Sprachentwicklung Zuhören ist wichtiger als Reden - iStock © damircudicDer Grundstein für Sprache und Bildung wird in den ersten drei Jahren in der eigenen Familie gelegt – und nicht in der Kita

Die ersten Lebensjahre eines Kindes sind für Vieles entscheidend, auch und besonders für dessen Sprachentwicklung. Dem hatte man seitens des Bundes von 2016 bis 2022 besonders Rechnung tragen wollen, indem man sogenannte „Sprach-Kitas“ etablierte. Gegen das Auslaufen des Bundesprogramms, von dem etwa jede achte Kita durch eine zusätzliche pädagogische Kraft und damit rund 500 000 Kinder profitiert hatten, hagelte es Proteste. Eine Kita-Leiterin aus Mecklenburg-Vorpommern erreichte im Oktober 2022 sogar eine Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, weil ihre Petition fünfmal mehr Unterschriften erhalten hatte als erforderlich. Der Bund erklärte sich daraufhin noch bis Juni dieses Jahres bereit, die Kosten zu übernehmen. Im Anschluss sollten die Länder für die Sprach-Kitas weiterbezahlen, was mehr oder weniger heftige Diskussionen nach sich zog.

Weit verbreitet: Sprachprobleme von Kindern

Doch was bringt Sprachförderung in den Kitas wirklich? Ist sie so effektiv wie behauptet und erwartet? Und welche Folgen hat das alarmierende Ergebnis der jüngsten Bildungsstudie „Vorlesemonitor“, der zufolge ein Drittel der Eltern seinen Kindern niemals etwas vorliest? Laut IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) kann bundesweit jedes vierte Grundschulkind der vierten Klasse nicht richtig lesen.

Wer den aufschlussreichen Artikel zur frühen Förderung der Sprachentwicklung in der Zeitschrift „Pädiatrie“ liest, den der Münchner Kinderarzt Professor Walter Dorsch und der Augsburger Schulpädagoge Professor Klaus Zierer gemeinsam verfasst haben, den beschleicht unweigerlich das Gefühl: was da seitens der Politik in puncto Sprachförderung geschieht, zeugt eher von Aktionismus und kann bestenfalls eine Katstrophe, eine Sprachkatastrophe, verhindern. Denn dem für die Sprachentwicklung alles entscheidenden Umfeld ist kein eigenes Sprachprogramm gewidmet: den Familien.

Lebenslange Benachteiligung

Doch, so die Experten:

„Je mehr Eltern in den ersten drei Jahren mit ihrem Kind sprechen, desto größer wird dessen Sprachkompetenz – ein Vorsprung, der ein Leben lang bestehen bleibt.

Anders formuliert: Kinder, die in diesem Alter in sprachlicher und emotionaler Hinsicht benachteiligt werden, leiden ein Leben lang darunter!“ 

Die Autoren verweisen auf eine Untersuchung zweier Forscher, die 42 Familien mehr als zwei Jahre lang besucht und die Interaktionen zwischen Kindern und ihren Eltern beobachtet hatten.  Anfangs waren die Kinder zwischen sieben und neun Monate alt, am Ende der Studie drei Jahre. Die Familien wurden gemäß ihrem sozioökonomischen Status eingeteilt. Im Alter von drei Jahren unterschieden sich die Kinder im Hinblick auf den Wortschatz gewaltig:

Kinder aus einem bildungsnahen Milieu verfügten über einen fast dreimal größeren Wortschatz als Kinder aus einem bildungsfernen Milieu.

„Diese Unterschiede blieben nicht nur bestehen, sie nahmen im Laufe der Jahre noch weiter zu. Schule und Unterricht können den Rückstand nicht kompensieren“, schreiben Dorsch und Zierer.

Unterschiedliche Milieus verfestigen sich

Der Grund in der unterschiedlichen Sprachentwicklung sei auch klar: Kinder aus bildungsnahen Schichten hören bis zum Alter von drei Jahren etwa 45 Millionen Wörter, Kinder aus bildungsfernen Schichten nur rund 15 Millionen. Hinzu komme die Qualität des Miteinanderredens:

Kinder aus bildungsnahen Schichten hören bis zu siebenmal häufiger eine sprachliche Ermutigung, Kinder aus bildungsfernen Schichten dagegen doppelt so oft eine sprachliche Entmutigung.

Angesichts dieser Ergebnisse kämen wohl alle gut gemeinten Versuche, die defizitäre Sprachentwicklung in Vorschule oder Schule aufzuholen, zu spät, mutmaßen die Autoren, „weil die Kollateralschäden der Entmutigung kaum berücksichtigt werden können“. Vielmehr stelle sich die Frage, wie in der Vorschulzeit mit knappen Ressourcen das nachgeholt werden soll, was Familien bildungsferner Milieus mit und ohne Migrationshintergrund in den ersten drei Lebensjahren versäumt haben und Kitas aus qualitativen und quantitativen Mängeln nicht nacharbeiten können.

Familien stärken!

Sprachentwicklung Zuhören ist wichtiger als Reden - iStock © imagedepotproDie einzige Lösung liegt nach Ansicht der Autoren in der Stärkung der Familien und in der Kooperation mit Bildungseinrichtungen. Für Eltern aber gilt: Sie sollten so früh wie möglich und so intensiv wie möglich mit den eigenen Kindern reden, und zwar mit ihnen und nicht über sie hinweg.

Zuhören sei dabei wichtiger als Reden.

Nur so erfahre man, wie Kinder wirklich denken und fühlen.

„Business Talk“ wie „Setz dich hin!“, „Sei ruhig!“ oder „Wasch dich!“ sollten auf ein Minimum reduziert werden. „Befehle und Anordnungen zu verteilen, ist das Gegenteil von einem Gespräch.“ Wie man zu seinem Kind spreche, sei also wesentlich wichtiger als das, was man ihm sage. Gute Gespräche regen nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder zum Nachdenken an, wobei die Art, wie sie den Inhalt deuten, von der Beziehung zwischen ihnen abhängt.

Unsicheren Eltern empfehlen die Autoren ein paar Fragen zum Selbsttest:

  • Weiß mein Kind, dass ich es ernst nehme und sein Anliegen verstanden habe?
  • Spreche ich mit ihm in einer Atmosphäre der Wertschätzung?
  • Weiß mein Kind, dass es mir wichtig ist?
  • Kann ich aktiv zuhören?
  • Hat mein Kind Raum, sich mitzuteilen?
  • Weiß ich genau über mein eigenes, persönliches Anliegen Bescheid und kann ich dies ohne Vorwurf oder Anklage vermitteln?
  • Kann ich zu meinen eigenen Fehlern stehen?
  • Lachen wir manchmal zusammen?
  • Bin ich ein gutes Vorbild?

von Birgitta vom Lehn

Quelle

So gelingt die frühe Förderung der Sprachentwicklung, Walter Dorsch, Klaus Zierer, Pädiatrie September 2023, Jg. 35, Nr. 51, Sonderheft: Die ersten 1.000 Tage, S. 58 bis 61. inkl. Literaturnachweis

Links zum Thema

Gute Gespräche nützen mehr als viele Worte

Sprache – Das Lebenselixier des Kindes, Rainer Patzlaff, Verlag: Freies Geistesleben

Frühförderung für Kinder?