Väter in die Pflicht - Zeichnung © Wiebke ChristophersonVor 60 Jahren maß der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott (1896-1971) der frühen Mutter-Kind-Beziehung eine hohe Bedeutung bei. Hat diese Erkenntnis auch heute noch die gleiche Gültigkeit? Die Väter spielten damals zwar eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Mütter in der frühen Phase der Mutter-Kind-Dyade; die konkrete Fürsorglichkeit der Väter wurde jedoch in den 1960-er Jahren noch nicht breit diskutiert.

Derzeit nimmt unsere Gesellschaft die Väter in die Pflicht, sich von Beginn an um das Neugeborene zu kümmern, damit die Mütter entlastet und die Bindung zum Kind zustande kommt. Doch wie kann das konkret geschehen, wenn es nach Donald Winnicott den Säugling eigentlich ohne die Mutter nicht gibt, die er auf elementare Weise braucht, um nicht zugrunde zu gehen? Kann er es vertragen, wenn die Kontinuität des guten Gehaltenwerdens durch die über die Schwangerschaft und das Stillen vertraute Mutter immer wieder unterbrochen wird?

Aus der Forschungsarbeit von Donald Winnicott:
Babys und ihre Mütter

Väter in der Pflicht-Wiege - Zeichnung © Wiebke ChristophersonDonald Winnicott befasste sich mit der frühen Zeit der absoluten Abhängigkeit des Babys von seiner Mutter. Er konzentrierte sich als einer der ersten auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung und erweitere mit seinen Forschungen die psychoanalytische Theorieentwicklung und gab wertvolle Impulse für die Praxis. Seine Erkenntnisse vermittelte er in Form von Vorträgen an Kinderärzte, Allgemeinärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Lehrern an Krankenpflegeschulen und Eltern sowohl in England als auch bei internationalen Tagungen in der Zeit zwischen 1950 und 1970 weiter. [1]

Das abhängige Baby verbunden mit seiner „hinreichend fürsorglichen Mutter“

Der Name Donald Winnicott ist in der Fachwelt mit dem Begriff der „hinreichend fürsorglichen Mutter“ verbunden. Damaligen Kritikern entgegnete er, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als den positiven Wert des Faktors der hinreichenden Fürsorglichkeit anzuerkennen. Es ist das für jedes Baby lebensnotwendige Erfordernis, dass jemand die frühesten Stadien des psychosomatischen Wachstums der im höchsten Grade unreifen und in jeder Hinsicht abhängigen menschlichen Persönlichkeit fördert. Ein zentraler Begriff, mit der er das Wesentliche dieser Förderung benannte, ist das Halten des Babys im physiologischen und psychologischen Sinne.

Intuitives mütterliches Wissen

Mit dem Vortrag „Wissen und Lernen“ aus dem Jahr 1950 richtete sich Donald Winnicott direkt an Mütter, um ihnen deutlich zu machen, dass ihr mütterliches Wissen, welches ihnen von Natur aus zuwächst, weit mehr ist als durch Lernen angeeignetes Wissen. Kann sich die Mutter auf ihren Mann verlassen und wirklich Mutter sein und wenn sie ihr Kind hält, so tut sie das ganz natürlich ohne darüber nachzudenken. Da sollten keine Fachleute störend hineinreden.

Mütter sind Spezialistinnen auf dem Gebiet der Pflege und Betreuung; sie sind von der Natur mit dem Wissen ausgestattet und sollten sich dieser Fähigkeiten bewusst sein, um gedankenlosen Leuten, die ihnen sagen wollen, wie sie etwas tun sollen, widersprechen zu können.

Stillen als Kommunikation

Väter in die Pflicht-Stillen - Zeichnung © Wiebke ChristophersonBeim Vortrag „Stillen als Kommunikation“ aus dem Jahr 1968 versicherte er gleich zu Beginn, dass es ihm nicht darum geht, das Stillen zu propagieren, denn auch mit der Flaschennahrung kann der Säugling eine enge physische Nähe zur Mutter erfahren. Doch Stillen ist wiederum eine natürliche Sache, die nicht ohne Not aufgegeben werden sollte. Das Stillen gehört in den größeren Zusammenhang mit der guten mütterlichen Fürsorge und Zuwendung, die sich im Halten des Kindes und der Art, wie mit dem Kind umgegangen wird, zeigt. Diese Indikatoren der Versorgung seien wichtiger als das tatsächliche Gestilltwerden.

Das Neugeborene und seine Mutter

Mit dem Vortrag „Das Neugeborene und seine Mutter“ aus dem Jahr 1964 vermittelte Donald Winnicott Kinderärzten sehr eindringlich, was er unter ‚primärer Mütterlichkeit‘ versteht. Er zeigte auf, welche komplizierten Prozesse zwischen der Mutter (als differenzierte Person) und dem Baby (als das Gegenteil von differenziert) ablaufen. Es ist der Vorgang, wo die Psychologie aus der Physiologie herauswächst, indem die Mutter eine erstaunliche Fähigkeit zur Identifizierung mit dem Baby entwickelt, so dass sie dessen existenzielle Bedürfnisse befriedigen kann.

