Kindheitsgeschichten - Foto © VoralbergInterview mit Dr. Franz Josef Köb – Leiter der renommierten Vortragsreihe „Wissen fürs Leben“ bei der Arbeiterkammer Vorarlberg. Das Interview führte Jennifer Hein für fürKinder.

fürKinder: Lieber Herr Köb, sowohl in Ihren Vorträgen zu den „Voralberger Kindheitsgeschichten“ als auch in den immer wiederkehrenden Experten-Vorträgen zur frühkindlichen Entwicklung in der Reihe „Wissen fürs Leben“  beweisen Sie eine große Nähe zu den Fragen gesunden Aufwachsens von Kindern in unserer Gesellschaft. Darüber hinaus erleben Sie als Präsident des Vorarlberger Kinderdorfs die unterschiedlichsten Kinderschicksale hautnah mit. Was hat Sie darüber hinaus dazu bewegt, sich mit  Kindheitserinnerungen zu beschäftigen?

Dr. Franz Josef Köb: Anlass ist das Buch „Kindheit(en) in Vorarlberg“, welches das Vorarlberger Kinderdorf im Frühjahr 2017 heraus gebracht hat. Dieses Buch hat mehrere Teile. Ein besonders faszinierender Teil sind 38 Kindheitsgeschichten von ganz unterschiedlichen Menschen. Diese Geschichten haben mich so „gepackt“, dass ich daraus unbedingt etwas machen wollte. Es sind keineswegs Geschichten, die nur in und für Vorarlberg interessant sind, sondern die Bedeutung der Geschichten geht weit über Vorarlberg hinaus. Denn was Kinder emotional erleben und wie sich das psychisch auswirkt, ist völlig unabhängig davon, ob man in Vorarlberg, in Westfalen, in Graubünden, in Thüringen oder im Südtirol aufgewachsen ist.

Zugang finden zur eigenen Kindheit

fürKinder: Welche Bedeutung haben Kindheitsgeschichten aus Ihrer Sicht?

Dr. Franz Josef Köb: Kindheitsgeschichten bringen uns in Resonanz mit unserer eigenen Kindheit. Bei meinen Vortrags-Lesungen erfahre ich immer wieder, dass viele Menschen keinen Zugang zu ihrer Kindheit haben, ihre frühen Erfahrungen sind wie verschüttet. Doch durch die Geschichten und auch durch die Lieder, die ich dazu spiele, werden die eigenen Erfahrungen – die schönen, aber auch die schmerzhaften – wieder lebendig. Das Bewusstmachen der Kindheitserfahrungen hilft uns, zu verstehen, wie wir so geworden sind, wie wir heute sind. Der österreichische Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Paulus Hochgatterer ermuntert, sich zu trauen, sich für die eigene Biografie zu interessieren, es zu wagen, sich die spannende Frage zu stellen: „Wie bin ich geworden, der/die ich bin?“ Dabei helfen Fotos, Aufzeichnungen der Eltern und eben Geschichten. Und er sagt, dass manchmal allein eine solche Wanderung durch die Erinnerung hilft, Frieden mit der Kindheit schließen zu können.

Kleine Kinder erfordern unsere ganze Aufmerksamkeit

fürKinder: „Die Kindheit war zu allen Zeiten eine Lebensphase ohne besondere Bedeutung, eine Phase in der die Kinder entweder nach strengen Regeln aus- und zugerichtet wurden (mittelalterlicher Adel, bürgerliche Familie) oder im Alltagsleben mitliefen und dabei und – wenn vorhanden – in der Schule das Notwendige lernten. Ihre Befindlichkeit dabei war eigentlich kein Thema. Erst seit Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die Kindheit allmählich, und dann immer stärker in den Fokus von Wissenschaft und Gesellschaft gerückt. Inzwischen ist es Gemeingut, die (frühe) Kindheit, die Bedingungen unter denen sie abläuft, als entscheidende Phase für die Persönlichkeitsbildung, für Chancen und Risiken ganzer Lebensläufe zu betrachten. Ist diese Entwicklung eines neuen Bewusstseins segensreich? Hilfreich für das Gelingen von Aufwachsen, für eine glückliche Kindheit?

