Gewalt in der Kindheit – Aufgewachsen im Krieg - Foto © Ludwig JanusMeine ersten Lebensjahre habe ich unter den Bedingungen eines Krieges verbracht, das heißt in einer Welt, wo es um Morden und Gemordet-werden ging. Das bedeutete unter anderem, dass nachts alle Straßenlaternen dunkel waren, um nicht das Ziel für mörderische Bombardierungen zu werden. Ich weiß noch, dass mich meine Mutter davon zu überzeugen versuchte, dass es so etwas wie „Frieden“ gäbe und dass dann die Straßenlaternen erleuchtet wären. Ich weiß noch genau, dass ich das damals für unglaubwürdig hielt.

Der Krieg war auch der Grund, dass meine Eltern getrennt waren, weil mein Vater als Soldat eingezogen war. Leider fanden sie danach nicht mehr zueinander, trennten sich und gründeten jeweils neue Familien.

Für mich war das die schmerzliche Erfahrung, dass es auch in der Familie keine Sicherheit gibt.

Das ist der Hintergrund dafür, dass ich mein Leben der Klärung dieser Zusammenhänge widmen wollte, zunächst im Rahmen einer psychotherapeutischen Ausbildung, wo man sich zunächst in der sog. Lehranalyse mit den eigenen Lebensschwierigkeiten auseinanderzusetzen hat, um daraus die Kompetenz zu entwickeln, auch andere in ihren Lebensschwierigkeiten verstehen und hilfreich bei der Klärung und Verarbeitung der Schwierigkeiten begleiten zu können.

In der Auseinandersetzung mit meinen Kindheitsbedingungen wurde mir klar, dass die Wirren meiner Kindheit durch die Bedingung einer beständigen Lebensbedrohung wesentlich darin begründet waren, dass ich damals in einer gewaltorientierten Gesellschaft lebte, in der sich ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung einerseits durch einen inneren Feind in den Juden tödlich bedroht fühlte und andererseits durch den äußeren Feind des Bolschewismus und der überlegenen Stärke der angelsächsischen Welt. Weil in dieser irrationalen Bedrohungssituation nur Gewalt die einzige Lösung zu sein schien, schien es auch berechtigt die ganze Gesellschaft mit Gewalt zur Bekämpfung dieser Gefahr zu zwingen. Das begründete die unendlichen Kriegsanstrengungen, um den anderen zu vernichten, bevor dieser einen selbst vernichtete. Wie alle Deutschen waren meine Eltern in diese Szenerie in einer komplexen Weise verwickelt, meine Mutter dadurch, dass sie gegen die Nazis agierte und mein Vater als Soldat im Vernichtungskrieg gegen Russland, aus Altersgründen glücklicherweise nur in der Verwaltung in der Etappe. Im Alltag des Krieges versuchte man sein Leben durch Aufsuchen des Bunkers bei Luftangriffen oder ein Sich-in-den-Graben-werfen, wenn der Angriff bei einer Bahnfahrt stattfand, zu retten.

Die Taten und Folgen einer gewaltorientierten Gesellschaft

Gewalt in der Kindheit – Aufgewachsen im Krieg - Foto AdobeStock ©Vera Kuttelvaserova

Noch in den 60er Jahren waren Gewalt und Strafen ein ganz selbstverständliches und allgemein gebilligtes Mittel in der Erziehung der Kinder. Diese Menschen, die unter solchen Kindheitsbedingungen aufwuchsen, fanden sich mit ihren psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen in der Psychotherapie wieder.

Im Verprügeln und anderen Strafen, wie in die Besenkammer oder in den Keller sperren, sah man ein wichtiges Mittel, die Unarten der Kinder zu bändigen. In meiner Volksschulklasse wurde ein Drittel der Kinder am Schulbeginn von einer bestimmten Lehrerin morgens mit dem Lineal auf die offene Hand gezüchtigt. Ich verstand es durch geschicktes Verbergen unter dem Schultisch die Strafe in der Regel zu vermeiden. Die Bestrafung war so selbstverständlich, dass keines der Kinder davon zu Hause erzählte. Die allgemeine Meinung war: Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet.

