Stellen Sie sich vor: Sie sind das Erstgeborene und genießen die liebevolle Fürsorge Ihrer Mutter, die sich stets um Sie kümmert. Als sie erneut schwanger ist, dürfen Sie den Bauch berühren, Ihr Ohr anlegen und den Herzschlag Ihrer Schwester hören. Es ist ein aufregendes „Spiel“ für Sie, bei dem Sie unbewusst und nebenbei eine emotionale Bindung zu Ihrem ungeborenen Geschwisterchen entwickeln. Als sie endlich geboren wird, wissen Sie zunächst nicht recht, wie Sie mit ihr umgehen sollen. Sie liegt nur da, schläft, weint und hat Hunger und dennoch berührt Sie ihre Lebendigkeit zutiefst. Sie streicheln sie, reden sanft mit ihr und bringen ihr kleine Geschenke – vielleicht einen Teddybären. Mit der Zeit wird Ihre Schwester aktiver und die wechselseitige Verständigung wird komplexer und ein wechselseitiges Lernen beginnt.
Geschwisterbeziehungen eine konkrete Anschauung
In seinem Beitrag aus dem Familienhandbuch „Die Geburt der Geschwisterliebe“ untersucht Prof. Dr. Horst Petri die dynamischen Kräfte, die in Geschwisterbeziehungen wirken. Anhand des fiktiven Geschwisterpaares Klaus und Lisa verdeutlicht er, wie sich Geschwisterliebe entwickelt und reifere Formen annimmt. Die folgende Darstellung bietet einen Einblick in ihre interaktive Welt, in der sie gemeinsam die ersten Schritte ihrer Entdeckungsreise unternehmen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Geschwister während ihrer gemeinsamen, aber zeitlich versetzten Entwicklung in eine eigene, nur für sie zugängliche Welt eintauchen, in der sie miteinander interagieren und voneinander lernen – insbesondere im Bereich der Sprache.
Klaus und Lisa – Geschwisterliebe
Klaus und Lisa. Lisa hat sitzen und stehen gelernt und macht die ersten unbeholfenen Gehversuche. Immer wieder fällt sie hin, Klaus, er ist jetzt drei Jahre alt, hebt sie auf, stützt sie, wenn sie schwankt, nimmt ihre Hand und geht mit ihr bis zum nächsten Stuhl. Dort kann sie sich ausruhen. Sie lässt sich hinplumpsen, hat noch zu wenig Kraft. Aber spielen, das will sie. Sie jauchzt, wenn Klaus ihr einen Ball zwischen die Beine rollt, sie nimmt den Teddybären in die Arme, den er ihr hinhält, schaut Klaus zu, wie er bunte Bauklötze aufeinandertürmt, um sie dann wieder mit Gejohle umzustürzen. Dann springt er auf das Sofa, holt einen Apfel vom Tisch, Lisa greift danach und versucht angestrengt, daran herum zu lutschen. Klaus beißt ein kleines Stück ab und schiebt es Lisa in den Mund. Sie haben viel Zeit zusammen. Die Mutter ist sehr beschäftigt, und der Vater kommt meistens erst, wenn beide Kinder bereits im Bett liegen.
Zwei Kinder bei der schrittweisen Eroberung der Welt. Klaus lässt Lisa nur wenig allein. Wenn die Mutter sie füttert, steht er dabei, schaut zu, manchmal darf er Lisa auch selbst füttern. Mittags, wenn Lisa schläft, geht er leise ins Zimmer, um zu sehen, ob sie schon wach ist; er will mit ihr spielen. Inzwischen hat er auch gelernt, wie man Lisa wickelt; es klappt noch nicht so ganz, aber helfen darf er. Nachts liegen sie in ihren Betten, ganz nah beieinander; Lisa brabbelt vor sich hin, und Klaus versucht ihr zu erklären, warum ein Hase „zu lange Ohren“ hat. Er ist der erste, der hört, wenn Lisa nachts weint. Er rennt zu den Eltern: „Lisa weint!“
Für Kinder dieses Alters ist dies eine unendlich gedehnte Zeit der Gemeinsamkeit. Dabei spielt die ständige Wiederholung aller Tätigkeiten eine wichtige Rolle, sie festigt die liebevolle Zweisamkeit. Schrittweise beginnt jedes der Kinder, sich aus der ursprünglichen Verschmelzung zu lösen, sein eigenes Ich weiter zu differenzieren und durch Abgrenzung das Ich des anderen stärker wahrzunehmen.
Die vorsprachliche Verständigung geht jetzt fließend in eine gemeinsame Sprachfindung über, die den Erwachsenen unzugänglich ist. Sie lachen über jeden Unsinn, vieles wird ihnen zum Witz. Der Reichtum kindgemäßer Erfahrungen, der Austausch eines breiten Spektrums an Emotionen und Körperkontakt und die faszinierte Beobachtung aller Körpervorgänge bilden eine komplexe Struktur wechselseitiger Bezogenheit, die sich grundlegend von der Mutter-Kind-Beziehung unterscheidet. Die Kinder schaffen sich eine eigene Welt aus Realität und Phantasie, in der nur sie zu Hause sind. Für die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse ist die Mutter unentbehrlich, aber ihre ständige Anwesenheit würde nur stören.
Quelle
Familienhandbuch „Die Geburt der Geschwisterliebe“ von Prof. Dr. Horst Petri, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Nervenarzt