Dr. Franz Josef Köb: Leider hat man viel zu lange gedacht: „Säuglinge, kleine Kinder verstehen nichts, empfinden nichts und bekommen nichts mit.“ Und man hat sie auch gar nicht als eigenständige Persönlichkeiten gesehen. Das war ein katastrophaler Irrtum. Jede/r, die/der mit kleinen Kindern zu tun hat und nur ein bisschen achtsam ist, weiß, dass kleine Kinder alles „aufsaugen wie ein Schwamm“ und alles speichern. Es ist also ganz entscheidend, welche Eindrücke sie bekommen, wie sie angeregt, gefördert, gesehen und beantwortet werden. Das sollte allen Eltern, Großeltern und ErzieherInnen bewusst sein.

Es macht mich jedes Mal traurig, wenn ich auf der Straße oder auf dem Bahnhof Kleinkinder sehe, die im Kinderwagen sitzen, ohne dass die Mutter sie anschaut oder mit ihnen spricht, weil sie mit ihrem Smartphone beschäftigt ist. So geht der Blick der Kinder ins Leere. Kleine Kinder erfordern unsere ganze Aufmerksamkeit, damit sie aufblühen und sich entfalten können. Das gilt natürlich auch für die außerfamiliäre Betreuung, wo durch Personalknappheit und Personalfluktuation leider auch zu viel Vernachlässigung passiert.

Was „beziehungsorientierte Pädagogik“ bedeutet, warum ein Kind in den beiden ersten Jahren eine verlässliche liebevolle 1:1-Betreuung braucht, darüber habe ich mit Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer im Rahmen der Reihe „Wissen fürs Leben“ ein sehr informatives Gespräch geführt, das als Video auf Youtube abrufbar ist.

Erklären, aufklären, bewusst machen – „Wissen fürs Leben“

fürKinder: Seit 2010 sind Sie tätig als freischaffender Erwachsenenbildner und Organisator der Reihe „Wissen fürs Leben“ in der Arbeiterkammer Vorarlberg. Auf Ihrem YouTube – Kanal findet man zahlreiche Redner, Wissenschaftler und Experten, die sich mit vielen unterschiedlichen und wichtigen Themen dort zu Wort melden. Welche Erkenntnisse nehmen Sie persönlich in Hinblick auf das Thema „frühe Kindheit“ (Link zu einigen Beispielen auf Youtube, s.u.)  mit?

Dr. Franz Josef Köb: Bei „Wissen fürs Leben“ ist es mir wichtig, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und Einsichten anzubieten, die helfen, das eigene Leben besser zu verstehen und zu meistern. Ich habe ja mit „Wissen fürs Leben“ nicht bei Null begonnen. Vorher habe ich bis 2010 insgesamt 35 Jahre lang beim Österreichischen Rundfunk (ORF) als Wissenschaftsjournalist gearbeitet und kann nun all diese Erfahrungen und Begegnungen mit beeindruckenden Persönlichkeiten bei „Wissen fürs Leben“ einbringen und weiterführen. Anliegen ist es, zu erklären, aufzuklären, bewusst zu machen, neue Erkenntnisse, etwa der Psychologie und der Medizin, in verständlicher Form weiter zu geben. Es gibt – gerade im Hinblick auf die Bedeutung der Kindheit – so viele faszinierende neue Erkenntnisse, etwa in der Neurobiologie oder der Epigenetik. Diese Erkenntnisse helfen, sowohl die (eigene) Vergangenheit und damit das eigene Gewordensein besser zu verstehen, als auch die Zukunft der Kinder und Enkelkinder verantwortungsbewusst mitzugestalten.

Mit der Erziehung zu Gehorsam, Disziplin, Unterordnung wurde die Lebendigkeit der Kinder unterdrückt, Hass und Zerstörungswut befördert

fürKinder:  Früher „wussten“ die Eltern, was gut für ihre Kinder war – intuitiv und geprägt von der herrschenden Kultur. Heute werden Eltern ständig konfrontiert mit den (in Beratungsbüchern trivialisierten) Forschungsergebnissen etlicher Wissenschaftszweige, von der Psychiatrie über die Entwicklungspsychologie, Neurobiologie und Verhaltensforschung bis hin zur Hirnforschung – und sind verunsichert. Ist die Kindheit heute durch diese Informationen um vieles „glücklicher“ geworden?

