Die Kita-Krise ist das heiße Thema der heutigen Bildungs- und Familienpolitik und keiner weiß so recht, was dagegen zu machen ist, weil überall Personal fehlt. Doch nicht nur die Personalnot führt zu diesem Ausnahmezustand, sondern die neue Kindheitspädagogik hat offensichtlich einen Anteil daran. Dies macht die Hochschulprofessorin Veronika Verbeek mit ihrem neuen Buch „Die neue Kindheitspädagogik, Chancen, Risiken und Irrtümer“ deutlich.
Sie nimmt die seit 20 Jahren gültigen neuen Leitkonzepte, wie Selbstbildung, Ressourcenorientierung, Partizipation, Diversity und andere, kritisch unter die Lupe und stellt fest, dass deren positive Effekte nicht einmal im Ansatz nachgewiesen wurden oder deren Umsetzung nicht stimmig gelingt. [S. 164] Gleichwohl hat sich durch diese Leitkonzepte die Belastung des Kita-Personals dermaßen erhöht, dass die Qualität der Betreuung leiden muss. Es gibt nach ihren Aussagen keinen Nachweis über den gelingenden Bildungsweg eines Kindes in der Krippe und Kita, der Auswirkungen auf die Schulbildung hätte.
Alles nur Bildungsromantik?
Bei der Analyse des Leitkonzepts der Selbstbildung zeigt die Autorin sowohl die Belastungen der Fachkräfte durch die Dokumentationen der persönlichen Lerngeschichte jedes Kindes auf, als auch die mangelnde Berücksichtigung der verschiedenen Lernformen in Abhängigkeit vom Lebensalter und der kognitiven Reife von Kindern. So kann es zu negativen Auswirkungen in der Selbstbildung bei Kindern kommen. Denn die Betonung der besonderen Fähigkeiten eines Kindes über die Lerngeschichten kann über das Ziel hinausschießen, wenn die Vorschulkinder in ihrer noch weitgehenden egozentrischen Sicht der Dinge sich total überschätzen und keine angemessenes Selbstbild entwickeln können.
Die Ressourcenorientierung der neuen Kindheitspädagogik läuft Gefahr, dass Entwicklungs- und Verhaltensprobleme nicht erkannt werden. Durch die Konzentration auf die positiven Fähigkeiten des Kindes werden möglicherweise kognitive oder motorische Einschränkungen des Kindes übersehen, so dass die Förderung unterbleibt.
Partizipation in der Krippe: Zwischen politischem Ideal und kindlicher Realität
Das gesellschaftliche Brandthema der Partizipation als politischer Reflex auf den um sich greifenden Rechtsextremismus soll die Krippe als Kinderstube der Demokratie hervorheben. Doch was macht es mit den Kleinsten, wenn sie ständig gefragt werden, wann, was und wieviel sie essen wollen, wer sie wann wickeln soll und wo und wie lange sie schlafen wollen? Es ist bei diesem Reformeifer offensichtlich untergegangen, dass kleine Kinder sich noch nicht entscheiden können und noch weitgehend die Versorgung durch die Erwachsenen brauchen. Ebenso müsste die Personaldecke bei dieser Form der Partizipation eine 1:1 Betreuung der Krippenkinder hergeben.
Mit der Analyse dieser und weiteren Leitkonzepten ist es der Autorin gelungen, den Fokus auf einen Bereich zu legen, der in der öffentlichen Diskussion nicht wahrgenommen wird. Ein Blick auf die Praxis unterstützt die gesellschaftspolitische Relevanz des Buches.
