Stillen mehr als Chefsache - Foto © Thierry MariusInterview mit Regine Gresens, Autorin des Buchs: Intuitives Stillen

fürKinder: Auf Ihrer Internetseite beschreiben Sie die Startschwierigkeiten, die Sie mit Ihrem Sohn hatten und sagen darin: Nicht die Schwangerschaft oder die Geburt, sondern das Stillen hat mich zu seiner Mutter gemacht. Können Sie dies näher umschreiben?

Regine Gresens:
Das Stillen war von Anfang an ein ganz wichtiger Teil meiner Beziehung mit meinem Sohn. Ich habe bei jedem Stillen unmittelbar gemerkt, wie gut es ihm tut. Vor allem merkte ich aber auch, dass ich ihm an der Brust nicht nur die optimale Nahrung mit allen wichtigen Inhaltsstoffen gegeben habe, sondern auch seine emotionalen Bedürfnisse nach Körperkontakt, Ruhe, Sicherheit, Trost und vielem mehr erfüllen konnte. Durch das Stillen haben wir einander immer besser kennengelernt und sind mit der Zeit ein gut eingespieltes Team geworden. Das hat mich stolz und sicher gemacht und eben stärker als die Schwangerschaft und die Geburt zu meinem Muttergefühl beigetragen.

Ammenmärchen stehen einem guten Stillstart im Wege

fürKinder: Mythen und Ammenmärchen begegnen Familien immer wieder. Sie empfehlen bereits in der Schwangerschaft diese aufzuspüren und gleichzeitig sprechen Sie von intuitivem Handeln. Ist die Verwirrung am Ende der Recherche und somit vor dem Stillbeginn nicht noch größer?

Regine Gresens:
Nein, das sehe ich nicht so. Ich denke, eine gute Vorbereitung auf das Stillen vor der Geburt ist heutzutage wichtig, um nach der Geburt intuitiv handeln zu können. Es ist wichtig, dass Mütter wissen, was normal und natürlich ist. Daraus erwächst dann Vertrauen in ihren Körper, ihre Intuition und in ihr Baby. Dazu müssen sie wissen, wo mögliche Fallstricke liegen, wie man es in vielen Mythen und Ammenmärchen hört, damit sie davon nicht so leicht verunsichert und von ihrer Intuition abgebracht werden können. Denn junge Eltern bekommen heute nach der Geburt eines Babys von vielen Seiten sehr viele, teils widersprüchliche Ratschläge. Wer sich nicht vorher schon gut informiert hat oder gute Vorbilder hat, kann davon extrem verunsichert werden. Die erste Zeit mit einem Baby ist ohnehin schon eine Lebensphase, die sehr aufwühlend ist und in der meist kaum Zeit zum Recherchieren und Informieren bleibt. Deshalb rate ich dazu, dies schon vor der Geburt zu tun.

Stillen ist Teamarbeit: Mutter und Kind – beide stillen

fürKinder: Sie sprechen vom beiderseitigen aktiven Stillen. Warum ist Ihnen dieser Perspektivwechsel wichtig?

Regine Gresens:
Stillen ist nicht etwas, was nur die Mutter mit ihrem Baby „macht“, sondern es ist eine Paaraktivität, an der auch das Kind bis zum Schluss aktiv beteiligt ist. Menschliche Neugeborene sind, wie alle neugeborenen Säugetiere, auf Überleben programmiert und bringen, ebenso wie diese, angeborene Reflexe mit, die ihr Überleben sichern. Dazu gehören natürlich auch bei Hunger Reflexe, die das aktive Suchen nach der Brust, das selbständige Andocken sowie das Saugen, Schlucken usw. sicherstellen.

Allerdings kann das Neugeborene seine Reflexe nur dann erfolgreich einsetzen, wenn es bäuchlings auf dem Bauch der Mutter liegt. Dann kommt es tatsächlich vor, dass das Kind die Brust findet und anfängt daran zu trinken, ohne dass die Mutter viel dazu beitragen musste. Das zu wissen und vor allem auch zu beachten, kann viele der verbreiteten frühen Stillschwierigkeiten, wie z.B. schmerzende Brustwarzen oder vermeintliche Brustverweigerung des Babys, vermeiden oder zumindest deutlich reduzieren. Außerdem ist es natürlich auch für die Mutter sehr entlastend, wenn sie weiß, dass sie nicht allein für das gute Andocken* sorgen muss und dass sie ihrem Kind das Stillen nicht erst beibringen muss, obwohl sie es selber ja auch noch nie vorher getan hat.

*Der Begriff „Andocken“ wird für das Erfassen der Brust verwendet, Anmerkung der Redaktion

Von der Abhängigkeit über die Anhänglichkeit in die Selbständigkeit

Stillen - Foto © Thierry MariusfürKinder: Aus der Bindungswissenschaft ist bekannt, dass der Weg der Kinder in die Selbstständigkeit aus der anfänglich bestehenden Abhängigkeit von der Mutter über die Anhänglichkeit im zweiten Lebensjahr verläuft. Inwieweit kann das aktive Stillen des Kindes helfen, diesen Weg in die Selbständigkeit optimal zu meistern?