Sind Eltern heute bereit und in der Lage, die Grundbedürfnisse von Babys und Kleinkindern nach liebevoller Zuwendung und Bindung einerseits und spielerischen Freiräumen andererseits in ihrer Lebensplanung angemessen zu berücksichtigen? Welche der vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Denkgewohnheiten befördern und welche behindern diese neuen Anforderungen an die Elternrolle?

Dr. Franz Josef Köb: Oh, das sind viele Fragen auf einmal und komplexe noch dazu. Ich versuch’s der Reihe nach. Ob Eltern „früher wussten“, was gut für ihre Kinder war, daran habe ich große Zweifel. Wenn man das nach wie vor aktuelle Buch „Vom Wahnsinn der Normalität“ des verstorbenen Psychoanalytikers Arno Gruen liest, dann wird klar, dass dieses vermeintliche Wissen kein Wissen im Sinne der Kinder war, denn es ging vor allem um Gehorsam, Disziplin, Unterordnung. Damit wurde die Bekämpfung und Abtötung der Lebendigkeit des Kindes gefördert und in weiterer Folge Hass und Destruktivität.

Die vielen Beratungsbücher heute, die, wie Sie richtig sagen, oft Forschungsergebnisse trivialisieren oder einfach irgendeine (persönliche) Ideologie des Autors verbreiten, sind natürlich auch keine Hilfe. Es ist für Laien wirklich oft nicht leicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Dennoch glaube ich, dass für einen Teil der Kinder die Kindheit heute glücklicher geworden ist. Leider nicht für alle, das erfahren wir tagtäglich im Kinderdorf, wenn wir sehen, wie Armut, Vernachlässigung, Verwahrlosung, Gewalt, Missbrauch die Kinder belastet, traumatisiert und unglücklich macht. Doch Medien haben die Tendenz, stets nur die Probleme zu beschreiben und publik zu machen. Und man vergisst dann die Kinder, die es gut haben, d. h. die zuverlässige, liebevolle, aufmerksame, zugewandte, unterstützende Eltern und Großeltern haben, die viel Zeit und Energie für die Kinder aufbringen.

Auch hier darf man die Vergangenheit nicht romantisieren: allein durch die große Kinderzahl, die früher üblich war, bekam das einzelne Kind viel weniger Zeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung als heute.

Ja, ich bin überzeugt, dass viele Eltern heute bereit sind und in der Lage, die Grundbedürfnisse von Babys und Kleinkindern nach liebevoller Zuwendung, sicherer Bindung und spielerischen Freiräumen in ihrer Lebensplanung zu berücksichtigen. Das ist nicht immer leicht und braucht auch entsprechende gesellschaftliche Unterstützung, wie etwa ausreichende Karenzzeit, flexible Arbeitszeiten, Schulung in elterlicher Feinfühligkeit. Ganz wichtig ist die öffentliche = politische Wertschätzung und Anerkennung der Elternarbeit, etwa durch pensionsrechtliche Anrechnung der Kindererziehungszeiten, finanzielle Unterstützung durch Familienbeihilfe oder Steuerentlastung u. ä.

fürKinder: Was unterscheidet Kindheitsgeschichten von früher und heute und wohin sollten wir, Ihrer Meinung nach, mehr Aufmerksamkeit richten?

Dr. Franz Josef Köb: Bei den 38 Kindheitsgeschichten im Buch fällt eines ganz klar auf: Kinder hatten früher mehr Freiräume, ganz einfach deshalb, weil sie unbeaufsichtigt waren (viele Eltern hatten keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern). Kinder verbrachten also viel Zeit mit gleichaltrigen Kindern in der Natur unter freiem Himmel: auf Wiesen, im Wald, am Bodensee oder an einem Baggerloch, an einem Bach, auch auf der (nicht asphaltierten) Straße, wo es kaum Verkehr gab. All das fehlt heute, weil das Leben ganz allgemein viel reglementierter und das Sicherheitsbedürfnis, dass ja nichts passiert, größer ist. Heute müssen Naturerlebnisse extra organisiert und von sogenannten „Wildnis-Pädagogen“ oder Wald-Kindergärten angeboten werden.

