„Hör mir zu, sieh mich, sprich mit mir" – das ist der stille Ruf vieler Kinder. In einer Welt voller Reize, Informationen und ständiger Verfügbarkeit droht jedoch genau das verloren zu gehen, was für Kinder existenziell ist: echtes Zuhören, echte Resonanz. Doch Kinder brauchen Resonanz, um sich selbst zu spüren, um zu wachsen. Der folgende Beitrag von Waltraud Barnowski-Geiser, Künstlerische Therapeutin, erzählt davon, wie stark kindliche Identitätsbildung mit Kommunikation verknüpft ist – vom Mutterleib bis in die Schulzeit, von alltäglichen Szenen bis hin zu tief berührenden musiktherapeutischen Prozessen. Ein Plädoyer für mehr Aufmerksamkeit, mehr Beziehung, mehr Klangräume – und für das, was Kinder in aller Stille sagen.
Kommunikation und kindliche Identitätsbildung
Im Zug sitzen sich ein kleiner Junge und seine Mutter gegenüber. Die Mutter ist während der gesamten Zugfahrt mit ihrem Handy beschäftigt, ihr Blick auf den Bildschirm fixiert. Ihr Sohn schaut zunächst aus dem Fenster, dann versucht er immer wieder, ihr sehr ruhig und höflich etwas mitzuteilen. Ohne Erfolg, Er greift nach ihrer Hand, doch sie schüttelt ihn ab. Schließlich steht er auf und taumelt ein wenig durch den Gang, starrt Mitreisende an … und lacht und lacht und lacht. Er wirkt ein wenig entrückt. Dann wirft er sich auf einen Sitz neben eine Frau, die irritiert ihre Sachen an sich heranzieht und ein „Unerhört" murmelt. Nun steigen Tränen bei dem Jungen auf. Die Mutter des Jungen scheint nichts zu bemerken und telefoniert weiter.
Kindliche Mangelerfahrungen in unserer Zeit: zu wenig im Zuviel
Vielleicht haben Sie ähnliche Szenen selbst schon einmal beobachtet. Erstaunlich scheint mir insbesondere die Reaktion des Jungen:
Nach unendlichen erfolglosen Versuchen, die Mutter doch noch zu erreichen, erhört zu werden, ein Echo für das Gesagte zu bekommen, nach etlichen Leere-Erfahrungen also, mündet sein Bewältigungsversuch der Resignation (in der Fachsprache auch Coping genannt) im Lachen.
Er startet einen Versuch nach Ansprache und versucht auf unbeholfene Weise Kontakt zu Mitreisenden zu bekommen. Das Wort „Unerhört" löst schließlich Tränen aus. Auch dann geht er nicht (mehr) zu seiner Mutter. Wie versteinert sitzt er auf einem Platz, allein.
Wir wissen nicht, ob diese Erfahrung für den Jungen eine einmalige ist. Wir wissen nicht, in welcher Situation sich gerade die Mutter befindet, aber wenn wir uns vorstellen, dass er diese über Jahre hin machte, dann könnten, so zeigt mir meine langjährige Arbeit mit Kindern, nachhaltige Auswirkungen auf Persönlichkeits- und Bindungsentwicklung die Folge sein. Diese und ähnliche Beobachtungen zeigen ein Phänomen unserer Zeit:
Eltern sind oft so beschäftigt, dass Dasein für Ihre Kinder oder ein intensives Miteinander schwierig ist.
Übrigens: Während ich diesen Artikel schreibe, surrt mein Handy. Vergessen auszustellen. Ich werde hektisch. Passt zum Thema …
In unserer Zeit sind viele Menschen mit einem Zuviel auf allen Ebenen konfrontiert, zu viel Konsum, zu viel Lärm, zu viel Geschrei, zu viel Krise und zu viele Informationen. Zugleich gibt es gefühlt zu wenig Empathie, Frieden, Resonanz, Trost, Hoffnung und wirkliches, zugewandtes und zeitlich unbeschränktes Zuhören.
