Das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz vom 31. Dezember 2006 animiert Eltern, ihr Kind frühzeitig mit 12 oder 14 Monaten in die Krippe zu geben. Dabei kommen 14 Monate zum Tragen, wenn die Väter zwei Monate Erziehungsurlaub nehmen. Abgesehen von der gesamten Problematik mit der zu frühen Krippenbetreuung geht die Regelung, dass der Vater für zwei Monate die Betreuung übernimmt, an den Bindungsbedürfnissen der Kinder vorbei. Warum ist das so?
Bindungshierarchie
Das Kind bindet sich an die Person, die von Anfang an für das Kind umfassend da ist. Das ist in der Regel die Mutter. In ihr wächst das Kind heran und nach der Geburt empfindet es sich als eine Einheit mit der Mutter.
Von der Mutter … zum Vater
Wenn die Mutter nicht zur Verfügung steht, bindet sich das Kind an die Person, die verlässlich und dauerhaft auf seine Bedürfnisse eingehen kann. In beiden Fällen handelt es sich um die primäre Bindungsperson, die an der Spitze der Bindungshierarchie steht.
Betrachtet man nun die Bindungsentwicklung vom Kind aus, zeigt sich die Bedeutung der Mutter als primäre Bindungsperson, die über die ersten 18 – 24 Monate für das Kind unverzichtbar ist. Die Bindung an den Vater entwickelt sich parallel dazu und bekommt ab dem Alter von 18 – 24 Monaten die besondere Bedeutung, da er über sein Spiel- und Spaßverhalten die erkenntnismäßige Ablösung des Kindes von der Mutter unterstützt. Diese Bindungsentwicklung zeigt sich im Einzelnen folgendermaßen:
In den ersten sechs Monaten hat das Kind noch kein Gefühl für sich als eigenständige Person; es empfindet die Mutter als Teil von sich selbst. In dem Maße, wie es sich von der Mutter wegbewegen kann, ahnt es in ersten Ansätzen, dass diese Einheit sich auflöst.
Das hat unterschiedliches Verhalten zur Folge:
Kinder mit einem eher ängstlichen Temperament (das angeboren bzw. vererbt ist) kehren sofort zur Mutter zurück, um Sicherheit und Geborgenheit zu erlangen. Diese Kinder klammern sich an der Mutter an. Klammerverhalten ist Bindungsverhalten. Ist die Mutter nicht greifbar, wird das Kind von biologisch gesteuerten Trennungs- und Verlassenheitsängsten überflutet. Es fühlt sich allein und verlassen, auch wenn andere Personen für die Betreuung vorhanden sind. Oft kann auch der Vater das Kind in dieser Zeit nicht trösten. Diese Ängste zeigen sich in anhaltendem Weinen und Schreien.
Kinder mit einem weniger ängstlichen Temperament werden stärker von den Gegenständen angezogen, so dass sie unbefangener ihre Umwelt erkunden. Der biologische Erkundungsantrieb steuert ihr Verhalten. Sie merken nur bei Missgeschicken, Müdigkeit oder Krankheit, dass ihnen die Mutter (der andere Teil von sich selbst) fehlt, diese wird dann umso dringender gesucht. Ist sie vorhanden und kümmert sich um das Kind, stabilisiert sich die im Aufbau befindliche Bindung.
Das Kind hat noch keine Erinnerungsbilder
Die Hauptursache für die Suche nach der Mutter ist das noch fehlende Vorstellungsgedächtnis; ist die Mutter nicht im Raum, ist sie für das Kind weg aus seiner Welt. Es hat noch keine Erinnerungsbilder an die Mutter und den Vater im Kopf. Deshalb empfindet das Kind die beschriebenen Trennungs- und Verlassenheitsängste.
Das Vorstellungsgedächtnis entwickelt sich langsam über das Erkennen von Anzeichen (die Tür geht auf, das Kind erwartet dann, jemanden zu sehen), über das Wiedererkennungsgedächtnis (die Mutter wird wiedererkannt, wenn sie erneut auftaucht) zum Vorstellungsgedächtnis.
Mit ca. zwei Jahren kann das Kind sich an die Mutter und andere Personen erinnern, wenn diese aktuell nicht anwesend sind.
Ich bin da!
Mit der Ausbildung des Vorstellungsgedächtnisses (= innere Bilder = Symbolfähigkeit = Personenpermanenz) erkennt das Kind sich selbst als eine von der Mutter und allem anderen getrennte Person. Dann sagt es „ich“ zu sich selbst und will nun bewusst die Welt entdecken!