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ein „Fotoreporter der Intimität“


Regine Gresens: Bei älteren Stillkindern tritt die emotionale Bedeutung des Stillens immer mehr hervor, während die nutritiven und immunologischen Funktionen zwar weiterbestehen, aber im Verhältnis mehr und mehr an Bedeutung verlieren.
Der Weg in die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Kinder ist ein jahrelanger Prozess. Die Erfahrungen mit lang gestillten Kindern zeigen jedoch, dass diese kaum Probleme haben, sich im zweiten Lebensjahr immer mehr von der Mutter zu lösen. Obwohl sie noch viele Jahre von der Fürsorge durch ihre Eltern oder andere Bezugspersonen abhängig bleiben, wollen Kinder die Welt erkunden und sie erobern. Dies fällt ihnen umso leichter, je mehr ihre Bedürfnisse bis dahin erfüllt wurden und je stärkeres Urvertrauen sie entwickeln konnten.

Mit der Gewissheit jederzeit zur Mutter zurückkehren zu können, um sich Bestärkung und Sicherheit zu holen, werden sie ganz von selbst immer autonomer. Andererseits lernen sie auch, dass nicht alle ihre Wünsche immer sofort erfüllt werden können und eigene Bedürfnisse auch einmal aufgeschoben werden müssen, wenn die Mutter gerade nicht zum Stillen bereit ist. Bei einem natürlichen Abstillprozess, der normalerweise viele Monate dauert, wird einfach der Entwicklung des Kindes entsprechend immer seltener gestillt, bis auch seine emotionalen Bedürfnisse ausreichend gesättigt sind und es das Stillen nicht mehr braucht.

Empathie hilft beim Stillen

fürKinder: Sie schreiben, dass Frauen hormonell besser ausgestattet sind als Männer und sie deshalb in höherem Maße fähig sind, zu fühlen was andere fühlen. „Deshalb können Sie später intuitiv wissen, welches körperliche Bedürfnis ihr Baby gerade hat.“ Wie passt die Idee vom intuitiven Stillen in die Welt heutiger Familien**, die die familiären Bedürfnisse mit den Bedingungen der modernen Arbeitswelt vereinbaren müssen?

Regine Gresens:
Mädchen sind durch den Anstieg der Östrogene hormonell nicht besser, sondern anders ausgestattet als Jungen. Die Hirnareale, die Bauchgefühle und andere Körperempfindungen verarbeiten, sind daher bei Frauen größer und empfindlicher als bei Männern, so dass sie sich besser in die körperliche Situation anderer hineinversetzen können. Das erleichtert ihnen den intuitiven Umgang mit dem Baby. Aber es heißt nicht, dass Männer nicht auch intuitiv wissen können, was das Baby braucht.

Durch intuitives Stillen lassen sich die familiären Bedürfnisse durchaus mit den Bedingungen der modernen Arbeitswelt vereinbaren. Es gibt aus meiner Sicht gar kein Entweder-oder. Viele stillende Mütter berichten, dass sich die Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit wenige Monate nach der Geburt mit einer langen Stillzeit vereinbaren lässt. Gerade berufstätige Mütter und ihre Kinder genießen meist die Innigkeit und Nähe des Stillens nach der vorübergehenden, beruflich bedingten Trennung ganz besonders. Eine höhere Wertschätzung des Stillens und mehr Toleranz von Seiten der Arbeitgeber und Kollegen, etwa durch angemessene Still- oder Pumpräume in Betrieben und flexiblere Stillzeiten, würden es aber enorm erleichtern, den für die jeweilige Familie passenden Weg auch zu beschreiten.

Intuition kontra Information?

fürKinder: Heute entscheiden sich Eltern ganz bewusst für ein Kind. Sie haben hohe Ansprüche an sich selbst und hochgesteckte Ziele für das Kind. Ihre Erziehungskompetenz erlangen sie durch eine noch nie dagewesene Flut an Expertenwissen. Wenn Sie zurückblicken auf 25 Jahre Beratungsarbeit, welche Veränderung nehmen Sie wahr?

Regine Gresens:
Großfamilien gibt es heutzutage kaum noch, auch Ratschläge der eigenen Eltern oder Schwiegereltern sind nicht immer erwünscht oder wenig hilfreich, da sich die Einstellung zum Kind und die Ziele für das Kind heutiger Eltern oft nicht mit denen älterer Generationen decken. Stattdessen orientieren sich neue Eltern an Gleichgesinnten, die sie überwiegend in den sozialen Netzwerken oder auf Webseiten von Experten finden. Dies hat Vor- und Nachteile.

Eltern können heute ganz neue Impulse und Informationen bekommen, die in ihrem Umfeld so noch nicht vertreten sind. Wenn es gut läuft, finden sie die Anregungen und Anleitungen, die sie benötigen und werden darin bestärkt, dem zu folgen, was für sie funktioniert und sich richtig anfühlt. Im ungünstigen Fall werden sie durch die Fülle der Informationen und unterschiedlichen Meinungen immer unsicherer. Manche Eltern verlieren dabei die Orientierung, da es so viele Möglichkeiten gibt und sie eben nicht selbst entscheiden können, was davon denn nun stimmt und für sie das Richtige ist.

