Das Liebesfenster der Kindheit 1 - Foto © Kerstin PukallDas Liebesfenster der Kindheit ist ein Fest der Gefühle. Unmittelbar nach der Geburt durchströmt es sowohl Mutter als auch Kind gleichermaßen. Beide können sich erst durch das Loslassen, die Ent-bindung, auf eine neue Bindung einlassen. Denn gemäß den Gesetzen des Lebenszyklus setzt die Los-Lösung die Bindung voraus [1].

Während der Schwangerschaft tauschten Mutter und Kind nicht nur Nährstoffe aus, sondern auch intensive Emotionen. Sie teilten ihre Stimmungen miteinander, sowohl die freudigen Momente als auch die Stimmungsschwankungen. Diese initialen vorgeburtlichen Bindungsgefühle prägen maßgeblich die Entfaltung von Liebe und Verbundenheit zwischen Mutter und Kind. [2] Viele Mütter beschreiben es als „Liebe auf den ersten Blick“, wenn sie ihr Baby zum ersten Mal sehen. Andere Mütter benötigen etwas Zeit, um eine Verbindung aufzubauen.

Mütterliche Gefühle und eine tiefe Bindung entwickeln sich oft erst allmählich im Umgang mit dem Baby. Dabei ist die Intuition der Mutter ihr bester Ratgeber. Durch die enge Beziehung entwickelt sie ein Gespür dafür, wie sie auf die Bedürfnisse ihres Babys reagieren kann. Der Wissenschaftler Jaak Panksepp beschreibt dies als die Aktivierung eines evolutionär bedeutsamen „CARE-Schaltkreises“, der die Grundlage für fürsorgliches Verhalten bildet. (Affective Neuroscience)

Die Bezeichnung „Mutter“ drückt immer eine Beziehung aus

Da jedes Baby einzigartig ist, gibt es keine festen Regeln für den Umgang mit einem Baby, was manchmal das Muttersein erschweren und Mütter verunsichern kann. Wenn Mütter jedoch ihrem Instinkt vertrauen und sich einfühlsam auf ihr Baby einlassen, werden sie feststellen, dass ihr Baby ihnen hilft, ihrer Intuition zu folgen. So, wie sie ihr Baby gleich nach der Geburt hautnah in den Arm nehmen und es liebkosen möchte, so verlangt auch das Neugeborene nach diesem zärtlichen Kontakt, der ihm Sicherheit und Geborgenheit gibt. Durch Nähe und Beziehung lernt eine Mutter, die Signale ihres Kindes zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Mit ihrem Baby wächst auch ihr Selbstvertrauen, feinfühlig und verlässlich für das Baby da sein zu können. Diese enge Bindung und das liebevolle Engagement belohnen Mütter mit einem wunderbaren Gefühl, das wir Liebe nennen [3].

Jedes Lächeln, jeder Blick und jede positive Rückmeldung stärken das Gefühl, geliebt zu werden.

Das Liebesfenster der Kindheit

Im Bewusstsein der Verbundenheit und der gegenseitigen Intuition, in dem Wissen, voll und ganz für das Kind da sein zu dürfen, öffnet sich das Liebesfenster der Kindheit. Wenn das Kind in dieser Bindungsbeziehung Liebe, Halt, Zuwendung und emotionale Regulierung erfährt, wird es dieses Gefühl allmählich verinnerlichen [4].

Die zuverlässige Befriedigung und Regulierung kindlicher Bedürfnisse und Erregungen, insbesondere in den ersten Lebensjahren, legt den Grundstein für das sogenannte Urvertrauen. Dieses Urvertrauen steuert unbewusst unser Empfinden und Verhalten im Laufe unseres gesamten Lebens. [4]

Der Pädagoge und Kindertherapeut Wolfgang Bergmann drückte es treffend aus:

Wir alle haben unser Glücksvermögen in der Kindheit erworben. Wird es dort gestört, bleibt es gestört ein Erwachsenenleben lang.

Dieses „Glücksvermögen“ entwickelt sich und festigt sich in den ersten drei Lebensjahren und bildet die Grundlage für emotionale Gesundheit, Stressbewältigung, Interessenausgleich, Selbstwirksamkeit, Empathie, Selbstwertgefühl, Sozialverhalten, Vertrauen, Bindungsfähigkeit und Resilienz.

Das Liebesfenster der Kindheit 2 - Foto © Kerstin PukallWerden im ersten Lebensjahr die fundamentalen Bedürfnisse gestillt, entwickeln Kinder ein sicheres, vertrauensvolles Gefühl: das Urvertrauen in sich selbst, in andere Menschen und die Umwelt.

Ein derart rundum beschütztes Kind hat keinen Raum für aufkommende Ängste und Misstrauen. Es kann ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit entwickeln, das der Psychoanalytiker Erik Erikson als „Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens“ beschreibt [5].


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Diese frühen Erfahrungen bilden die Grundlage für die folgenden, anspruchsvollen Entwicklungsschritte im zweiten und dritten Lebensjahr. Das Kind strebt nach Selbstbestimmung und erkundet mutig seine Umwelt, wenn es das sichere Gefühl hat, geliebt zu werden. Fehlt jedoch das grundlegende Vertrauen aufgrund wiederholter Einschränkungen, Zurückweisungen, entwickelt das Kind Gefühle von Hilflosigkeit, Scham und Versagen. Dies führt letztendlich zu Unsicherheiten und Zweifeln an der Richtigkeit seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse.

Da sich das „Liebesfenster“ der Kindheit nach den ersten Jahren schließt und nicht nachgeholt werden kann, spielt die Mutter-Kind-Beziehung eine entscheidende Rolle. Ihre Feinfühligkeit und ihr individueller Stil der Bemutterung sind Ausdruck ihrer Liebe, die das Kind ein Leben lang in sich trägt.

von Redaktion fürKinder

Weitere Informationen

[1] Selbstbestimmung oder Selbstvertrauen, Colette Mergeay, Vortrag auf der Hebammen-Landestagung, 8. 2. 2022

[2] Das stille Lauschen, Anne Birte Aßmann, Deutsche Hebammen Zeitschrift, 7.12.2020

[3] Broschüre: Stillen – für einen guten Start

[4] Broschüre: Bindung vor Bildung

[5] Erikson, E. H. (1966). Identität und Lebenszyklus: 3 Aufsätze (1. Aufl.). Theorie 2. Suhrkamp.

Links zum Thema

Was Mütter tun – besonders, wenn es wie nichts aussieht, Naomi Stadlen, La Leche Liga Deutschland e. V.

Abenteuer der Bindung – für eine gute Kindesentwicklung

Die ersten 1000 Lebenstage sind entscheidend

Warum ist Mutterliebe so stark? Kathryn Abel, Institute of Brain, Behaviour and Mental Health, University of Manchester, www.dasgehirn.info, 4.07.2015

Liebe ein Grundnahrungsmittel, Ulrich Pontes, Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Inga Neumann, www.dasgehirn.info, 28.03.2013

Affective Neuroscience: Im Gespräch mit Emotionsforscher Jaak Panksepp,© 2013 www.dasGehirn.info