Vom Mutterleib bis zur Schule: Hören als zentraler Bindungs- und Kommunikationsfaktor
Babys, Kleinkinder und Heranwachsende sind auf das Zuhören jedoch angewiesen. Durch intensive Ansprache lernen sie ja erst etwas über uns und die Welt um sie herum. Schon das ungeborene Kind hört etwa ab der 20. Lebenswoche und ist ab der 28. Woche in der Lage, bekannte und unbekannte akustische Reize zu differenzieren und auf diese zu reagieren. Es kann sich akustische Reize sogar merken [1].
Das, was Babys und Kleinkinder wahrnehmen, bestimmt zu einem Großteil ihre persönliche Entwicklung.
Das Gehirn, so beschreibt es der Hirnforscher Manfred Spitzer, baue sich aus all dem Wahrgenommenen etwas zusammen. Kinder müssen soziale Kompetenzen erwerben, von denen das Entwicklungsthema Kommunikation wesentlich ist. Mit zwei Jahren sind die Voraussetzungen für die sprachliche Kommunikation schon recht gut ausgebildet. Dann sind Kinder in der Lage, sich fein abgestimmt dialogisch auszutauschen, über Sprache und Blicke [2]. Was Kinder erleben – Krisen, Traumata, Hörerfahrungen, aber auch Glücks- und Gänsehautmomente – wird vom Gehirn bewertet, und, wenn sie als bedeutsam eingestuft werden, als Erfahrungen abgespeichert. Dies prägt die Identität und das Hörverhalten sowie die Hörpräferenzen.
Als leiborientierte Therapeutin fasse ich Hören als einen Vorgang auf, der Körper, Seele und Geist mit maßgeblichen Auswirkungen im sozialen Raum erfasst. Im Leibgedächtnis, als dem Leib, der sich erinnert [3], werden so unterschiedliche Spuren hinterlassen. Das Hören zeigt sich als maßgeblicher Faktor der Entwicklung und Sozialisation sowie der Beziehungs- und Bindungsentwicklung [4] in der Verständigung zwischen Kulturen [5], evolutionär zum Überleben und hier im Differenzieren von Gefahrengeräuschen usw. [6]. Schon vorgeburtlich im Mutterleib stellt das Hören eine zentrale Brücke zur Welt dar.
Geraten Kinder in Krisen und Nöte, kann Hören eine entscheidende Brücke ins Erleben und in die soziale Kompetenz bauen, während das Ablehnen des bewussten Hörens teils als Anzeichen für beginnende seelische Erkrankung wahrgenommen werden muss. Gerade Menschen, die von Kindesbeinen nachhaltig Krisen ausgesetzt waren, wie etwa Kinder sucht- und psychisch erkrankter Eltern, erleiden teils Verletzungen in ihrer Identität, die in ihrem (Hör)-Erleben deutlich werden. Teils müssen Therapeutinnen, gerade im tabuisierten Feld, „hören, was niemand sieht" [7], das „Darunterliegende" oder im Verborgenen Befindliche in seiner Resonanz erhören.
Wie andere uns hören, bestimmt wer wir werden
In früheren Jahrzehnten, nicht zuletzt unter der Nachwirkung einer nationalsozialistisch geprägten Härteerziehung, galt es als probates Erziehungsmittel, Kinder zu überhören und schreien zu lassen. „Sie müssen ihr Kind nur ans äußerste Ende des Hauses stellen, dann kommen Sie nicht in Versuchung abseits der vier Stunden nach ihm zu sehen", lautete der eindringliche Rat einer anderen Mutter. So hätte sie ihren Weg gefunden, den Appellcharakter des Schreiens ihrer Kinder zu überhören und ihren damit verbundenen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Welch gewalttätiger Akt, den viele meiner Generation in ihren Säuglingstagen noch hautnah erleben mussten und tiefe seelische Brüche und Verunsicherungen erlitten haben.
Heute wissen wir, wie wichtig gerade das Eingehen auf die Kleinen ist, wie ihr existenzielles Hörbarmachen ein Überlebensimpuls ist, der dringend Beantwortung erfordert. Manches Gefühl der Wertlosigkeit, Nichtigkeitserleben, Depression als Ausdruck der Ohnmacht und Hilflosigkeit muss im therapeutischen Kontext auf derartig ungute frühe Erfahrungen hin untersucht werden.
