Gedanken und Wünsche einer Mutter zur Einschulung ihrer Tochter:
„In diesem Sommer wird für Dich und Deine Freunde – nach alter Redensart – „der Ernst des Lebens“ beginnen. So jedenfalls drückte sich vor einigen Tagen auch die Mutter eines Kindergartenfreundes von Dir aus… Doch worum handelt es sich bei diesem „Ernst“, von dem – in Bezug auf Schule – da die Rede ist? Ist es „Ernst“ im Sinne von:
♦ den Menschen und seine Bedürfnisse ‚ernst nehmen‘
♦ ‚ernsthafter‘ aufrichtiger Bezogenheit in einem von Gleichwertigkeit geprägten Miteinander
♦ ‚ernsthafter‘, lebensechter, natürlicher Lernsituation und Lernmethode
♦ ‚ernsthafter‘ Auseinandersetzung mit dem Humanitätsideal?!
Die dann von mir nachgeschlagene Erläuterung zu dieser Redensart lautet: „Der harte Alltag; die unangenehmen/ schwierigen/ problematischen/ harten/ dornigen Seiten des Lebens.“
In Grimms Deutschem Wörterbuch steht zu „Ernst“: „Ernst bezeichnet immer das wirklich Gemeinte, Wahre, Feste und Eifrige, den Gegensatz von Scherz und Spaß. In diesem Sinne wird häufig die sorglose Kinderzeit dem Ernst des Lebens der Erwachsenenwelt gegenübergestellt.“
Wenn ich Synonyme für „Ernst“ suche, stoße ich auf die Begriffe, wie ‚Traurigkeit‘, ‚Trübsinn‘, ‚Ernstlichkeit‘, ‚Nachdruck‘, ‚Gewicht‘, ‚Nachdrücklichkeit‘, ‚Zucht‘, ‚Heftigkeit‘.
Ein Plädoyer für eine Schulzeit, die nicht nur „auf das Leben vorbereitet“, sondern lebenswert ist…
Schule oder den Schulalltag diesen Begrifflichkeiten in Verbindung zu bringen oder demgemäß zu verstehen kann doch nicht ‚unser Ernst‘ sein? Wenn ich diese Zeilen lese, fröstelt es mich und ich spüre das Bedürfnis in mir aufkommen, Dich zu beschützen, zu klagen und Dir und allen Kindern meine Stimme zu leihen und zu kämpfen.
Sind die Jahre Deiner Schulzeit nicht kostbare Lebenszeit – wie kann ich wollen, dass Du diese, Deine Lebenszeit einer Zukunft opferst, die wir heute noch nicht kennen können? „Zukunftsfähigkeit kommt aus unserer Geschichte und wird in unserer Gegenwart gewonnen – oder verloren“, sagte einst Johannes Beck. Bedeutet das nicht, dass es unsere Aufgabe ist, Gegenwart so zu gestalten, dass sie unmittelbar `lebenswert´ und ‚lebensfördernd‘ ist. Und ist das dann nicht gleichsam die dienlichste Vorbereitung auf das ungewisse und überraschende Zukünftige?
Es bleibt mir zu hoffen, dass die Menschen, die Du in deiner Schule antriffst, ein anderes, ein tieferes Verständnis von Kindheit und Bildung haben werden. Zu hoffen, dass Du werden kannst, der Du bist und nicht denen gleichgemacht werden sollst, die Dich erziehen und (aus-)bilden.
Jedem seine eigene Welt
Ich hoffe für Dich, dass Dir Vernunft und ein freier Wille zuerkannt werden und du nie deine Fähigkeit zum Ungehorsam verlierst und Dich nicht für fremde Zwecke manipulieren lässt. Ich wünsche Dir stets den Mut zum „Anders sein als die Welt“ (A. Schweitzer) und dass Deine kindliche Unbekümmertheit, die Wahrheit auszusprechen (während Erwachsene sich diesbezüglich meist keine Blöße geben wollen) geschätzt werden kann.
„Wir tragen alle eine Welt von Dingen in uns; jeder seine eigene Welt! Doch wie sollen wir einander verstehen, Herr Direktor, wenn ich in die Worte, die ich spreche, den Sinn und die Bedeutung der Dinge lege, die in mir sind, während jener, der sie hört, sie unweigerlich mit dem Sinn und der Bedeutung auffasst, die sie in seiner inneren Welt haben. Wir glauben einander zu verstehen, doch wir verstehen uns nie!“ (aus „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello)
Ich hoffe bei den Menschen, auf die Du treffen wirst, auf die Fähigkeit des Staunens, Wunderns und Liebens, der Lebendigkeit, der Offenheit, des Interesses, der Neugier, der Wertschätzung, des Mutes, auf die Fähigkeit zum Hinhören und Hinsehen – kurz auf eine Ausrichtung auf das SEIN (wie Erich Fromm es nennt) – damit Du sie Dir bewahren und weiter entwickeln kannst…
Deine Lehrer mögen Dich aufmerksam, mitfühlend, in Bezogenheit und Gleichwertigkeit wahrnehmen, dass sie aus sich selbst heraus eine Autorität für Dich darstellen. Sie mögen sich darin verstehen, natürliche Lernmöglichkeiten aufzugreifen und eine `freie´ und förderliche Lernumgebung zu gestalten.
