Kindermund - Foto iStock © stock_colors

Erwachsene freuen sich über Kindersprüche, die Kindergartenkinder aus heiterem Himmel von sich geben. Manchmal rätseln wir darüber, was in den Köpfen der Kinder dabei vorgeht. Wir amüsieren uns über diese Kinderaussagen und gehen davon aus, dass es sich um die rege Fantasietätigkeit der Kinder handelt. Wenn wir darüber lachen, stellen wir öfters fest, dass die Kinder irritiert sind.

Warum ist das so? Kinder können in dieser Zeit noch nicht durchgängig logisch denken und schaffen sich eine eigene Welt, die in den Kindersprüchen manchmal zum Vorschein kommt. Da dies eine ernste Angelegenheit für die Kinder ist, sind sie über das Lachen der Erwachsenen irritert.

Was in solchen Fällen in den Köpfen der zwei- bis sechsjährigen Kinder passiert, kann der bekannte Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget genau erklären. „Mit seiner Entwicklungspsychologie und am Beispiel von solchen Kindersprüchen lassen sich das Denken und Verhalten der kleinen Kinder gut verstehen“, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin Dr. phil. Erika Butzmann. Lesen Sie im nachfolgenden Beitrag wie wissenschaftliche Erkenntnisse unter Einbeziehung der Temperament- und Hirnforschung die Beziehung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen verbessern kann.

von Stiftung FürKinder

Eine kleine Reise in die Entwicklungspsychologie

Die ersten Worterfinder begegnen uns im dritten Lebensjahr

Am Beginn der Sprachentwicklung steckt das Kind in der Phase der ausschließlichen Ichbezogenheit. Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt und kann sich in andere noch nicht hinein versetzen. Lediglich durch die Gefühlsansteckung reagiert es auf das Leid anderer. Nach Piaget ist das die Zeit der sensomotorischen Entwicklung, in der das Kind aufgrund seiner biologischen Antriebe des Neugierverhaltens, der Nachahmung, des Erkundungsverhalten, der Leistungsbereitschaft und des schöpferischen Erfindens über die Motorik und die Sinne seine Umwelt erforscht. Dieses schöpferische Erfinden bemerken Erwachsene auch an den Aussagen der Kinder, wenn sie für eine Sache die Bezeichnung noch nicht kennen. Dann benutzen sie einfach einen Begriff, den sie kennen, dessen Sinne sie aber noch nicht verstanden haben:

In seinem kleinen Rucksack trägt Markus, 2 ½ , eine Stoffmaus spazieren. Die Mutter fragt ihn: „Schläft die Maus da drin?“ Markus antwortet ganz empört: „Nein!“ Die Mutter: „Ja, was macht sie denn dann im Rucksack?“ Markus: „Heia!“

Der 2-jährige Bernd schleicht sich nachts ins Elternbett. Plötzlich ein furchtbares Geschrei. Erschreckt fragt die Mutter, was los ist; denn Bernd sitzt auf der Bettdecke und weint: „Mama, ich kann gar keinen Parkplatz finden!“

Anna, 2 ½, hatte sich über ihre Mutter geärgert. Beim Frühstück verweigert sie die sonst heißgeliebte Marmelade. Ihr Vater ist erstaunt: „Magst du heute keine Marmelade aufs Brot?“ Anna: „Ich mag keine Mamalade, will Papalade!“

Der kleine Nils leckt am Kleid der Tante, die gerade zu Besuch gekommen ist. Dann stellt er fest: „Du hast recht, Mama, das Kleid der Tante ist wirklich geschmacklos“.

Diese Kinder befinden in der vorlogischen Phase (Piaget 1983, S. 180), in der sie nichts hinterfragen und nach keiner Logik streben. Sie verbinden einfach die verstandenen Wörter und schaffen daraus ihren eigenen Sinn; denn ihr Denken ist noch vollkommen ichbezogen.

Der Kindermund der ichbezogenen Dreijährigen

In der sozialen Entwicklung kann das Kind bis ungefähr drei Jahre die Interessen anderer nicht erkennen, denn sein eigener Standpunkt ist der einzig mögliche. Es glaubt, dass alle so denken wie es selbst:

Die 3-jährige Maja wird gefragt, was sie sich zum Geburtstag wünscht. Spontan antwortet sie: „Alles, was ich brauche“.

