Heimweh Kind - Foto chris3d © AdobeStockSind Sie manchmal scheinbar grundlos traurig und niedergeschlagen, haben an kaum etwas Interesse, fühlen sich appetitlos im Wechsel mit Heißhungerattacken? Sie haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, verspüren wenig Motivation zur Arbeit und auch nicht, tatkräftig etwas Neues zu beginnen? Dann kann es sein, dass sie unter chronischem Belastungs-Heimweh leiden …

Wenn kindliche Bedürfnisse nach elterlicher Liebe und Zuwendung nicht befriedigt wurden, dann scheint oft lebenslang etwas offen zu bleiben. Etwas Unbestimmtes scheint verloren. Etwas, das am ehesten mit dem Begriff Heimweh zu beschreiben ist. In der Folge richten erwachsene Kinder ihr Bemühen darauf, dieses Heimweh wegzubekommen, es von den Eltern doch noch gestillt zu bekommen oder auch, es einfach nicht mehr zu fühlen.

Viele Kinder aus belasteten Familien leiden im hohen Erwachsenenalter an chronischem Heimweh, ohne darum zu wissen: belastete Familien sind wahre Brutstätten der Sehnsucht (zit. aus dem Buch: Vater, Mutter, Sucht). Der Begriff Heimweh wird allgemein als Beschreibung gewählt, wenn in früher Kindheit eine Gemeinschaft verloren gegangen ist. Bei belasteten Kindern bekommt Heimweh eine andere Dimension. Heimweh, das ich als Belastungs-Heimweh bezeichnen möchte, ist vielmehr bei all denjenigen vorhanden, die eine familiäre Gemeinschaft nie befriedigend erlebt haben und bei denjenigen, die sich selbst in der Suche nach elterlicher Liebe verloren gegangen sind. Belastungs-Heimweh ist immer auch eine Suche nach uns selbst, nach der eigenen Identität – oft einhergehend mit großer Verzweiflung.

Die junge Frau ist außer sich. Ihr Freund betrüge sie permanent, schlage sie, wenn sie ihn darauf anspreche und sie nehme diese Behandlung wieder und wieder in Kauf. Sie verstehe sich selbst nicht, Biografisches kommt ihr in den Sinn. Sie ist Tochter eines Alkoholikers und einer depressiven, tablettenabhängigen Mutter. In der Arbeit zu diesem Thema äußert sie, süchtig nach Ihrem Freund zu sein. „In meiner Familie hat das angefangen: ich bin der Liebe, die ich nicht bekam, hinterhergelaufen. Wie ein Stier hinter dem roten Tuch, so laufe ich seitdem der Liebe hinterher!“

Belastungs-Heimweh kann zur unbestimmten Sehnsucht werden, für deren Erfüllung Betroffene oftmals „alles“ in Kauf nehmen; es ist Ausdruck einer chronischen Mangelerfahrung in der Kindheit. Es mündet oftmals in chronischen Gefühlen von sich selbst fremd sein, bis hin zu der kindlichen Annahme, gar nicht wirklich zu dieser Familie zu gehören. Später im Erwachsenenalter gefolgt von Gefühlen, in Gruppen und Systemen Außen zu stehen.

Belastungs-Heimweh kann sich dann wandeln, wenn es vor allem als Sehnsucht begriffen wird, selbst in etwas Größerem einzutauchen … Oftmals führt die sehnsüchtige Suche rastlos nach Irgendwo und Nirgendwo, in Heilungsgruppen und zu Gurus. Ebenso gibt es Phasen, in denen das unerkannte Heimweh durch Beziehungen zu Partnern, Freunden, Therapeuten usw. gestillt werden soll. Meist ein erfolgloses Unterfangen. Oftmals wird erst in Krisen deutlich, dass Belastungs-Heimweh mehr verlangt als das, was Eltern, Partner usw. anbieten können. Erst nach Trauerarbeit wird meist Neues möglich: manchmal mündet dieser Prozess in der Sehnsucht nach Einswerden. Einswerden mit etwas, das größer ist als wir selbst und uns doch zugleich ausmacht (s.a. Willigis Jäger: Finde deinen inneren Weg). Und so rückt für manche belastete Kinder dann das Eltern-und Beziehungsthema in den Hintergrund, innere Heimat wird Musik, Tanz, Gott, Buddha, Allah, der Urgrund (W. Jäger), die Natur etc. Um das Leiden am Heimweh hinter sich zu lassen, muss es zunächst erkannt und betrauert werden, damit die ziellose Suche eine neue Richtung bekommen kann.

Ich wünsche Ihnen den Mut, dem Heimweh ins Auge zu sehen und die Kraft weiterzusuchen, wenn Sie Ihre innere Heimat noch nicht entdeckt haben.

von Waltraut Barnowski-Geiser

Quelle
Erstveröffentlichung im Blog: JETZT.BESSER.LEBEN

Links zum Thema

Vater, Mutter, Sucht, Klett-Cotta, 2015

Mutterliebe: Luxus oder Qual?

Persönlichkeitsentwicklung in früher Kindheit, Dr. Nicole Strüber, Institut für Hirnforschung, Uni Bremen