Was noch auffällt, ist die Selbstverständlichkeit mit der Kinder bis in die 1980er Jahre geschlagen, geprügelt, misshandelt wurden, und zwar von Vätern und Müttern, von Stiefvätern und Stiefmüttern, von Lehrerinnen und Lehrern, von Priestern und Nonnen. Das war „schwarze Pädagogik“ pur, nicht selten biblisch begründet: man dachte, man müsse „das Böse“ rausprügeln. Es gibt ja zahlreiche Bibelstellen, die sagen, es sei ein Zeichen von Liebe, wenn man sein Kind schlage, und zwar so, dass es die Schläge spüre. Heute werden – trotz gesetzlichem Gewaltverbot – auch immer noch Kinder geschlagen, es sind weniger als früher, aber natürlich ist jedes einzelne Kind, das geschlagen wird, eines zu viel.

Eine belastende Kindheit wirkt ein ganzes Leben lang nach

fürKinder: „In dem Buch „Kindheit(en) in Vorarlberg“ wird von Kindheiten erzählt, die oft unterschiedlicher nicht sein könnten. Da gibt es Berichte von Ereignissen und Lebensbedingungen, die so belastend waren, dass eine „normale“, gelingende Persönlichkeitsbildung völlig unwahrscheinlich erscheint. Die Tatsache aber, dass hier Autoren von dieser ihrer Kindheit berichten, die eher zu den Erfolgreichen, zu den „gut funktionierenden“ Repräsentanten unserer Gesellschaft zählen, scheint diesen Zusammenhang zu widerlegen. Auch Kinder aus extrem widrigen Lebensumständen, so scheint es, können zu „runden“, erfolgreichen Persönlichkeiten heranreifen. Schießen also Theorien, wie etwa die Bindungstheorie, übers Ziel hinaus, wenn sie Bedingungen für gelingende Persönlichkeitsentwicklung formulieren?“

Dr. Franz Josef Köb: Nein, keineswegs. Doch auch das ist eine sehr komplexe Frage, die in der Kürze gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ich will es dennoch versuchen. Zunächst eine Analogie: Auch wenn es einzelne Kettenraucher gibt, die gesund 90 Jahre alt werden, so ist doch die Faktenlage eindeutig, wie schädlich das Rauchen ist. Ganz ähnlich ist es mit schädigenden Kindheitsbedingungen, wie Vernachlässigung, fehlende Resonanz, erst recht Gewalt, Krieg, Missbrauch, Traumatisierung. Zum Glück gibt es einige, die trotz einer schweren Kindheit später das Leben gut meistern. Doch auch hier ist die Faktenlage eindeutig, dass eine belastende Kindheit ein ganzes Leben lang nachwirkt und zu vielerlei Leiden und Krankheiten – körperlich und psychisch – führen kann.

Wenn man über die prägenden Auswirkungen der Kindheit spricht, sollte man die individuelle-persönliche Ebene und die gesellschaftlich-politische Ebene auseinanderhalten. Auf der individuellen-persönlichen Ebene geht es um Therapie. Da ist es hilfreich zu wissen, warum man leidet, etwa warum man sich schnell gestresst fühlt, ängstlich, leicht kränkbar ist. Es hilft mir doch, wenn ich weiß, dass ich dünnhäutig und verletzlich bin oder warum ich mich in manchen Situationen mit dem Totstell-Reflex schütze. Es hilft auch zu wissen, welche Bindungserfahrung man als Kind gemacht hat, weil man dann besser einordnen kann, wie man/frau sich in der aktuellen Paarbeziehung verhält. Nur wenn ich es weiß, kann ich es auch verändern. Doch man darf Ursache-Wirkungszusammenhänge nicht als Schuldzuweisung – etwa an die Eltern – missverstehen oder missbrauchen. Das hilft nicht weiter.
Auf der gesellschaftlich-politischen Ebene geht es um Prävention, um frühe Hilfen, um Unterstützung von Eltern und Kindern, eben um Bedingungen für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung.