Isabella, 3 Jahre, soll schlafen. Papa ist noch beim Fernsehen. Nach einer Weile kommt sie aus dem Schlafzimmer geschlichen und fragt ganz sanft: „Papa, soll ich noch ein bisschen bei dir bleiben, damit du nicht so allein bist?“

Die 3-jährige Marita zieht die kleine Katze am Schwanz. Ihre Mutter schimpft: „Du darfst doch die süße kleine Katze nicht am Schwanz ziehen, das tut ihr doch weh!“ Unschuldig schaut Marita ihre Mutter an und meint: „Aber ich ziehe sie doch nicht am Schwanz. Ich halte sie nur, ziehen tut sie selber!“

Ein Schuldbewusstsein ist noch nicht vorhanden. Die Kritik der Mutter wird jedoch als Anlass zum Selbstschutz genommen, ohne zu verstehen, dass das eigene Handeln nicht in Ordnung ist.

Mit drei Jahren machen sich die Kinder die ersten Gedanken über das eigene Leben in der Zeit, ohne schon ein Zeitverständnis entwickelt zu haben. Sie befassen sich zuerst mit der Vergangenheit, denn sie fragen nach ihrem Status als Baby und interessieren sich für Fotos von sich selbst als Baby. Danach denken sie an eine zukünftige Zeit, denn sie stellen Fragen nach dem Tod und der eigenen Heirat. Dies sind Familienthemen, die sie jetzt wahrnehmen, ohne sie zu verstehen:

Der 3-jährige Thomas will seine Mama heiraten. Diese erklärt ihm, dass das nicht geht. Darauf sagt das Kind sehr traurig: „Ja, soll ich denn ganz allein vor dem Altar stehen?“

Die 3-jährige Nadine bekommt ein Geschwisterchen. Als sie gefragt wird, was sie sich wünscht, antwortet sie: „Einen Bruder, damit ich später jemanden zum Heiraten habe!“

Das 3-jährige Kind nimmt alles Gesagte wörtlich, es versteht keine Ironie und keine Scherze:

Der Vater will zum Volkslauf. Er fordert alle Familienmitglieder auf: „Kommt mit, damit ihr mich anfeuern könnt.“ Da heult der 3-jährige Tim los: „Ich will aber meinen Papa nicht verbrennen!“

Marie sieht ihre Mutter in der Badewanne liegen, bei der nur der Kopf aus dem Schaumwasser herausguckt. Sie schaut ganz entsetzt, rennt raus und schreit: „Papi, Papi, schnell, die Mama kocht über!“

Michael trödelt. Die Mutter schimpft: „Langsam verliere ich die Geduld!“ Michael: „Soll ich dir suchen helfen?“

Stefanie ist erkältet. Mitfühlend sagt die Mutter: „Hoffentlich geht dein Husten bald weg!“. Stefanie: „Wohin denn?“

Die Vierjährigen denken weiter

Im Alter zwischen drei und vier Jahren bildet sich langsam die Fähigkeit aus, die anderen zu verstehen. Das ist ein sehr mühsamer Prozess für die Kinder, weil sie vorerst nur zwei verschiedene Meinungen oder Wahrnehmungen hintereinander bedenken und nicht gegeneinander abwägen können. Das heißt, Beziehungen zwischen zwei verschiedenen Dingen sind noch nicht durchgängig möglich, sie werden häufig miteinander vermischt:

Der 3-jährige Bastian flötet seiner Mutter mit seiner süßesten Stimme ins Ohr: „Mami, wenn du ganz lieb zu mir bist, suche ich dir eine schöne Fernsehsendung aus, vielleicht die mit der Maus. Und die schau‘ ich dann für dich an.“

Als die Mutter von Tjark, 4 Jahre, ihn nachmittags vom Kindergarten abholt erfährt sie, dass Tjark mittags allein in der Küche essen musste, weil er einer Erzieherin den ‚Vogel gezeigt‘ hatte. Zuhause fragt die Mutter, warum er allein in der Küche essen musste. Tjark weiß darauf keine rechte Antwort. „Vielleicht“, überlegt er, „sollte ich mal ausprobieren, ob es in der Küche auch schön ist zu essen“. „Aber Tjark“ hakt die Mutter nach, „du durftest nicht mit den anderen essen, weil du einer Erzieherin den Vogel gezeigt hast!“ Tjark sieht seine Mutter empört an. „Das stimmt gar nicht“, entrüstet er sich, „ich hatte ja gar keinen Vogel dabei!“

Mit vier Jahren wissen die meisten Kinder, dass ihre Gedanken in ihrem Kopf sind und dass die anderen auch Gedanken im Kopf haben. Zu dieser Zeit malen sie auch Kopffüßler.