Gerade frühe Dialoge haben eine große Kraft, sie können die Bindung zwischen Eltern und Kind stärken, den guten Boden in das Leben weben [8].
Die Kommunikation über Hörbares, wie etwa über Laute, trägt zudem schon früh zu einer gelingenden Affektabstimmung zwischen Eltern und Kind bei, wie uns Pioniersäuglingsforscher Daniel Stern in seiner Theorie zur Affektregulierung deutlich macht [9]. In der Musiktherapie nutzen wir den Kontakt zu Musikinstrumenten, um Affekte und Persönlichkeitsanteile hörbar werden zu lassen und bieten in Dialogen neue Identitäts- und Schwingungserfahrungen an.
Ein Beispiel aus meinem musiktherapeutischen Praxisalltag zeigt dies besonders deutlich:
In einer Musikfördergruppe gab es einmal einen Jungen, der kaum sprach. Die Kinder sollten ein Instrument wählen, auf dem sie ausdrücken durften, wie sie sich gerade fühlen. Ein Junge tat sich zunächst schwer, etwas zu spielen. Dann ertönen wenige, kaum zu hörende Töne. Nach einiger Ermutigung sagte er: „Natürlich war ich wieder furchtbar laut, ich mache immer so einen Krach." Die anderen Kinder im Raum lachen: Hey, du warst mega leise!" „Nein", sagte er, „meiner Mutter bin ich viel zu laut. Ich mache sie krank!" In späteren Einzelgesprächen erklärte er mir, dass seine Mutter herzkrank sei und es lebensbedrohende Momente gegeben hatte. Er habe Angst, dass er schuld an der Krankheit der Mutter sei, da Lärm sie stresse. In der Gruppe machte er neue Erfahrungen: Die Kinder wollten gern etwas von ihm hören.*
Ein eindrückliches Beispiel, wie unsere Identität [10] und unser In-die-Welt-gehen von familiären Lebensumständen geprägt sein kann und bestimmt, wie wir für andere hörbar werden – und wie es gerade durch Musik und Klang gewandelt werden kann. (Nicht selten werden in traumatisch erlebten Szenen oder unter chronischen Belastungen innere Teile – auch Ego-states genannt, Fritzsche, Zanotti, Peichl u. a. – abgespalten.) Diese inneren Teile in Form von Musikinstrumenten „auf die Bühne" zu bringen, mit ihnen zu arbeiten und hörbar werden zu lassen, kann integrierend wirken. Gefordert ist dabei Achtsamkeit für traumatisierte Anteile, denen zunächst genügend ressourcenträchtige Helfer an die Seite gestellt werden.
Kinder brauchen Resonanz: wie Klänge Kinder nachnähren
Im Folgenden eine Szene, wie ich sie in meiner Arbeit mit Kindern erlebt habe:
Lars, der Sohn einer alkoholkranken und depressiven Mutter, kroch während unserer musiktherapeutischen Arbeit unvermutet in eine Djembe hinein, mit dem Kopf vorwärts, und rief: „Spielen Sie jetzt!" Ich war zunächst irritiert, hatte Angst, ihn mit Trommelschlägen zu verletzen … und begann auf sein nachdrückliches Fordern mit vorsichtigen Klängen. „Mehr, mehr!", rief er. Nach mehrminütigem Eintauchen in den Trommelbauch und meinem Spiel, kletterte er strahlend heraus. „Das war toll. Ich konnte die Musik fühlen. Ich hatte richtig Gänsehaut. Jetzt geht es mir richtig gut."*
Lars ermöglichte sich selbst über das Hören im Trommelbauch eine neue Resonanzerfahrung, die in seinem Leben, wie ich später in Gesprächen mit den Eltern erfuhr, zu kurz gekommen war. In meiner therapeutischen Arbeit zeigt sich immer wieder, dass Musikhören und Erleben ein Nachholen früher Erfahrungen ermöglicht. Wie viele familiär belastete Kinder war Lars von seinem Fühlen abgeschnitten. Lebendigkeit erfuhr er vor der Therapie nur, wenn er sich Kicks in Form unangemessenen Verhaltens bzw. Auffälligkeiten verschaffte. – Ein letzter Fall soll zeigen, wie unterschiedlich und individuell Kinder sich selbst auf die Spur kommen. Sind es bei Lars die körperlich gefühlten Schwingungen, die ein Ad-hoc-Erlebnis ermöglichten, so ist es bei Liane das langsame und schrittweise Annähern an die eigenen Gefühle.