Ein Kind, das in befriedigender Weise gehalten wird, ist etwas entschieden anderes als eines, dem diese Erfahrung versagt bleibt.

Er illustrierte dies an verschiedenen Beispielen aus seiner psychoanalytischen Praxis; wohl wissend, dass er seine Zuhörer von der Dramatik des fehlenden Gehaltenseins nicht gut überzeugen konnte. Trotzdem sah er keinen anderen Weg, als Kinderärzte, Neurologen und Psychologen über Babys und ihre Mütter zu belehren.

Die Anfänge des Individuums

Der Vortrag über „Die Anfänge des Individuums“ aus dem Jahr 1966 beschäftigte sich mit der aus der gesellschaftlichen Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch resultierenden Frage, wann der Beginn des individuellen Lebens ist. Die physischen und psychischen Phänomene, die die Entstehung des Individuums aufzeigen, beschrieb Donald Winnicott beginnend mit den Gedanken an das Kind, über die Kindsbewegungen und die Geburt, bis hin zur Erkenntnis, dass es – eine vom Kind aus gesehene – äußere Welt gibt. Das ist ein ganz bestimmter Augenblick im Leben eines jeden Kindes, indem es seine individuelle Existenz begriffen hat.

Das Baby und seine Umwelt

Väter in der Pflicht-Stillpause - Zeichnung © Wiebke ChristophersonIn diesem Vortrag „Das Baby und seine Umwelt“ ging es um die äußerst komplexe Theorie der emotionalen Entwicklung des Kindes. 1967 hielt Donald Winnicott ihn in der Pädiatrischen Abteilung der Royal Society of Medicine. Vor dessen kompetentem Fachpublikum, das sich eher mit den medizinischen Aspekten der Säuglingspflege beschäftigte, wies Donald Winnicott nachdrücklich auf die äußerst komplexe Theorie der emotionalen Entwicklung der individuellen menschlichen Person hin. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten der Mutter, sich auf die Bedürfnisse des neuen Wesens einzustellen. Doch diese Fähigkeiten kommen ihr aus einer tieferen Ebene zu; nicht aus jener Schicht des Geistes, die Worte für alles hat. Das Wichtigste, was eine Mutter mit ihrem Baby tut, lässt sich nicht in Worten wiedergeben. Die fürsorgliche Beschäftigung mit dem kleinen Kind beschreibt Donald Winnicott zu Beginn als Halten im physischen Sinne, das die gute oder schlechte psychische Versorgung ausmacht.

Gutes Halten fördert die Reifungsprozesse, schlechtes Halten unterbricht diese Prozesse aufgrund der Reaktionen des Babys auf die mangelnde Anpassung seiner Umgebung an seine Bedürfnisse.

Erst wenn das Kind älter ist, kann es Frustrationen ertragen und verarbeiten. Zum guten Halten gehört auch die zwischenmenschliche Beziehung, die z. B. beim Füttern des Babys entsteht. Es ist der Anfang der Hinwendung des Kindes zum Objekt und zur Welterkundung.

Beitrag der Psychoanalyse zur Geburtshilfe

Für Donald Winnicott trägt die Psychoanalyse zur Klärung aller möglichen Phänomene bei, wie etwa der wiederholten Fehlgeburt, des morgendlichen Übelseins, der primären Wehenschwäche, die auch durch Konflikte im unbewussten Gefühlsleben der Patientin verursacht worden sein können. Doch in erster Linie ging es ihm um die Beziehung zwischen Arzt, Schwester und Patientin und um seine Forderung an die Fachleute, die natürlichen Prozesse der Geburt zu respektieren und zu fördern. Er hob auch die förderliche Rolle des Vaters hervor, die dieser hatte, bevor der Arzt und der Wohlfahrtsstaat diese Funktion übernahmen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass Ärzte, Hebammen und Krankenschwestern um die natürlichen Prozesse der Geburt und um die allerfrühesten Beziehungen zwischen Mutter und Kind wissen. Die Psychoanalyse sorgt dafür, dass die Betroffenen einander besser verstehen und den individuellen Rechten mehr Platz eingeräumt wird.

