Geburtshilfe! Das planbare Kind © Cartoon 1 Bettina BexteFür werdende Eltern scheint sich das Rad der Zeit immer schneller zu drehen und dennoch gibt es Widersprüchlichkeiten, die sich bereits in der Geburtshilfe wiederfinden.

Traditionell war frau 9 Monate schwanger [Kalendermonate] – ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. Heute spricht man in der gynäkologisch-geburtshilflichen Zeitrechnung von 10 Schwangerschaftsmonaten [280 Tage]. Mit dieser exakten Berechnung kommen dennoch nur eine geringe Anzahl der Kinder [4 %] am errechneten Geburtstermin zur Welt, wenn man die geplanten Geburten und Wunschtermine nicht mit einbezieht. [1] Was ist los in der Geburtshilfe?

Kommen die Kinder nicht mehr von alleine?

Vorbereitung auf Mutterschaft

Selbstverständlich bereiten sich heute wohl nahezu alle Frauen auf die bevorstehende Geburt vor. Auch der werdende Vater weiß, was auf körperlicher und emotionaler Ebene passiert und unterstützt seine Frau. Bereits in der Schule erhalten Mädchen und Jungen erste Informationen über den Ablauf der Geburt, Möglichkeiten der Geburtsform und die Risiken.

Das war nicht immer so. Vor einem halben Jahrhundert gab es kaum Angebote für Schwangere, sich auf das Ereignis der Geburt vorzubereiten. Weder Geburtsvorbereitungskurse, Atem- oder Entspannungskurse noch Literatur standen den werdenden Müttern damals zur Verfügung. Frauen brauchten ein gutes Selbstvertrauen, um eine Geburt gut zu überstehen, schrieb Sheila Kitzinger 2003 in Schwangerschaft & Geburt: Das umfassende Handbuch für werdende Eltern.

Heute stehen jungen Familien medizinisch-technische Errungenschaften zur Verfügung. Mutter und Kind können jederzeit überwacht und behandelt werden. 1950 gab es 24.857 Totgeborene, 2020 waren es 3.162. Im Verhältnis zu den Gesamtgeburten in 2020 waren es 0,4 % Totgeburten laut Statistischem Bundesamt 2021. [Destatis]

Es kam anders als geplant

Nahezu alle Kinder erblicken heute – hierzulande – das Licht der Welt im Krankenhaus, obwohl eine Geburt in häuslicher Atmosphäre oder im Geburtshaus qualitativ ebenso sicher ist. [2] Und obwohl seit langem bekannt ist, dass Frauen im Krankenhaus häufiger Schmerzmittel, Wehenmittel, Dammschnitte etc. erhalten [3], steigt zudem auch noch die Rate an Kaiserschnittgeburten. Jedes dritte Kind kommt heute per Kaiserschnitt zur Welt.

Es ist nicht egal, wie wir geboren werden,

schrieb einst Michel Odent, Arzt, Geburtshelfer und Verfechter einer natürlichen Geburt. Erfahren hat dies Patricia Wand, Mutter von vier Kindern und Hebamme. Wie unglücklich und ratlos sie als Mutter war, als ihr drittes Kind anders als geplant auf die Welt kam, schildert sie im Gespräch mit Jennifer Hein folgendermaßen:

„Anna ist im Auto auf der Autobahn geboren. Sie kam ganz schnell zur Welt. Drei Monate hat sie von morgens bis abends nur geschrien. Verzweifelt bin ich mit Anna zu sämtlichen Ärzten gefahren – zum Osteopathen, Orthopäden und ich habe sämtliche Nuckel gekauft. Nichts hat geholfen. Bis sie mit drei Monaten schlagartig ruhig war. Rückblickend betrachtet war es wohl so, dass die Umstände der Geburt ausschlaggebend waren. Für mich war die plötzlich einsetzende Geburt ein Schreckmoment und ich verspürte zunächst selbst Angst. Für Anna ging alles viel zu schnell und sie brauchte eine Weile, um dies zu verarbeiten und anzukommen.“

Noch vor nicht allzu langer Zeit verstanden sich Hebammen als „Storchentante“, sie begleiteten und unterstützten Frauen im Geburtsvorgang, wenn sie von einem unsicheren Zustand in einem Zustand der Selbstbestimmung übergingen (Ambler 1993). Mutter und Kind vertrauten sich ihrer Fürsorge und Schutz an, so dass die Geburt für die Mutter zu einem rundum erfüllenden Erlebnis als Voraussetzung für die harmonische Bewältigung des neuen, so oft unerwarteten Lebensabschnitts wurde.