Während dieser Zeit bindet sich das Kind zusätzlich an Geschwister und weitere ständig anwesende Familienmitglieder wie etwa Großeltern, wenn es sich sicher genug dafür fühlt. Im Notfall sucht es jedoch während dieser ersten 18 bis 24 Monate immer die Mutter bzw. die primäre Bindungsperson. Ist sie anwesend, festigt sich die Bindung.
Die Loslösung aus dem Einssein mit der Mutter zum selbständigen Wesen und zum „ich“ als eigenständige Person geschieht allmählich individuell und auf natürliche Weise, sofern wir dem Kind die Zeit und Sicherheit für die so wichtige Phase der Bindungsentwicklung geben. Auf dieser Grundlage entwickeln sich stabile, selbstbewusste und prosoziale Persönlichkeiten.
Die Bindungssuche geht immer vom Kind aus …
Die beschriebene Bindungshierarchie ist im Normalfall zutreffend. Da jedoch die Bindungssuche immer vom Kind ausgeht, kann die Abfolge anders verlaufen. In Einzelfällen sucht das Kind die Nähe zum Vater, wenn die Mutter nicht ausreichend zur Verfügung steht oder das Kind vom Temperament her dem Vater sehr ähnlich ist.
Auch innerhalb der erweiterten Familie sucht sich das Kind seine bevorzugten sekundären Bindungspersonen selbst aus.
Ist die erweiterte Familie nicht vorhanden, können heutzutage auch Freunde der Familie das sprichwörtliche Dorf darstellen, das ein Kind braucht, um erzogen zu werden. Das gleiche gilt für Erzieher:innen im Kindergarten und später für Lehrer:innen in der Schule.
… auch in der Fremde
In den ersten zwei Jahren während der Hauptbindungsphase an die Mutter/ den Vater werden fremde Betreuungspersonen nur dann als sekundäre Bindungspersonen akzeptiert, wenn das Kind sich von den Eltern verlassen fühlt. Es hat dann gar keine andere Möglichkeit, sein biologisch gesteuertes Bindungsbedürfnis zu befriedigen. Wenn die Bindung an die Eltern nicht gefestigt ist oder gar nicht zustande kam, suchen sich die Kinder in diesen ersten zwei Jahren aktiv eine Ersatz-Bindungsperson, die im Falle der frühen und langzeitigen Fremdbetreuung zur primären Bindungsperson werden kann.
Problematisch wird es für das Kind, wenn diese Bindungsperson nicht kontinuierlich zur Verfügung steht wie etwa bei einem häufigen Wechsel in der Betreuung. Es wird in seiner Entwicklung gestört und es hinterlässt Spuren eines traumatischen Bindungsabbruchs, besonders wenn das Kind mit 3 Jahren in den Kindergarten gehen muss. In der Psychologie spricht man bei nicht zustande gekommener Bindung an die Eltern von Kindern mit Orientierungslosigkeit. Instinktiv sucht das Kind Halt und Ordnung und bindet sich an einen ihn umgebenden Erwachsenen. Dabei kann das kleine Kind noch nicht beurteilen, ob diese Person dafür geeignet ist.
Gelingt keine Bindung an einen Erwachsenen, sucht sich das Kind innerhalb der Gruppe einen Spielkameraden aus, von dem es dann abhängig wird. Das bedeutet, es fühlt sich in der Kita nur wohl, wenn dieses Kind da ist.
In solchen Fällen und besonders bei einer sogenannten desorientierten Bindungsstörung aufgrund von Gewalterfahrung in der Familie suchen Menschen ihr Leben lang nach einer „wiedergutmachenden Bindung“.
von Erika Butzmann
Links zum Thema
Gesetz zur Einführung des Elterngeldes, vom 5. Dezember 2006, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2006 Teil I Nr. 56, ausgegeben zu Bonn am 11. Dezember 2006, Bundesanzeiger Verlag
Partnermonate beim Elterngeld, Wer hat Anspruch auf die Partnermonate? kindergeld.info, Webseite gesichtet 26.7.2020
Krippenstart – Tränen und Stress, Dr. Erika Butzmann und Prof. Dr. Eva Rass
Bindungssicherheit und Autonomieentwicklung, Gisela Geist, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin
Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit, Ursula Henzinger, Psychosozial-Verlag
Was brauchen Kinder wirklich?, 3 Sat, 16.7.2014