Ich lese in diesen Tagen gerade das faszinierende Buch „Gesundheit ist kein Zufall“ von Dr. Peter Spork. Darin erklärt er die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, d. h. wie das Leben unsere Gene prägt. Es gibt eine Fülle wissenschaftlicher Studien, die auf molekularbiologischer Ebene eindeutig beweisen, wie prägend für das ganze Leben das erste Jahr vor der Geburt und das erste Jahr nach der Geburt sind. In dieser Zeit „werden besonders viele Weichen in Richtung Gesundheit und Resilienz gestellt – aber es können auch negative Entwicklungen beginnen. So oder so: Diese Phase hat Auswirkungen auf den Rest des Lebens“, schreibt Dr. Peter Spork. Und trotzdem warnt auch er vor voreiligen, linearen Schlüssen, vor einer eindimensionalen Auslegung der Daten oder vor Schuldzuweisungen an die Mütter.

Man muss immer bedenken: Das Leben im allgemeinen und die Gesundheit im speziellen sind komplexe Prozesse. Komplex bedeutet: Es kann so oder so ausgehen. D. h. aus etwas Gutem kann etwas Schlechtes entstehen und umgekehrt. Also bitte keine simplen Kausalschlüsse!
Ein letzter Gedanke: So wie in der Medizin klar ist, dass die Dosis das Gift macht, so ist es auch mit frühkindlichen Belastungen. Eine geringe Dosis kann sogar die Widerstandskraft – körperlich und seelisch – stärken. Eine große Dosis ist immer schädlich. Aber daraus darf man keineswegs ableiten, dass sie sog. „g’sunde Watschn“ was Gutes sei.

Geschichten können verschüttete Gefühle freilegen

fürKinder: Würden Sie sagen, dass Musik, Geschichten und Erzählungen Emotionsträger sind/sein können, um mit sich selbst in Kontakt zu kommen? Welchen Wert sehen Sie darin?

Dr. Franz Josef Köb: Gewiss, Musik und Geschichten sind Emotionsträger. Darum kommen uns ja manchmal die Tränen, wenn wir ein Buch lesen, einen Film sehen, ein Lied hören. Geschichten bringen etwas in uns zum Schwingen und zum Klingen. Geschichten lösen eine Resonanz aus, sie lösen eigene Erinnerungen und Gefühle aus und machen sie uns bewusst. Sie legen auch verschüttete Gefühle frei – das kann schmerzhaft sein, ist aber notwendig, denn alles, was verschüttet, was zugedeckt ist, ist ja nicht weg, sondern beginnt irgendwann mangels Frischluftzufuhr zu faulen und zu stinken. Im besten Fall führen Geschichten auch zu einem „Aha-Erlebnis“. Sie kennen das sicher: Man versteht etwas von sich oft besser oder überhaupt erst dann, wenn es jemand anderer in Worte fasst. Etwas verstehen, das heißt, man kann einen Zusammenhang und damit einen Sinn erkennen. Das tut immer gut.

fürKinder: Sie erwähnten, dass Geschichten aus der Kindheit oft bei demenzkranken Menschen wieder aufkommen, oder auch in Träumen. Woran kann das liegen?

Dr. Franz Josef Köb: Da bin ich überfragt. Ich erwähne diese Beobachtung nur als für jede/n einsichtigen Beweis, dass die frühen Beziehungserfahrungen und die damit verbundenen Gefühle nicht verschwunden, sondern in uns gespeichert sind. Dafür braucht es gar keine wissenschaftlichen Studien, das kann jede/r selbst sehen.

Kindheitserlebnisse hinterlassen im Körper eine „Inschrift“

fürKinder: Gewalt, Prügel, emotionale Kälte waren früher Gang und Gebe. Inwieweit zeigen sich solche Erfahrungen im Erwachsenenalter und wie kann man  umgehen, mit dem damit verbundenen Schmerz, Angst, Scham, Traurigkeit…?

