Die Wahrnehmung von Kindheit hat sich historisch stark gewandelt. Während wir heute Kindheit als einen geschützten Lebensabschnitt betrachten, war dies nicht immer so, wie der Historiker De Mause beschreibt:
„Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.“ [1]
Dies kann man sehr gut in dem Film: Schwabenkinder von Jo Baier nachempfinden. Der Film illustriert eindrucksvoll die harschen Lebensbedingungen, die viele Kinder historisch ertragen mussten, und verdeutlicht, warum die Idee von Kindheit als Schonraum erst später aufkam.
Die Entstehung von Kindheit als eigenständigem Lebensabschnitt
Historisch betrachtet ist die Konstruktion einer Trennung von Kindheit und Erwachsenem noch sehr jung. Kindheit als „Schonraum“ gegenüber der Erwachsenenwelt war nur auf das zarteste Kindesalter beschränkt, auf genau die Zeit, in der Kinder nicht ohne Erwachsene existieren konnten.
Sobald sie laufen konnten, wurden sie in die Welt der Erwachsenen integriert. Lediglich die Körpergröße blieb zu diesen Zeiten ein Unterscheidungsmerkmal, Erwachsene dachten oft kindlich, Kinder wurden vor der Gedankenwelt der Erwachsenen nicht geschont. Ein grundlegender Wandel dieser Sicht setzte erst im 17. Jahrhundert ein.
Kindheit als soziales Artefakt: Bindung und Beziehungen im Wandel
Kindheit ist Postman zufolge vielmehr als soziales Artefakt (kulturell und gesellschaftlich geschaffenes Produkt) und weniger als biologische Kategorie aufzufassen: Bindung und Beziehungen hängen stark von gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen, ökologischen Grundlagen ab [2].
Aries beschreibt zwei Strömungen, einerseits „familiäres Gehätschel“, das sich innerfamiliär abspielte, die zweite schlug sich in Richtlinien wie Kinder aufgezogen werden sollten nieder, vor allem durch männliche Autoritäten (Vertreter der Kirche, des Rechts und der Moralisten) [3].
Erst um diese Zeit herum kam neben den Naturwissenschaften, dem Nationalstaat und der Religionsfreiheit auch Kindheit als soziales Prinzip auf. Unter dem Einfluss der Renaissance entdeckte man, dass Kinder nicht von sich aus reif seien für das Leben, sie seien nicht nur kleine Erwachsene, deren Arbeitskraft genutzt werden konnte, sondern, man sollte sie einer speziellen Einflussnahme, etwa einer Quarantäne in Klöstern, unterwerfen, um gezielt auf sie Einfluss zu nehmen. Erst im Laufe der Zeit bis hin zum 19. Jahrhundert wurde Familie zu einem unabdingbaren Ort affektiver Verbundenheit zwischen Ehegatten und Eltern und Kindern. Im Mittelalter noch wurden die gefühlsmäßigen Bindungen außerhalb der Familie gesucht, bei Nachbarn, Greisen, Freunden, Dienern. Im 19. und 20. Jahrhundert begannen Eltern sich zunehmend für ihre Kinder als eigenständige Persönlichkeiten zu interessieren. Die Sicht, Kindheit als kurze Zeit der Schonung aufzufassen, hielt sich besonders lang und hartnäckig in den unteren sozialen Schichten.
Die Auffassung vom Kindsein und seiner Entwicklung zu einer höheren kulturellen Bedeutung ging einher mit materiellen und intellektuellen Möglichkeiten, die in den jeweiligen Subkulturen herrschten (in der Bauernfamilie anders als in der Handwerksfamilie, Bürgerfamilie etc.)
Im Bürgertum setzte sich als erstes die Kennzeichnung und Auffassung von Kindheit als einem eigenständigen, schützenswerten Lebensabschnitt durch.