Im Gymnasium war darum damals der Autoritätskonflikt mit den Lehrern ein bestimmendes Element des Schulalltags. Die Lehrer versuchten die Schüler durch Strafen und Sanktionen in Schach zu halten. Diese Situation hatte eine gesamtgesellschaftliche Dimension und erreichte seinen Höhepunkt deshalb in der sogenannten antiautoritären Revolte der 68er Generation. Mir wurde erst nachträglich klar, dass meine Lehrer überwiegend die traumatisierten Soldaten des vergangenen Krieges waren und sie deshalb so labil und autoritär waren.

Weg von autoritären Strukturen hin zur Einfühlungsfähigkeit

Gewalt in der Kindheit – Aufgewachsen im Krieg A - Foto iStock © lukaszparz

Damit war das Lebensthema meiner Generation das Herauswachsen aus diesen Gewaltstrukturen, die für die ältere Generation so unreflektiert selbstverständlich waren. Das führte dann auch zu der Entdeckung, dass es nicht nur um die Gewaltstrukturen in der Kindererziehung ging, sondern auch das mangelnde Verständnis für die Beziehungsbedürftigkeit und das Erleben der Kinder in der vorsprachlichen Zeit der ersten anderthalb Lebensjahre. Noch bis in die Siebzigerjahre wurden Kinder im ersten Lebensjahr ohne Narkose operiert, weil man sie für „Reflexwesen“ hielt; Säuglinge ließ man durchschreien “damit ihre Lungen durchlüftet wurden“. Erst im Rahmen der Säuglingsforschung in den Achziger- und Neunzigerjahren wurde erstmals das Erleben und die Beziehungsbedürftigkeit von Babys und Kleinkindern wahrgenommen. Einzelne einfühlsame Mütter und Väter hatten natürlich immer schon ein Gefühl dafür, aber auf der Ebene des gesellschaftlichen Bewusstseins bestand ein solches Gefühl nicht.

Das war der Hintergrund für die gesellschaftliche Paradoxie, dass Kinder zwar „geliebt“ wurden und man sie versorgte, man aber gleichzeitig in der Lage war, sie drakonisch zu maßregeln und zu schlagen.

Zudem waren die ausbeutenden Arbeitsbedingungen in der Industrie und in der Landwirtschaft trotz der Verbesserungen nach dem Ersten Weltkrieg für die Mehrheit der Bevölkerung zu erschöpfend und zu destruktiv für ein lebendiges Familienleben.

Die Friedenssituation und der wachsende Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten die beschriebene Relativierung der autoritären Strukturen in der Gesellschaft und einen Zuwachs an Einfühlungsfähigkeit. Das führte dann auch dazu, dass auch die Gewalt im Umgang mit der Geburt mit dem Aufhängen an den Beinen und Schlagen, um den ersten Schrei auszulösen, und der nachträglichen rigorosen Trennung von Mutter und Kind gefühlsmäßig wahrgenommen wurde, wofür das Buch „Geburt ohne Gewalt“ von Frederik Leboyer stand. Man ermöglichte deshalb, dass Mutter und Kind nach der Geburt zusammenbleiben konnten und die Notwendigkeit, die vorgeburtliche Mutter-Kind-Beziehung in der nachgeburtlichen Beziehung fortsetzen zu können, im Rahmen des „Rooming-in“ respektiert wurde. In der Humanistischen Psychologie wurde es dann auch möglich, dass die Abkömmlinge der seelischen Verletzungen der Klienten durch diesen gewaltsamen Umgang am Lebensanfang in den therapeutischen Situationen der Primärtherapie und anderer Regressionstherapien wahrgenommen wurden. Und nicht nur das, es wurde auch klar, dass ungünstige vorgeburtliche Bedingungen, die sogenannten „pränatalen Traumata“, gravierenden Einfluss auf die spätere Lebensentwicklung haben konnten, wie umgekehrt gute vorgeburtliche Bedingungen die Voraussetzung für spätere Vitalität und Urvertrauen waren.

Resümee einer gewalterfahrenen Kindheit

Gewalt in der Kindheit – Aufgewachsen im Krieg A - Foto iStock © RMAXFrüheste Traumatisierungen vor, während und nach der Geburt verformen zutiefst das grundlegende traumartige Bewusstsein und Verhalten im Sinne einer basalen Fokussierung auf „Flucht oder Angriff“ oder primäre Angst und primäres Misstrauen und eine primäre Aggressionsbereitschaft.