Die totale Abhängigkeit des Babys

Väter in die Pflicht-Schlaf - Zeichnung © Wiebke ChristophersonAuch wenn niemand die totale Abhängigkeit des Babys in Zweifel zieht, resümiert Donald Winnicott, muss beachtet werden, dass die ständigen Erfahrungen, die Kinder in dieser frühen Phase machen, sich im Gedächtnis summieren und ihnen entweder Vertrauen in die Welt einflößen oder das Gefühl vermitteln, wie ein Korken im Meer zu treiben und ein Spielball der Umstände zu sein. Das Gefühl der Vorhersagbarkeit hat mit der Anpassung der Mutter an die Bedürfnisse des Kindes zu tun und wenn ihr dies nicht gelingt, ist jemand verfügbar (Vater oder Großeltern), der das kann. Die meisten Babys werden hinreichend gut versorgt und auf der Grundlage dieser Erfahrung kann das Kind allmählich auf die Forderungen eingehen, wie sie die Mutter und die Umgebung dem Kind gegenüber erheben müssen. Hinter den Bedürfnissen eines Babys verbirgt sich jedoch sehr viel; kann die Umwelt nicht darauf eingehen, wird das Kind von Angstgefühlen überflutet. Im schlimmsten Fall führt das zur Verzerrung seiner Persönlichkeitsentwicklung. Das lässt sich verhindern, wenn die Abhängigkeit des Kindes als Faktum anerkannt und von Menschen aufgefangen wird, die sich den Bedürfnissen des Babys vorbehaltlos anpassen, weil sie eine Verbundenheit mit ihm spüren, die am besten als Liebe bezeichnet werden kann.

Aus der absoluten Abhängigkeit zur Unabhängigkeit

Der letzte Vortrag aus dem Jahr 1968 fasste noch einmal die mütterliche Funktion der „hinreichend guten Versorgung“ zusammen, die es dem Kind ermöglicht, aus der absoluten Abhängigkeit über die relative Anhänglichkeit zur Unabhängigkeit zu gelangen. Dieser Prozess zeigt sich darin, dass „das Baby zu Beginn noch nicht zwischen Nicht-Ich und Ich differenziert, so dass im speziellen Kontext der frühen Beziehungen das Verhalten der Umgebung ebenso sehr Teil des Babys ist wie sein Verhalten, das aus den Bestrebungen des Babys nach Integration und Autonomie erwächst sowie aus dem Streben nach Objektbeziehungen und danach, zu einer befriedigenden psychosomatischen Partnerschaft zu gelangen.“ [1, S. 98]. In dieser frühen Phase der wechselseitigen Kommunikation zwischen Kind und Mutter legt diese die Grundlagen für die zukünftige geistig-psychische Gesundheit. Doch jede Verzerrung des frühkindlichen Entwicklungsprozesses ist von unvorstellbaren Ängsten begleitet: Desintegration, unaufhaltsames Fallen, Misslingen von Objektbeziehungen. „Wenn wir geistig-psychische Störungen behandeln, begegnen wir zwangsläufig den Einzelheiten des frühen Versagens“ [1, S. 111].

So muss immer wieder für Kontinuität gesorgt werden, die in sich die Vorstellung davonträgt, dass nichts, was einmal zur Erfahrung des Individuums gehörte, jemals verloren gehen kann, selbst wenn es dem Bewusstsein des Individuums nicht zugänglich ist.

Persönliche Schlussgedanken

Auch wenn das Kind im ersten halben Jahr offen für jedwede Betreuungsperson ist, wirkt das gute Gehaltenwerden in dieser Zeit als Grundlage für die aktiven Bindungsbemühungen des Kindes in den folgenden Monaten. Diese sind auf die Person bezogen, die das Kind gut gehalten hat. Wenn dies die vertraute Mutter ist, hat der Vater in der Folge wenig Chancen, das Kind in gleichem Maße mit zu versorgen. Das trifft besonders auf die eher sensiblen, ängstlichen Kinder zu, die stärker auf die Mutter bezogen sind.

Es ist unstrittig, dass die begleitende Fürsorge des Vaters die Bindung zum Kind fördert, indem er in stressvollen Situationen die Gefühle des Kindes wie Angst, Wut und Hunger feinfühlig wahrnimmt und „stillt“. Zärtliches Wiegen im Körperkontakt, Streicheln, Worte und Blickkontakt können dem Kind helfen, sich zu beruhigen. Im zweiten Lebensjahr erleichtern das väterliche Spiel und der gemeinsame Spaß die Ablösung des Kindes aus der dyadischen Beziehung zur Mutter.

In der Regel entwickelt der Säugling jedoch über die Zeit bis zum Ende des ersten Lebensjahres und noch mehr im zweiten Lebensjahr eine Art „Hierarchie“. Dies bedeutet, dass er bei der Auswahl zwischen mehreren sicheren Bindungsbeziehungen in der Regel eine Person bei absolut größtem Stress für seine Beruhigung favorisieren wird [2]. Das ist erfahrungsgemäß meistens die Mutter.

von Erika Butzmann

Quellenangabe

[1] Babys und ihre Mütter, Donald Woods Winnicott, Psychosozial Verlag

[2] Karl Hein Brisch in Pädiatrie 2023, Jg. 35, Nr.51

Links zum Thema

Schwangerschaft und Geburt: „Die Veränderungen im Gehirn sind gravierend“, Erika Barba-Müller, Neurowissenschaftlerin, im Gespräch mit Wenke Husmann, ZEITmagazin Online, 2023

Bindungshierarchie: Am Anfang ist die Mutter – und was dann?

Zeitstrahl „So wächst Bindung“