Elfenkinder - Foto Vanderlay © photocaseIn unserer lauten, turbulenten Welt haben anscheinend vor allem durchsetzungsfähige, selbstbewusste Macher das Sagen, diejenigen, die es „drauf haben“, coole Typen eben.

Ein Plädoyer für die Empfindsamen und Zartfühlenden

In einer Welt, in der in den Kindergruppen, den Schulzimmern, auf den Schulhöfen vor allem die Starken und die Lauten gesehen werden, wo Gewinnen das Ziel ist, in einer Kinderwelt, in der viele Kinder schon früh sich selbst überlassen, unbehütet, ungeborgen sind und sich deshalb besonders im Kampf um den Schoß der Erzieherin, die Zuwendung, die Erfüllung ihrer Bedürfnisse oder überhaupt um das Gesehen-werden behaupten müssen, haben es manche Kinder besonders schwer.

Sie scheinen in dieser Welt noch nicht angekommen zu sein

Ich nenne sie „Elfenkinder“, weil sie wirken, als seien sie nicht so ganz von dieser Welt oder besser gesagt, noch nicht richtig angekommen. Es sind zarte, scheue, auf fast unwirkliche Weise hübsche Kinder. Es sind die, die leicht übersehen werden, weil sie weniger laut, weniger präsent, weniger Raum beanspruchend sind. Meist sind sie von zarter Konstitution, durchscheinend. Leicht auf den Zehenspitzen gehend kommen sie daher, leise, nicht stimmgewaltig, wenig rauflustig, aber leicht kränkbar. Besonders empfindsam, fühlen sie sich schnell angegriffen, ziehen sich zurück, sind weinerlich, voller Selbstmitleid und gleichzeitig mitfühlend und umsichtig. Der kleinste Kratzer ist eine Zumutung des Lebens für das Kind und muss noch lange unter Pflastern verborgen werden. Sie sind empfindlich bei zu viel Wärme, aber vor allem bei zu viel Kälte. Wolle kratzt ganz unerträglich und die Strümpfe mit dem Gummi sind auch nicht auszuhalten. Essen mögen sie wenig, oft sind sie mäkelig, wählerisch, Süßes wird meist von ihnen bevorzugt.

Sie werden beim Austeilen vergessen,  man vermisst sie nicht gleich, wenn sie nicht da sind.

Sie stehen nicht im Mittelpunkt

Elfenkinder - Foto iStock © Paha-LEs sind nicht die offensichtlichen Siegertypen, die mit dem großen Freundeskreis, nicht die, die im Mittelpunkt stehen, oft aber die mit der wirklich echten Freundin, dem wirklichen Freund und Seelenverwandten. Oder jedenfalls die mit der größten Sehnsucht nach einem solchen. Sie sind wenig manipulativ in ihren sozialen Beziehungen, man kann sich meist auf ihre Treue verlassen. Sie sind keine Anführer, aber auch keine Mitläufer. Eher die, die beobachtend am Rande stehen oder sich scheinbar um das ganze soziale Durcheinander, das in Gruppen leicht entstehen kann, nicht besonders kümmern.

Oft sind sich diese Kinder selbst genug. Viele sind aber auch von einer großen Sehnsucht erfüllt so zu sein, wie die anderen. Als Jugendliche artikulieren sie ihre Situation so ähnlich: „Ich hatte immer den Eindruck, dass mir der Zugangscode zum richtigen Leben fehlte“.

Sie brechen in Tränen aus über den toten Vogel, können aber auch ganz ungerührt ihrer Beschäftigung nachgehen, während ein anderes Kind neben ihnen einen Wutanfall hat und zornige Tränen vergießt.

Sie brauchen die verlässliche Bindung an die eine Erzieherin

Vielen Erziehern bleiben sie ein Rätsel, weil sie sich nicht jedem anvertrauen, sondern sich schnell und eindeutig für „ihre“ Erzieherin entscheiden und diese Beziehung eifersüchtig verteidigen. Alle anderen Erzieher bleiben für sie Luft.