Die von der Autorin kritisierten überhöht dargestellten Effekte eines Krippenbesuchs bzw. die nicht vorhandenen objektiven Entwicklungsvorteile desselben lassen zwingend die Frage aufkommen, warum die frühe Krippenbetreuung den Kindern zugemutet wird angesichts vieler Studien zu den Nachteilen des frühen Krippenbesuchs. Hier sind offensichtlich wirtschaftliche Kriterien vorherrschend. Ist das jedoch ethisch vertretbar, wenn dies zu Lasten der kleinen Kinder geht? Die von der Autorin beklagte Ideologisierung von Konzepten, die Kinder und Kita-Fachkräfte noch zusätzlich belasten, greift ebenso in die Entwicklung der Kinder ein. Wenn z. B. Selbstbestimmung im Sinne von Selbstbildung von den Kleinsten gefordert wird, obwohl sie noch auf den Schutz durch die Erwachsenen angewiesen sind, kann das nur zu Entwicklungsstörungen führen. Da die Ichentwicklung erst mit vier Jahren voll ausgebildet ist, macht Selbstbestimmung bis dahin keinen Sinn und trägt auch nicht zum Selbstbild bei, sondern verstärkt die Ichbezogenheit.
Auch das Leitkonzept der Diversität geht in einigen Bereichen an den Entwicklungsaufgaben der Kita-Kinder vorbei. Der Anspruch nach Berücksichtigung der Diversität im Hinblick auf Gender und geschlechtliche Identität missachtet, dass Kita-Kinder noch in der Phase ihrer geschlechtlichen Identitätsentwicklung stecken und mit Programmen zur Gendersensibilität in ihrem Selbstverständnis gestört werden. Hier wird die Erwachsenensicht den Kindern übergestülpt bevor sie in der Lage sind, dieses ganze Thema zu überschauen.
Zwiespältige Wege der Partizipation
Widersprüche im Hinblick auf Partizipation in Krippe und Kindertagesstätte tauchen dann auf, wenn im Rahmen der Erstellung von Kinderschutzkonzepten digitalen Medien in der Kita aus Kinderschutzgründen nicht abgelehnt, sondern der Einsatz mit fröhlicher Unterstützung der Telekommunikationsbranche gefördert wird.
Unter Beachtung der in den neuen Leitkonzepten implizierten Überforderungen, denen besonders Krippenkinder ausgesetzt sind, stellt sich die Frage, ob die neue Kindheitspädagogik nicht auch einen Anteil an der Zunahme der psychisch auffälligen Kinder hat.
von Erika Butzmann
Veronika Verbeek
Die neue Kindheitspädagogik
Chancen, Risiken, Irrwege
Verlag W. Kohlhammer
ISBN: 978-3-17-043639-8
195 Seiten
34,00 Euro
www.veronika-verbeek-trier.de mit einem Aufruf Kita-Kindeswohl-im-Blick
Links zum Thema
Überlastung, Stress und Erschöpfung in vielen Kitas: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlagen Alarm und fordern die Politik zum schnellen Handeln auf, Unterzeichner: 300 Wissenschaftler, 17 Organisationen, 27.8.2024
Kommentar: Dr. Erika Butzmann, 7.09.2024
In diesem Aufruf fehlt das Wesentliche! Es wird weiterhin ignoriert, was der Aufruf zur Wende in der Frühbetreuung mit ebenfalls 200 UnterzeichnerInnen 2020 thematisiert hat: Die Kinder unter 2 sind mit der frühen Krippenbetreuung massiv überfordert aus entwicklungspsychologischen Gründen. Es gibt keine Nachweise für eine frühe Bildung in dieser Zeit, sondern viele Studien, die Verhaltensauffälligkeiten bei diesen Kindern festgestellt haben. Würden erst die zwei bis dreijährigen in die Krippe kommen, wäre viel Personal frei für die Kinder, die in den Familien nicht so gut aufgehoben sind und für die älteren Kinder. Dann ginge es allen Kindern und allen Erzieherinnen besser. Es ist unverständlich, dass die geballte Ladung von wissenschaftlichen ExpertInnen dies nicht zur Kenntnis nimmt.
Selbstständigkeit durch eine sichere Bindung
Was macht die Digitalisierung mit unseren Kleinstkindern?
Trend in den deutschen Kitas wird uns in 20 Jahren zum Verhängnis, Jana Stäbener, Frankfurter Rundschau, 5.03.2025