Die Geburtshilfe lag immer in den Händen der Frauen

Geburtshilfe - Foto © privat Thea, Patricia und FamilieDer umfassende Betreuungsbogen der Hebammentätigkeit, der Mütter durch die Lebensphasen der Schwangerschaft, Geburt bis hin zur frühen Elternschaft begleitete, verlor in West- wie in Ostdeutschland mit zunehmender klinischer Betreuung und der Fragmentierung der Versorgungsleistungen an Bedeutung.

Thea Schäfer, Hebamme, hat diese Zeit noch miterlebt und blickt auf 36 Jahre Berufstätigkeit zurück, in denen sie 1.677 Kindern mit auf die Welt geholfen hat. Im Gespräch mit Jennifer Hein erzählt sie aus dieser Zeit als sie bei einem kirchlichen Träger angestellt war und sie erzählt auch, wie es dazu kam, dass ihr die Berufung zur Hebamme in die Wiege gelegt wurde.

Thea Schäfer: aus dem Leben einer Hebamme

 

Visionen für die Geburtshilfe und die zukünftige Hebammenarbeit

Seit Jahren werben Hebammen für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, sich der Gestaltung der geburtshilflichen Versorgung von Frauen, Kindern und Ihren Familien bewusst zuzuwenden und neu zu überdenken. Dabei geht es auch um das wahrnehmbare Vertrauen in die Geburtshilfe [Zeit, Ansprache, Zuspruch, Wohlbefinden in Form von sich gehalten fühlen] und dem rationalen Vertrauen der werdenden Eltern [Kontinuität, Respekt, Zugang zur Hebammenhilfe, Sicherheitsempfinden, transparente Versorgungsleistung]. Dieser Konsens schließt einen Kulturwandel ein, der als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden muss.

2020 gelang dem Deutschen Hebammenverband e.V. mit dem Zukunftsforum Geburtshilfe [dhv-zukunftsforum.de] Visionen für die Geburtshilfe und die Hebammenarbeit der Zukunft zusammen zu tragen, indem sie ihr Augenmerk auf die Frage legten:

„Was ist uns die Geburt eines Kindes wert?“

12 gemeinsam getragene Visionen einer guten Geburtshilfe der Zukunft entstanden auf Basis von Fachgesprächen mit zahlreichen Akteuren. [4]

Mutterschaft ein selbstbestimmter Prozess?

Geburtshilfe! Das planbare Kind © Cartoon 2 Bettina Bexte Zweifelsohne profitieren werdende Eltern und ihre Kinder von den medizinischen und technologischen Fortschritten. Im Zuge der Pränataldiagnostik können mögliche kindliche Fehlbildungen bereits in der Schwangerschaft etwa durch Ultraschalluntersuchungen, Triple-Test und Fruchtwasserentnahme frühzeitig erkannt werden. Der Geburtsprozess kann dank der Periduralanästhesie [kurz: PDA] nahezu schmerzfrei erfahren werden und ein Neugeborenes sicher ins Leben mit Muttermilchersatznahrung starten. Gleichzeitig stehen diese Fortschritte jedoch einer sich fortlaufend entwickelnden engen Mutter-Kind-Bindung bzw. Embryo-Symbiose-Bindung im Wege, da der Zeitraum für menschliche Zuwendung seitens der abrechenbaren Versorgungsleistung eng getaktet ist. Des Weiteren steht jede werdende Mutter aufgrund des heutigen raschen Informationstransfers vor der inneren Entscheidung, ihre neue Lebenssituation entweder vertrauensvoll in die vorgegebenen Wachstumsprozesse des Lebens zu geben oder sie von außen kontrolliert zu gestalten.

Patricia Wand beschreibt den Wandel in der geburtshilflichen Versorgung so: „Heute sind die Kinder nicht mehr von den Eltern getrennt. Viele Krankenhäuser bieten Rooming-in und Familienzimmer an d.h. der Papa wird gleich mit einbezogen und die Familie kann von Anbeginn an zusammenwachsen. Gleichzeitig überwache ich als Hebamme die Mutter mit dem CTG [Kardiotokografie] und der Kinderarzt beobachtet die Entwicklung des Ungeborenen mit Ultraschall. Durch den ständigen Blick und die Abhängigkeit von den technischen Geräten wird jedoch der Kontakt zur Frau unterbrochen, von ihr abgezogen. Wer hingegen, wie es in der Hebammenausbildung erlernt wird, Routine mit dem Ertasten der Kindslage, der -größe beispielsweise hat, kann genauso sichere Aussagen darüber treffen, wie groß das Kind ist.“

Im Rahmen der geburtshilflichen Versorgung wird derzeit die werdende Mutter nicht als ganzheitliches sich entwickelndes Wesen, sondern als Schwangere, Gebärende, Wöchnerin und Stillende oder gar als Patientin verstanden und behandelt. Diese punktuelle Betrachtungsweise erschwert den Aufbau einer Mutter-Kind-Bindung, die in der Fähigkeit der „intuitiven, empathischen, ermutigend-abwartenden, wissenden Geduld“ [Duden, Barbara in: Deutsche Hebammenzeitschrift 1/96] ihren Anfang findet. Erst sie ermöglicht einen konstruktiven Umgang mit dem immer komplexeren Wissen.

Beziehungsfähigkeit als Grundwert unserer Gesellschaft

Geburtshilfe! Das planbare Kind © Cartoon 3 Bettina BexteJeder von uns schmiedet wohl gern Pläne: Urlaub, die erste eigene Wohnung, der nächste runde Geburtstag. Was auch immer. Kinder lehren uns „im Hier und Jetzt“ zu leben. Sie können noch nicht vorausschauend denken. Die Erziehungswissenschaftlerin Erika Butzmann schreibt: „Das autobiografische Gedächtnis, das den Strom des Bewusstseins ermöglicht, ist erst mit vier Jahren ausgereift [Roth 2001, S. 227f.] Das Kind lebt bis zu diesem Zeitpunkt im Augenblick und befasst sich meistens nur mit der aktuellen Situation. Zudem ist es in seine Gefühle noch weitgehend eingebunden. Das Bewusstsein über die eigenen Fähigkeiten ist dementsprechend nicht durchgängig vorhanden, also auch noch keine Gedanken über die eigene Selbstständigkeit. Das Denken ist noch weitgehend ichbezogen.“

Wenn dem so ist, muss die Frage gestellt werden dürfen: „Wer bereitet zukünftige Mütter und Väter auf diese nicht Planbarkeit des Lebens vor?“ Müssten wir als Gesellschaft werdende Eltern nicht auf diese nicht erwartbaren Herausforderungen vorbereiten und ihnen vermitteln, dass die Beziehungsfähigkeit das Elixier zwischen Eltern und Kind ist, statt ihnen ein funktionales Menschenbild, dass seinen Anfang bereits in der Planbarkeit der Schwangerschaft findet, vorzugaukeln?

von Redaktion fürKinder

weitere Informationen

Cartoons von Bettina Bexte, Cartoonistin und Illustratorin, aus dem Buch: „Wann ist es denn soweit?: Die Cartoons für die schönste Zeit im Leben“ und www.bettinabexte.de.

[1] Joachim W. Dudenhausen, Willibald Pschyrembel, Michael Obladen, Dieter Grab: Praktische Geburtshilfe. Walter de Gruyter, 2011, ISBN 978-3-11-022869-4, S. 19..
[2] Wenn Hebammen Geburtshäuser leiten, stimmt die Qualität – Erstmals vergleichende Studie zwischen klinischer und außerklinischer Geburt, GKV-Spitzenverband, Pressemitteilung – Berlin, 2.12.2011
[3] National Institute for Health an Care Excellence, Nice, 2014
[4] Zukunftsdialog Geburtshilfe Deutscher Hebammenverband Forum 2021 v4

Links zum Thema

40 Jahre Storchentante. Aus dem Tagebuch einer Hebamme

Die sichere Geburt- Wozu Hebammen? Der Film geht der Frage nach, was eine physiologische Geburt sicher macht und wodurch sie gestört wird. Was sind die Folgen von Interventionen auf den Geburtsverlauf, für Mutter und Kind und auch für die zukünftige Gesellschaft?

Forschungsprojekt „Geburtshilfliche Versorgung durch Hebammen in Nordrhein-Westfalen“, Abschlussbericht der Teilprojekte Mütterbefragung und Hebammenbefragung, Projektlaufzeit: 21.11.2016 – 30.09.2020

Kenntnis und Inanspruchnahme von Präventionsangeboten in der frühen Kindheit in Abhängigkeit vom Bildungsstand der Eltern, Faktenblatt 3 zur Prävalenz- und Versorgungsforschung der Bundesinitiative Frühe Hilfen

Für eine menschliche Geburtshilfe, Dr. Barbara Jahn, Gynäkölogin