Dr. Franz Josef Köb: Gewalt, Prügel, emotionale Kälte – all das hinterlässt Spuren in unserem Körper, speziell im Gehirn. Schmerzerfahrungen werden im Gehirn gespeichert, sie hinterlassen im Körper eine „Inschrift“, die Neurobiologie spricht von einem „Engramm“. Die Folgen dieser Speicherung im Schmerzgedächtnis sind – viele Jahre später – ein verstärktes Schmerzempfinden. Die gespeicherten Schmerzen können aber – auch über viele Jahre, ja Jahrzehnte – eine Art „Winterschlaf“ halten und werden plötzlich wieder aktiviert, wenn es zu einer schweren seelischen Stress- oder Belastungssituation kommt. Das sind dann Schmerzen, für die es keinen organischen Befund gibt und deshalb auch keine Besserung durch die verschiedensten Behandlungsversuche. Erst wenn der psychosomatische Zusammenhang klar wird, kann der Schmerz gelöst werden. Wer sich für diese Zusammenhänge näher interessiert, dem empfehle ich das höchst lesenswerte und gut verständliche Buch „Das Gedächtnis des Körpers“ von Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer und dort speziell das Kapitel „Schmerzerfahrungen und Schmerzgedächtnis: chronische Krankheiten ohne Befund“.

fürKinder:  Auch in biblischen Aussagen findet man oft Bedrohungen und Gewaltandeutungen, welche Bedeutung hat dies heute im Glauben und in der Kindererziehung noch und sollten wir diese Aussagen nicht hinterfragen?

Dr. Franz Josef Köb: Meinen Eltern wurde noch mit diesen Bibelstellen gedroht: Wer nicht folgt, wer nicht gehorsam ist, muss bestraft werden – bis hin zur Steinigung! Es ist unfassbar. Umgekehrt wurde deren Eltern gesagt, es sei ein Zeichen von Liebe, ein Kind zu züchtigen. Nur drei Beispiele:

  • „Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit, damit er später Freude erleben kann.“ (Jesus Sirach, 30,1)
  • „Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Sprüche, 13, 24)
  • „Man muß dem Bösen wehren mit harter Strafe und mit ernsten Schlägen, die man fühlt.“ (Sprüche, 20,30)

Die unvorstellbaren Prügelorgien in Schulen, Heimen und Familien der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre, die ganze „schwarze Pädagogik“ hat in diesen unmenschlichen Bibelstellen ihren Ursprung. Heute sind solche Bibelstellen, die ja nach wie vor als „Wort Gottes“ gelten, den Theologen peinlich, für die Jungen sind sie bedeutungslos.

fürKinder: Was hat Ihnen geholfen mit Widrigkeiten umzugehen und wofür sind Sie auch dankbar?

Dr. Franz Josef Köb: Was mir geholfen hat: Lernen, Bildung, Wissen, Poesie, vor allem Gedichte. Dann: innehalten, nachdenken, immer wieder nachdenken, d.h. neue Zusammenhänge, neuen Sinn suchen, lesen, Tagebuch schreiben, wandern in den Bergen, im Wald, an einem Bach sitzen, berühren und berührt werden, ausreichend Schlaf.

Je älter ich werde, desto dankbarer bin ich meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, dass sie mich ausgetragen, zur Welt gebracht und groß gezogen hat, obwohl sie es nicht leicht hatte. Dankbar bin ich für unsere beiden Kinder Florian und Anina und für unsere beiden Enkelkinder Lori und Alva.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Unser Interviewpartner: Dr. Franz Josef Köb

geboren 1951 in Dornbirn, Studium der Wirtschaftspädagogik in Wien, von 1975-2010 Wissenschaftsjournalist beim ORF (Östereichischem Rundfunk), seit 2010 verantwortlich für „Wissen fürs Leben“, einer weit über die Grenzen Österreichs bekannte Vortrags-  und Video-Serie der Arbeiterkammer Vorarlberg, seit 1993 ehrenamtlich im Vorstand des Vorarlberger Kinderdorfs, verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern (Florian und Anina), Großvater von zwei Enkelkindern (Lori und Alva). Köb ist Autor mehrerer Bücher. Im Rahmen der Erwachsenenbildung hält er seit Jahren Vorträge.

Links zum Thema

„In der Kindheit werden die Weichen fürs ganze Leben gestellt“ Rezension zum Buch Kindheit(en) in Vorarlberg, Bucher Verlag GmbH

Vortrag von Franz Josef Köb zum Thema