Wie wenig strukturiert dieses Wissen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch ist, zeigt die folgende Episode:

Ein vierjähriges Mädchen antwortet auf die Frage einer Erzieherin, wann man schlau ist: „Wenn man mit dem Kopf denkt“. Die Erzieherin fragt „Wie geht das?“ Das Kind antwortet: „Ganz einfach, wenn man mit dem Finger neben das Auge an den Kopf drückt!“

Das Wissen über die Gedanken im Kopf beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Gedanken im Kopf sind. Die weitere Frage der Erzieherin wird auf synkretistische Weise beantwortet, es wird kein logischer Zusammenhang gesucht und das eigene Denken nicht hinterfragt.

Kindermund 1 - Zeichnung © Antonia ButzmannPiaget nennt dieses vorlogische Denken auch synkretistisch oder transduktiv, weil die Kinder in dieser Zeit willkürliche Beziehungen zwischen verschiedenen Wahrnehmungen herstellen. Das Kind sieht vielerlei, oft mehr als wir, es beobachtet insbesondere eine Menge Einzelheiten, die wir nicht wahrnehmen.

Aber es ordnet seine Beobachtungen nicht, es ist noch nicht fähig, an mehr als ein Ding zugleich zu denken (Piaget 1981, S. 218). Die Ergebnisse aus der Hirnforschung bestätigen dies:

Die bekannte Überproduktion von Nervenzellen und Verbindungen in den ersten Lebensjahren hat noch keine Struktur, sodass durchgängig logisches Denken noch nicht möglich ist. Das Denken der Kinder ist deshalb unsystematisch, manchmal chaotisch, zwangsläufig fantasievoll, vorlogisch und immer auf das Kind selbst bezogen:

Der 4-jährige Ivo sagt zur Mutter, dass er auch mal ein Baby habe möchte. Die erklärt ihm, dass er sich zuerst eine Frau suchen müsse, dann könnte er ein Kind haben und Papa sein. Ivo überlegt, schließlich fragt er ganz bestürzt: „Aber Mama, wenn das Baby da ist, was mach‘ ich dann mit der Frau?“

Auf die Frage der Mutter, wo Sebastian, 4 Jahre, war, antwortet er: „Ich habe mich versteckt!“ – „Und wer hat dich gesucht?“ – „Ich habe mich selber gesucht. Aber ich hab mich nicht gefunden!“

Iris, 4 Jahre alt, zeigt auf eine braune Stelle am Apfel: „Guck mal, da war der Wurm drin!“ Die Mutter: „Nein, da hat sich der Apfel gestoßen, das ist wie ein blauer Fleck bei dir, wenn du dich stößt.“ Iris, den Apfel drehend und grübelnd: „Und wo sind die Tränen?“

Die Fünfjährigen bedenken schon ein wenig, was die anderen wollen

Im weiter entwickelten sozialen Verstehen der 4- bis 5-Jährigen weiß das Kind dann, dass die anderen andere Gedanken und Wünsche haben. Seine eigenen Wünsche stehen jedoch noch vollkommen im Vordergrund. Es kennt die Regeln und weiß, dass es sich daran halten muss; versteht den Sinn der Regeln jedoch noch nicht. Ein schlechtes Gewissen existiert noch nicht, die Bedürfnisse anderer können bei der Konzentration auf die eigenen Wünsche nicht gleichzeitig bedacht werden:

Der 5-jährige Jannis hat ein Tüte mit Plätzchen geschenkt bekommen, die er sofort vertilgt. Die Mutter fragt ihn, ob er dabei auch an seine kleine Schwester gedacht hat. Die Antwort: „Hab ich Mama. Ich hab die ganze Zeit gedacht, hoffentlich kommt sie jetzt nicht rein, solange noch Plätzchen da sind!”