Die neue Rolle der Familie: Von der Arbeitskraft zur emotionalen Bindung
Erst im 20. Jahrhundert wurde Kindheit zu einem Gut, das von Arbeit frei sein sollte. Die Verschiebung der Kinderaufzucht in den Schonraum der pädagogischen Institutionen schützte vor Willkür und extremer Vernachlässigung – zugleich fand nun ein Ausschluss von bestimmten Lebensbereichen statt (Krankheit, Tod, Arbeitswelt).
Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts hält die kulturelle Überzeugung Einzug, Kinder bestmöglich auszubilden; seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es die Beziehungsform der Unterstützung zwischen Eltern und Kindern.
Kindheit in der Neuzeit: Chancen und Herausforderungen
Kindheit als stärkender Faktor für eine gesunde Entwicklung zu begreifen, steht teils im Widerspruch zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Während Präventionsarbeit, Diagnostik und medizinische Versorgung heute umfangreicher denn je sind, zeigt sich, dass viele Kinder dennoch zunehmend unter ihrer Lebenssituation leiden. Bereits vor dem achten Lebensjahr haben zahlreiche Kinder therapeutische Interventionen hinter sich, die oftmals notwendig erscheinen, um Belastungen zu bewältigen.
Soziale Probleme:
Ein zentrales Problem stellt die wachsende Armut dar, die als entscheidender sozialer Faktor wirkt. Besonders alleinerziehende Mütter sind häufig betroffen, was zu einem Mangel an stabilen und präsenten Bezugspersonen für ihre Kinder führt. Vielfach fehlen familiäre Grunderfahrungen, wie sie durch Geschwisterkinder oder beständige Elternbeziehungen vermittelt werden könnten. Anstelle verlässlicher Bezugspersonen treten zunehmend Medien, insbesondere Fernseher und Computerspiele, deren Konsum drastisch zugenommen hat.
Geißler beschreibt treffend: „Familien mit halbwüchsigen Kindern und einem Fernsehapparat mit 53 Programmen stellen zweifelsohne die geeigneten Studienobjekte für Belastungsanalysen postmoderner Zeitkoordination dar. Sie erleben den Widerspruch zwischen dem Glück, das ihnen durch die vielen Möglichkeiten offeriert wird, und ihrem eigenen Unglücklichsein, wenn sie diese Möglichkeit nutzen wollen.“ [4]
Unsicherheiten und Belastungen:
Die Kindheit der Neuzeit zeigt sich neben den gestiegenen Wahlmöglichkeiten auch von einem Verlust an Sicherheit geprägt. Gewalt, Amokläufe, Kriege und den Verlust nahestehender Beziehungspersonen sind Quellen einer tiefen Verunsicherung, der Kinder heute vom frühesten Alter an vielfach alleine und hilflos ausgeliefert sind. Diese geänderten Lebensbedingungen führen zu verändertem Grunderleben bei Kindern, die sich nicht selten in Verhaltensauffälligkeiten wie Unruhe, Panik, Schulverweigerung etc. äußert.
Ein Appell für die Kindheit: Eltern stärken, Kinder schützen
Wie der Film: Schwabenkinder eindrucksvoll zeigt, brauchen Eltern vor allem einen unterstützenden sozialen Rahmen, um ihren Kindern feinfühlig, geduldig und angemessen begegnen zu können. Sozial geschwächte Eltern weiter zu belasten, bedeutet, auch die Kinder nachhaltig zu schwächen und deren Entwicklung zu gefährden.
Links zum Thema
Schwabenkinder: Ein Film, der zu Herzen geht und nachdenklich stimmt, Jo Baier, Regisseur
Die Schwabenkinder, Hütekinder und ihr beschwerlicher Weg in das Schwabenland, Bauernhaus-Museum Allgäu-Oberschwaben Wolfegg
Geschwisterbeziehungen eine konkrete Anschauung
Frühkindliche Bindung und Bildung aus Sicht entwicklungspsychologischer Notwendigkeiten, Prof. Dr. Eva Rass, Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin