Geschichten erzählen oder vorlesen gehört zu den Standards frühkindlicher Bildung – aber welche Geschichten?
Auf diese Frage haben Neurowissenschaftler und Psychologen an der McGill Universität in Kanada jetzt eine Antwort gefunden – für den Fall, dass als „Erziehungsziel“ die Liebe zur Wahrheit angepeilt wird:
Die Bereitschaft der Kinder, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen, wird deutlich mehr durch Geschichten mit positivem Ausgang befördert als durch Erzählungen, bei denen das Lügen bestraft wird, wie etwa bei Pinocchio oder bei der Geschichte von dem Jungen, der dreimal „Wolf“ schreit („Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“).
Entdecken Sie die Arbeiten von Thierry Marius
ein „Fotoreporter der Intimität“
Lob ist besser als Abschreckung
Belohnung statt Strafe ist demnach beim Einüben moralischer und kultureller Werte durch das Erzählen von Geschichten die erfolgreichere Pointe.
Den Forschern der McGill Universität ging es also um die unmittelbare Wirkung von Geschichten auf die Einstellung und das Verhalten der Kinder.
In einem Experiment mit 268 Kindern, im Alter zwischen drei und sieben Jahren, sollten die Kinder ein Spielzeug am Geräusch erkennen. Mitten im Spiel aber gingen die Erwachsenen aus dem Raum, um ein Buch zu holen, mit der Auflage an die Kinder, auf keinen Fall auf die Spielzeuge zu schauen, die auf dem Tisch lagen, und die ja nur am Geräusch erkannt werden sollten. Für die meisten der Kinder, aber war die Versuchung, die Spielzeuge anzuschauen, viel zu groß.
Bei der Rückkehr in den Raum mit einem Buch in der Hand lasen die Versuchsleiter den Kindern entweder eine Geschichte mit bösen Konsequenzen bei unehrlichem Verhalten vor wie etwa Pinocchio oder eine Geschichte, bei der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit belohnt und belobigt wurde. Hier nutzten die Forscher eine Sage über George Washington, der als Kind den Lieblingskirschbaum seines Vaters abgesägt hatte, der es auch ehrlich zugab und für diese Ehrlichkeit von seinem Vater gelobt wurde.
Es stellte sich heraus, dass die Kinder, die die George-Washington-Geschichte gehört hatten, sehr viel spontaner bereit waren zuzugeben, dass sie während der Abwesenheit der Forscher auf die Spielsachen „gelinst“ hätten, als jene Kinder, denen die Geschichte mit negativem Ausgang vorgelesen wurde und die mit der Bestrafung der Lügner endete.
Mehr noch: Selbst eine Geschichte, die mit Lügen und Ehrlichkeit nichts zu tun hatte wie die Fabel „Die Schildkröte und der Hase“ führte nicht zu weniger Ehrlichkeit in den Aussagen der Kinder als die Geschichten mit der Bestrafung von Unehrlichkeit.
Um das überraschende Ergebnis zu überprüfen, änderten die Forscher die George-Washington-Geschichte und gaben ihr beim Vorlesen vor einer anderen Kindergruppe ein negatives Ende mit einer Bestrafung des kleinen George Washington für seine Missetat. Prompt änderte sich das Verhalten der Kinder: Sie waren weit weniger bereit zuzugeben, dass sie gegen den Auftrag gehandelt hatten, die Spielzeuge auf dem Tisch nicht anzusehen.
„Unser Experiment zeigt, dass es weit wirkungsvoller ist, die positiven Ergebnisse moralischen Verhaltens zu betonen als die negativen Konsequenzen von Unehrlichkeit. Und wir gehen davon aus, dass dies auch für andere moralische Fragen gilt“, so einer der Studien-Autoren, Prof. Kang Lee von der University of Toronto.
von Redaktion fürKinder
Links zum Thema
Kang Lee et al., Can Classic Moral Stories Promote Honesty in Children? Psychological Science, 13. Juni 2014, vorab online veröffentlicht
Über den Unterschied zwischen amerikanischen und rusischen Eltern bei der Auswahl der Vorlesegeschichten, North Carolina State University, 12.2021
Quelle: alphagalileo.org