Das Bedürfnis nach Macht als Kompensation von Ohnmachtserfahrungen und Erfahrungen des Unwerts wird somit so wichtig, und zwar sowohl in der Familie wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene.

Vor dem Hintergrund dieser Bedingungen kann es bei Schwierigkeiten eine Lösung nur durch Gewalt geben, weil man sich beständig in einer tödlichen Bedrohung oder einem Überlebenskampf befindet. Die traumatischen Frühbedingungen waren im emotionalen Erleben, das in hintergründiger Weise durch das noch wirksame traumartige Erleben der frühen Entwicklung bestimmt wurde, immer noch präsent und bestimmten die Wahrnehmung und Verhalten.

Der frühe Mangel wird als Selbsthass verinnerlicht, der dann die Ursache für den Fremdhass ist.

Solche tiefen Traumatisierungen durch die mangelnde Einfühlung in die Kinder vor, während und nach der Geburt und durch die gewaltgeprägten Erziehungspraktiken, wozu noch die Traumatisierungen der überlebenden Soldaten im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg kamen, prägten die deutsche Gesellschaft und führten zu der Naziherrschaft, in der ich meine ersten Lebensjahre verbrachte.

Abschließend kann zusammengefasst werden: zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt es, wenn die Mehrheit der Bevölkerung durch frühe Traumatisierungen und ungünstige Lebensbedingungen in ihrer Entwicklung zum verantwortlichen Erwachsenen blockiert ist. Dann löst ein technischer und kultureller Fortschritt mit der damit verbundenen Notwendigkeit zu einer inneren Reifung und Transformation elementare Ängste und aggressive Affekte aus, die dann im Kriegsgeschehen reinszeniert werden. So ist der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung Anfang des 20. Jahrhunderts und die damit verbundene Notwendigkeit einer liberaleren und verantwortlicheren Identität ein Hintergrund für den Ersten Weltkrieg, weil die noch mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen und die damit verbundenen autoritätsorientierten Mentalitäten in Mitteleuropa überwunden werden mussten, was nur über die militärische Niederlage akzeptierbar war. Auch die demokratischen Strukturen der Zwanzigerjahre waren für die Mentalität der konservativen Mehrheit so etwas wie eine tödliche Bedrohung ihrer Lebensform, einer Lebensform, die aber nicht mehr zu den in einer modernen Gesellschaft erforderlichen Fähigkeiten zu einem selbstverantwortlichen Handeln passten.

In diesem Sinne kann man die beiden Weltkriege und auch das jetzige Kriegsgeschehen in der Ukraine als aggressiv entgleiste Initiationsprozesse verstehen. Wegen der Unreife bei der Geburt sind wir in elementarer Weise von den Eltern abhängig und benötigen ihren Schutz und ihre Bestätigung, um ein zusammenhängendes Selbstgefühl entwickeln zu können. Daraus folgt, dass die Gesellschaften sich um Bedingungen bemühen müssen, unter denen eine solche begleitete und unterstützte Entwicklung der Kinder zu reifen Jugendlichen und Erwachsenen möglich ist. Das Wissen dazu ist heute vorhanden. Damit kann es auch möglich sein, die mit Veränderungen verbundenen Ängste und Schmerzen innerlich zu verarbeiten. Die Rolle von frühen Traumatisierungen wird immer noch gravierend unterschätzt.

von Ludwig Janus

Literaturverzeichnis: Institut für Pränatale Psychologie und Medizin, Heidelberg

Links zum Thema

Psychologie: Drum prüfe gut, wie früh es sich bindet, Verena Friederike Hasel, Tagesspiegel, 28.09.2012

Babygeplauder – Auch Babys erzählen Geschichten

Wladimir Putin als eine Wiederkehr von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

„Missachtung bei Kindern“ und „Gewalt gegen Kinder“, Bepanthen® – Kinderförderung in Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld, 2013

Von wegen Psychokram, Ludwig Janus – Arzt, Psychologe, Psychoanalytiker und Pränatalpsychologe – www.isppm.de, im Gespräch mit Christiane Börger, 2017