Die 5-jährige Sandra nach einem Wettlauf mit ihrem 3-jährigen Bruder: „Mama, gell, es ist egal wer Erster ist, Hauptsache ich bin`s“

Das Mädchen hat die Regel der Mutter, das Konkurrenzverhalten zu unterlassen kurz im Kopf, dann ist ihr Wunsch, Erste zu sein wieder sehr stark und sie stellt keinen Zusammenhang zwischen beiden Aussagen her.

…und stellen intuitiv einfache Zusammenhänge her

Das logische Denken ist bei 5-Jährigen noch nicht ganz ausgereift, so dass häufig einfache Zusammenhänge hergestellt werden:

Dennis, 5 Jahre, sinniert vor sich hin und sagt dann: „Wenn es keine Turmuhren gäbe, wüsste die Sonne nicht, wann sie untergehen muss!“

Catarina, 5 Jahre: „Weil sich die Erde dreht, liege ich manchmal morgens verkehrt herum im Bett.“

Rebecca, 5 Jahre: „Der Schneemann hat keine Schneefrau, weil es ihm nicht warm werden darf.“

Daniel, 5 Jahre: „Papa, wo bin ich geboren? – „In Linich im Krankenhaus.“ – „Und Du?“ – „Auch in Linich im Krankenhaus“ – „Da hätten wir uns aber treffen müssen.“

Die Sechsjährigen versuchen, einen Überblick zu bekommen

Mit 6 Jahren kann das Kind zwei unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander abwägen, versteht jetzt auch den Sinn der Regeln, weil die Gleichberechtigung der Bedürfnisse erkannt wird. Das vor-logische Denken geht jetzt über ins logische Denken. Dieses neue Denken und Empfinden führt jedoch noch häufig zu Irritationen oder auch zu Selbstüberschätzungen, die sich so zeigen können:

Ein 6-Jähriger bemüht sich, gute Umgangsformen zu zeigen. Bei dem Besuch eines Bekannten seines Vaters in dessen Gartenlaube öffnet er dort den Kühlschrank und fragt höflich: „Darf ich mir etwas anbieten?“

Stefan unterhält sich mit seinem Freund Frank, beide 6 Jahre alt.  –  Stefans Großmutter war soeben von einer Grippe genesen. Frank will nun von Stefan wissen: „Wie lange lebt deine Oma noch?“  Stefans Antwort: „Das weiß nur der liebe Gott. Das ist nämlich wie beim Joghurt. Da weiß auch nur die Firma das Haltbarkeitsdatum.“

Diese Aussagen sind noch nicht als ironisch zu betrachten, sondern werden noch ganz unbefangen geäußert.

Um den in diesen Kindersprüchen hervorscheinenden Denkprozess der Kinder nicht zu unterbrechen, sollten zu Beginn die „falschen Aussagen“ nicht korrigiert werden. Denn diese Kinder kommen von selbst zu neuen Erkenntnissen. Erst bei den Fünfjährigen ist es bei den Aussagen zum Weltverständnis erkenntnisfördernd, wenn falsche Annahme richtig gestellt werden.

von Erika Butzmann

Quellenangaben

Bischof-Köhler, D. (1989): Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Huber-Verlag, Bern
Butzmann, E. (2011): Elternkompetenzen stärken. Rheinhardt-Verlag, München
Butzmann, E. (2020): Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Psychosozial-Verlag, Gießen
Edelstein, W., Habermas, J. (Hrsg.) (1984): Interaktion und soziales Verstehen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt.
Piaget, J. (1981): Urteil und Denkprozess beim Kind. Ullstein-Verlag, Frankfurt
Piaget, J. (1983): Sprechen und Denken des Kindes. Ullstein-Verlag, Frankfurt
Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Suhrkamp, Frankfurt
Scharlau, I. (1996): Piaget zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg

Speichert, H. (1991): Kindermund. Rowohlt Verlag, Hamburg
Rubrik ‚Kinder – Kinder‘ und ‚Kindermund‘ in der Zeitschrift „Eltern“
Tagespresse

Links zum Thema

Empathie und soziales Verstehen

Elternkompetenzen stärken, Dr. Erika Butzmann, Reinhardt-Verlag, München

„Kinderzeichnungen und die Entwicklung des Selbsterkennens“, Erika Butzmann, Magazin für uns, Ausgabe: angenommen

Hallo, hier spricht mein Gehirn: Eine Entdeckungsreise von der Zeugung bis zum Schulanfang, Gunther Moll, Ralph Dawirs, Svenja Niescken, Beltz-Verlag