht versteht, bei ihnen loszuwerden.
Wenn die Eltern sich in ihr Kind hineinversetzen und dann eine passende Lösung finden, fühlt es sich nicht nur erleichtert, sondern es wächst auch seine innere Überzeugung: „Meine Eltern können mir wirklich helfen“.
Alles spricht dafür, dass eine Krippenaufnahme nicht vor dem 24. Lebensmonat erfolgen sollte. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass ca. 25 % der Eltern schon sehr früh eine Unterstützung im Elternsein brauchen, weil sie psychisch oder körperlich krank sind, in prekären Verhältnisse leben, beide berufstätig sein müssen oder als Alleinerziehende ohne Betreuungshilfe leben.
Für diese 25 % müsste die Betreuung exzellent – so haben es Studien ergeben – sein, um die Defizite im Familiensystem ausgleichen zu können.
von Agathe Israel
Weitere Informationen
Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form