Der freie Ausdruck ist ein Grundrecht
Ich wünsche Dir, mein Kind, dass Du im Rahmen Deiner Talente schöpferisch tätig sein kannst. Der freie Ausdruck ist ein Grundrecht, das allen Individuen zuerkannt werden muss und deshalb Hauptaufgabe von Unterricht und Schule sein sollte. Wie kann ich wollen, dass der Ausdruck Deiner Gedanken und Gefühle durch normative Vorgaben zur Form eingeschränkt und anschließend dann einer gängigen Bewertung ausgesetzt wird? Wie oft habe ich diesbezüglich in meinem eigenen Schulalltag als Kind und später als Lehrerin entrüstete und verzweifelte Gesichter miterlebt…
Deshalb wünsche ich Dir Menschen, die Dich in deiner Autonomieentwicklung* zu unterstützen wissen, die ein Gespür dafür haben, wie Bezogenheit und Kooperation hergestellt werden können – im Gegensatz zu einer Atmosphäre der Konkurrenz.
Außerdem wünsche ich Dir neben einem Rahmen zur Orientierung, dass Dir Raum gegeben wird, das Wort zu ergreifen, um Deine eigenen Erfahrungen machen und diese dann anderen auch vermitteln zu können. Mögest Du die Gelegenheit zur Konfrontation mit entgegengesetzten Lebensbedürfnisse haben, um dadurch eigenes Denken auszulösen.
Darum wünsche ich Dir, dass es in Deiner Schule um viel mehr gehen wird, als Kindern vorgegebene `Werte´ beizubringen – um das bloße „Hören von der Weisheit Lehren“, wie Wilhelm Busch es in `Max und Moritz´ treffend charakterisiert hat. Vielmehr mögest Du lernen Handlungsalternativen zu diskutieren, deren mögliche Folgen zu reflektieren und zu bewerten. Du sollst immer wieder die Möglichkeit bekommen, Betroffenheit, Anteilnahme, Verbundenheit zu erfahren. Denn nur in natürlichen Lernsituationen entwickelt sich in der unmittelbaren, lebens- und erlebensnahen Begegnung mit anderem Leben Mitgefühl und Achtung vor dem Leben. Ich wünsche Dir, dass es bei dem, was du lernst, nicht um Verwertbarkeit und Effektivität geht, dass Bildung nicht zur ‚Ware‘ wird.
Zutrauen und Vertrauen
Ich hoffe, dass Du auch in deiner Schulzeit die Möglichkeit hast, Dir der eigenen Verantwortung bewusst zu werden und diese zu übernehmen. Das kann nur gelingen, wenn dir Verantwortung von Anfang an (zumindest partiell) zugestanden wird. Denn nur so ist eine Einübung von Verantwortung für das eigene Tun und anschließend eine Ausweitung auf die Welt möglich.
Das tragende Fundament dafür ist das Vertrauen – Vertrauen in den Menschen, in Dich! Ich will mich bemühen, dieses Vertrauen auch den Menschen gegenüber aufzubringen, auf die Du in deiner Schule treffen wirst, auch wenn ich weiß, dass der Schulalltag oft und in vielen Punkten weit weg von alle dem ist, was ich Dir so sehr wünsche…
Hoffentlich triffst Du auf Menschen, die diesen Vorschuss an Vertrauen als etwas Selbstverständliches, Unentbehrliches ansehen, die präsent sind und als Vorbild dienen – vor allem in ihrer Art zu leben. Lehrer, die zumeist geduldig, sanftmütig und tolerant auf Dich eingehen können, Dir Zeit lassen – Zeit für ‚Besinnung‘ – und die Konflikten nicht ausweichen, sondern Stellung beziehen. Ich wünsche Dir Menschen, die das Denken, die ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ und ihre ‚Liebe zum Lebendigen‘ nie aufgegeben haben und es verstehen, den ‚Funken‘ in Dir zu entzünden.
Deinem Vater, mir und allen, die Dir nahe stehen, wünsche ich die Kraft, dich feinfühlig zu stützen, zu stärken und das aufzufangen, was Dein Wachstum und Deine Lebendigkeit mindert oder verhindert.
Von ganzem Herzen wünsche ich Dir schließlich, dass diese Art von ‚Ernst‘ – wie sie heute in Bezug auf Schule oft verstanden wird – Dich in Deinem Leben nie erfassen wird. Oder um es sinngemäß mit Albert Schweitzer zu sagen: „Ich wünsche Dir so sehr, dass Du in Deine Ideale hineinwachsen kannst, dass das Leben sie Dir nicht nehmen kann.“
von Anke Raidt