Ein Erlebnis aus der Praxis veranschaulicht die Bedeutung von Resonanz:
Liane, ein Kind mit erstarrter Mimik, dem es schwerfällt, Freunde zu finden, lebt in einer Pflegefamilie. Ihre Eltern hatten sich wohl aufgrund von Drogenproblemen bis zur Verwahrlosung nicht um sie kümmern können. Auch in der Therapiegruppe sprach sie kaum. Irgendwann stahl sie sich an das Klavier und spielte fortlaufend „Alle meine Entchen", mehr oder weniger korrekt. Ich begann, Lianes Töne exakt nachzuspielen und auf diese Weise eine Kommunikation aufzubauen. Sie schaute mich überrascht an, zutiefst verwundert, ihr Gesicht verlor mit zunehmendem Spiel die Starre. Stundenlang wiederholten wir unser Kinderlied-Imitationsspiel, bis sich – nachhaltig – eine gewisse Offenheit einstellte und Liane nun die Erfahrung von Resonanz machen durfte. Ihre Lehrer erzählten später, das Liane plötzlich spricht und auf andere Kinder zugeht.*
Was Eltern tun können
Kinder brauchen Vertrauen schaffende Stimmen ihrer Eltern, die Geräusche ihrer Umgebung, Erlebnisse und Erfahrungen, die ihre ganz eigene kleine Welt zu einem sicheren Ort machen, ganz allgemein Ansprache und Zuwendung und vor allem wohlwollendes Gehört-werden. Sie verbinden sich mit allem und erleben sich als Teil ihrer vertrauten Umgebung – im Positiven wie im Negativen. Diese Verbindung und dieses Vertrauen öffnen ihnen den Weg zu eigenen Erfahrungen und Sichtweisen. Mit vielen sogenannten „schwierigen" Kindern, mit denen ich in meiner Tätigkeit als Musiktherapeutin arbeiten durfte, machte ich die Erfahrung, dass die in ihrem Verhalten bezeichnenderweise als unerhört (wie auch der Junge im Zug im Eingangsbeispiel), grenzübertretend usw. beschrieben wurden, oft tatsächlich genau diese Mangelerfahrung gemacht hatten [11].
Mit Kindern zusammen Musik zu hören und zu machen, die gut tut, kann die Eltern-Kind-Beziehung / Verbindung stärken und aufbauen – vom Mutterleib, über die Wiege bis in die Jugendzeit hinein. Die mit Geräuschen und Klängen oft als reizüberflutend erlebte Welt kann für das Baby durch das gesungene Lied der Eltern eine Strukturierung erfahren, vom Grundton zur Melodie als wiederkehrender Beziehungsanker. Ob Klänge, Töne oder miteinander Geräusche zu machen: Bei den Kindern kommt alles an, was Gemeinschaft fördert. Auch durch gemeinsames Hören von Musik können Eltern wunderbar mit ihren Kindern in Beziehung treten. Oft beschreiben mir Eltern, dass sie nicht wissen, was in ihren Kindern vorgehe. Über Musik und das Sprechen darüber kann wirkungsvoll eine Brücke ins Erleben gebaut oder eine neue Erlebniswelt eröffnet werden.
Fazit
Oftmals fragen mich Eltern, was sie mit ihren Kindern machen sollen? Dasein und zuhören, lautet oft meine Kurzantwort. Kindern wirklich zuzuhören, ist einer der wichtigsten Faktoren in der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und lässt sich durch keine noch so tolle Aktion oder durch außenwirksame Events ersetzen.
*Alle Fallbeispiele wurden anonymisiert und in ihren Details zum Schutz der Betroffenen verändert.
Quellen und Literaturverzeichnis