Früher war es zwar einfacher für Eltern, da sie nicht solch eine „Qual der Wahl“ hatten und sich mit ihren Ansprüchen an sich und ihren Zielen für das Kind nicht so viel Druck gemacht haben wie heute. Für die Kinder ist es aber vermutlich heute besser, wenn ihre Eltern sich besser informieren können und freier entscheiden, wie sie die Bedürfnisse ihres Kindes erfüllen möchten.

Stillen braucht gesellschaftliche Unterstützung

Stillen - Foto Silke © BrennerfürKinder: Was muß auf gesellschaftlicher Ebene passieren, damit ein Umdenken zum intuitivem Stillen stattfinden kann?


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Regine Gresens: Stillen muss wieder schlicht und einfach als normal angesehen werden. Die Mutter und das Baby müssen als Paar gesehen und behandelt werden – als zwei eng miteinander verbundene Partner eines Systems. Wir müssen vor allem wieder weg von einem „Stillen nach Zahlen“, das mit der Waage, der Uhr, einer App, Regeln, Vorschriften, Plänen usw. kontrolliert und gesteuert werden muss, hin zu mehr Freiheit und Flexibilität in der Stillbeziehung.

Damit dies möglich ist, sollten Schwangere und Mütter darin bestärkt und unterstützt werden, ihrem Körper, ihrer Intuition und ihrem Kind, aber auch ihrer Fähigkeit eine ausreichend gute Mutter zu sein, zu vertrauen. Am besten wäre es übrigens, wenn dies schon lange vor Eintritt einer Schwangerschaft, nämlich im Kindergarten und in der Schule beginnen würde. Dazu müssten Fachleute, wie etwa Hebammen, Ärzte, Erzieher, Lehrer, Psychologen, usw. geschult werden.

Darüber hinaus müssten aber auch die emotionalen Seiten des (langen) Stillens, wie z.B. Kommunikation, Trost, Sicherheit, Geborgenheit usw. als wichtige Aspekte der natürlichen Mutter-Kind-Beziehung gewürdigt werden. Den Vätern sollte die Angst genommen werden, keine enge Beziehung zu ihrem Kind aufbauen zu können, so lange es noch gestillt wird. In Wahrheit können sie ja mit dem Kind alles machen wie die Mutter, außer zu stillen.

Last but not least, ist es notwendig, dass Stillen in der Öffentlichkeit als völlig normal akzeptiert wird. Dazu müsste allerdings auch die Sexualisierung von Brüsten aufhören, die weibliche Brüste vor allem als Blickfang und Lustobjekt für Männer einsetzt und öffentliches Stillen daher anstößig findet.

Gute Stilllektüre – ohne kontraproduktive Wirtschaftslobby

fürKinder: Broschüren von Firmen, die Säuglingsnahrungen herstellen*, sind kostenfrei und Hebammen wie Sie erstellen diese Informationen. Warum empfehlen Sie jungen Eltern sich dennoch ein gutes Stillbuch zu kaufen und woran erkennen Eltern ein gutes Stillbuch?

Regine Gresens:
Säuglingsnahrungshersteller sind per se nicht daran interessiert, dass Mütter heute lange und erfolgreich stillen. Schließlich verdienen sie nur an den Babys, die nicht oder nur kurz gestillt werden. Der WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten verbietet den Firmen allerdings ihre Produkte in der Öffentlichkeit und vor allem bei Schwangeren und Mütter zu bewerben. Demzufolge versuchen sie potentielle Kundinnen über schön gestaltete und neutral wirkende Informationsmaterialien über das Stillen zu erreichen. Unterschwellig und für Laien nicht erkennbar wird hier jedoch das Stillen nicht unterstützt.

Aus diesem Grund empfehle ich Eltern nur ein einziges Stillbuch zu lesen. Zu viele oder auch zu ausführliche Bücher, die alle möglichen Problemsituationen enzyklopädisch behandeln, können meiner Erfahrung nach oft eher verunsichern und verwirren. Ein gutes Stillbuch erkennen Eltern zunächst daran, dass es nicht von der Säuglingsnahrungsindustrie verteilt wird, sondern nur über den Buchhandel bezogen werden kann. Die inhaltliche Qualität lässt sich nur an entsprechenden Rezensionen und Empfehlungen von Fachpersonen erkennen. Positive Lesermeinungen und Bewertungen von Gleichgesinnten sowie auch der „Blick ins Buch“ zeigen ihnen zudem, wie lesbar und tatsächlich hilfreich ein Stillbuch ist.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Unsere Interviewpartnerin: Regine Gresens

ist Hebamme und Still- und Laktationsberaterin IBCLC sowie Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Hamburg. Bis 2014 Beauftragte für Stillen & Ernährung des Deutschen Hebammenverbandes, bis 2015 Mitglied der Nationalen Stillkommission am Bundesinstitut für Risikoforschung. Autorin des Buchs: Intuitives Stillen zur Rezension erschienen im Kösel-Verlag