Es kann auch sein, dass so ein kleiner Elf  ganz für sich bleibt in seiner Kindergartengruppe, womöglich über einen großen Zeitraum von sich aus an keinen der anwesenden Erwachsenen das Wort richtet. Nicht traurig, sondern selbstgenügsam. Oft bleiben diese Kinder  das ganze erste Kindergartenjahr beobachtend am Rande der Gruppe stehen, ohne sich in das Spiel der anderen einzuklinken. Am liebsten richten sie sich eine kleine Höhle, ein kleines Reich ein, wo sie ganz für sich sein können.

Ich kenne ein solches Kind, inzwischen sechsjährig, das in seinem Zimmer einen Pappkarton stehen hat, in den es sich von Zeit zu Zeit verkriecht, obwohl es kaum noch hineinpasst, so als bräuchte seine zarte Haut ein äußere Begrenzung, damit es sich besser spüren kann und einen Schutz, damit es weniger verletzbar ist.

Gerne bleiben die Elfenkinder zu Hause, haben kein Bedürfnis, bei Freunden zu übernachten oder sich auf Rummelplätzen zu tummeln. Schnell ist alles zu laut, zu viel, zu anstrengend. Obwohl ängstlich, auch im Sozialen, erlebt man immer wieder, dass sie dann doch bereit sind für einen Freund einiges zu wagen, wenn er in Not ist.

Sie brauchen viel seelische Hülle

Sie überraschen mit philosophischen Fragen über Gott und die Welt und offenbaren eine erstaunliche seelische Tiefe und Nachdenklichkeit.

Es gilt bei diesen Kindern, ihnen zu helfen, sich besser in der Welt zu verankern, aber auf keinen Fall um den Preis, ihre Zartfühligkeit abzulegen zugunsten größerer Robustheit.
Hingegen müssen sie darin unterstützt werden aus dem möglichen Gefangensein in sich selbst, für den anderen Menschen offen zu werden. Denn gerade im Mitmenschlichen liegen ihre Qualitäten. Sie brauchen viel seelische Hülle, Reizarmut und einen Erwachsenen, der ihnen Zuversicht in die Welt vorlebt und vermittelt.

Sie brauchen im Kindergarten behütete und behütende Gruppensituationen mit verlässlichen Menschen, mit klaren Strukturen, mit Rhythmus und Ritualen, mit einer konstanten Gruppe, in der sie Sicherheit und Vertrauen erleben. Das gilt zwar prinzipiell für alle kleinen Kinder, aber insbesondere für die Elfenkinder. Alles Unbestimmte, Offene, zu Laute überfordert sie.

Das Konzept der „offenen Gruppen“ taugt ihnen nicht

Manchen Kindern mag das Konzept der offenen Gruppen in den Kindergärten mit den vielen täglichen Wahlmöglichkeiten entgegen kommen, aber – wenn überhaupt –  sicher erst denen, die kurz vor dem Schulanfang stehen und  bis dahin in „Ihren“ Gruppen ein festes Fundament an Verlässlichkeit, Wärme und Behütetet-sein erleben konnten.

Vielleicht sind in diesem Sinne die Elfenkinder auch Seismographen für das, was kleinen Kindern überhaupt angemessen ist, was sie wirklich brauchen, weil sie uns deutlicher  zeigen wo Überforderung entsteht, weil Konzepte und Erwachsenenideen nicht kindgemäß sind.

Grundsätzlich gilt natürlich: Es ist immer genau hinzuschauen, weshalb sich ein Kind so verhält, wie es sich verhält. Möglicherweise steckt bei einem solchen Elfenkind eine große Kränkung dahinter, eine Not, eine schwierige häusliche Situation, vielleicht fühlen sie sich allein gelassen, werden nicht gesehen oder erleben zu große Strenge oder zu wenig Halt. Dann muss dem Kind geholfen werden.

Unsere Welt ist auf diese Menschen besonders angewiesen

Ist aber eine das Kind bedrängende äußere Situation auszuschließen und es gelingt, einen objektiven Blick auf das Kind zu werfen, sich auf es einzulassen, dann kann  die Qualität einer solchen friedliebenden, nachdenklichen, empathischen Existenz  zu Tage treten und sich entfalten. Und auf solche sind wir in unserer oft kalten Welt doch insbesondere angewiesen.

von Gabriele Pohl