Krippen-Zeitenwende - Foto iStock © PekicDie Missstände in den Einrichtungen werden immer deutlicher. Jetzt fordert sogar Verdi die finanzielle Unterstützung von Familien, damit Eltern wieder vermehrt ihre Kinder zuhause betreuen können. Ist das die Krippen-Zeitenwende, wie man neuerdings so gern zu sagen pflegt?

Man traut seinen Augen kaum, aber da veröffentlichen gleich zwei große Zeitungen in Deutschland kritische Artikel zum Thema frühkindliche Fremdbetreuung. Sollte sich der Wind nun allmählich drehen und dem unsäglichen „Krippe – ja, bitte“- Mantra der vergangenen Jahr(zehnte) tatsächlich das Eingeständnis folgen: das Kindeswohl lässt sich von Eltern und/oder Politikern nun mal nicht mit immer mehr fremdbetreuten Stunden erkaufen? Einschlägige Experten, Initiativen und Verbände haben davor seit jeher gewarnt, aber wer wollte sie bislang hören oder lesen?

Ist das Bildungsversprechen ein Täuschungsmanöver?

Zu praktisch, quadratisch, gut schien vielen jungen Eltern, vor allem Krippen-Unerfahrenen im Westen Deutschlands, die Vorstellung, ihre Kinder einfach abgeben und in der Zeit sorglos arbeiten zu können. Weshalb man lieber den Versprechungen eines Wassilios E. Fthenakis, heutiger Ehrenpräsident und ehemaliger Präsident des Didacta Verbands der Bildungswirtschaft e.V. ab 2006, lauschte, der den „quantitativen Ausbau“ der Krippen- und Kitalandschaft forderte und ihn noch mit dem Wonne-Label „Bildung“ immer wieder schmackhaft zu machen verstand, als die Warnungen eines Wolfgang Bergmann und zahlreicher anderer Kindheitsexperten ernst zu nehmen.

Während die Wochenzeitung „Die Zeit“ unter dem Titel „Wer hat sie noch im Blick“ etliche Experten in O-Tönen eingefangen hat und den Fokus vor allem auf die personell bedingten Missstände in den Kitas legt, zielt der Artikel 50-Stunden-Woche für unter Dreijährige in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ aus der Feder zweier Kindheitsexperten darauf ab, Gruppenbetreuung für Kleinstkinder grundsätzlich für ungeeignet zu erklären.

Immer mehr Krippenkinder haben lange Arbeitstage außer Haus

Krippen-Zeitenwende - Foto AdobeStock © Oksana KuzminaIn beiden Artikeln wird kritisch gesehen, dass in Ostdeutschland 60 Prozent der unter Dreijährigen jeweils 45 bis 50 Stunden pro Woche in den Betreuungseinrichtungen verbringen. „Die Kita ist für viele Kinder unter der Woche ihr Leben“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Susanne Viernickel in der „Zeit“. Kita-Leiterin Kathrin Klähn wird dort noch deutlicher: „Gerade für Krippenkinder ist so ein Acht- bis Zehnstundentag sehr anstrengend.“

Walter Dorsch, Kinder- und Jugendmediziner in München, und Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler an der Universität Augsburg, geben in ihrem FAZ-Essay außerdem zu bedenken: „Während Erwachsene seit Jahren dafür kämpfen, weniger arbeiten zu müssen und mehr Homeoffice zu bekommen, sollen die Kleinsten immer länger außer Haus sein.“ Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte habe den Autoren zufolge 2019 gefordert, „keine Gruppenbetreuung bei unter Zweijährigen und zwischen dem zweiten und dem dritten Geburtstag maximal halbtägige Gruppenbetreuung bei einem Personalschlüssel von eins zu drei“. Auch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin habe zu diesem Thema mehrfach Stellung bezogen und bereits 2008 geraten, Fremdbetreuung für unter Dreijährige „möglichst kurzzuhalten“.

Doch all diese Expertise sei nicht ernst genommen worden, beklagt das Autorenduo: „Dabei ist die Datenlage ausgesprochen eindeutig in ihrer Konsequenz: Gruppenbetreuung in den ersten zwei bis drei Jahren ist grundsätzlich problematisch, und das nicht nur, wenn zusätzliche, nur dem Kind und seiner Familie zuzuschreibende Risikofaktoren bestehen.“ Die Debatte sei „über weite Strecken ideologisiert“ geführt worden.

Die NICHD-Studie 2006 habe dagegen ganz klar gezeigt: „Sind Kinder 30 und mehr Wochenstunden in einer Gruppenbetreuung, sind diese Effekte vergleichbar mit denen von Armut oder körperlicher Misshandlung. Selbst eine hohe Betreuungsqualität kann diese Effekte nicht ausgleichen. In einer Erhebung im Alter von 15 Jahren waren diese Ergebnisse noch feststellbar.“ Penelope Leach, eine der führenden Stimmen im Bereich frühkindlicher Bindungsforschung, komme angesichts der Studienergebnisse aus der ganzen Welt zu dem Schluss, „dass es Kindern unter drei Jahren umso besser geht, je weniger Zeit sie in Gruppenbetreuung verbringen“.

Immer mehr Krippenkinder haben Dauerstress wie Manager

Wie sich anhand von Hormonmessungen (Cortisol-Tagesprofile) nachweisen lasse, bedeute die lange Fremdbetreuung für Kleinkinder in Kinderkrippen „Dauerstress“, der sich am ehesten mit den Stressreaktionen von Managern vergleichen lasse, die im Beruf extremen Anforderungen ausgesetzt seien. Die FAZ-Autoren fordern daher zum einen Familien zu stärken, damit sie ihre wichtige Aufgabe der Kindererziehung nach Artikel 6 Grundgesetz auch tatsächlich wahrnehmen können, und zum anderen eine Qualitätsoffensive des Personals.

„Erwachsene, die die 35-Stunden-Woche erkämpft haben, tun gut daran, eine 60-Stunden-Woche für Kleinkinder nicht zu verantworten“, so das Fazit der beiden Experten.

Lichtblicke im Kita-Elend mit Hilfe von Verdi?

Krippen-Zeitenwende - Foto iStock © SDI ProductionsHochinteressant ist nun und wohl ein echtes Novum, ja eine Zeitenwende, dass mittlerweile sogar von Gewerkschaftsseite „familienpolitische Maßnahmen“ gefordert werden, „um Eltern zum Beispiel dabei zu unterstützen, die Kinder vermehrt zu Hause zu betreuen“. So fordert es Verdi-Referentin Elke Alsago in dem „Zeit“-Artikel.

Auf Nachfrage hierzu schreibt die promovierte Sozialpädagogin, dass „diese Position“ in ihrer Fachgruppe „entwickelt“ und bislang zwar nur aus der Perspektive der Fachkräfte, noch nicht in den Verdi-Strukturen abgestimmt worden sei. Die Bundesfachgruppe habe jedoch einen entsprechenden Antrag innerhalb der Strukturen gestellt. „Wir gehen davon aus, dass darüber gestritten werden wird. Vorstellbar wären sicher Lohnersatzleistungen.“ Hintergrund der neuen Verdi-Strategie sind in erster Linie die katastrophalen Kita-Missstände aufgrund personeller Ausfälle. „Letztendlich handelt es sich ja um Rechtsansprüche und die Eltern können jetzt nicht mehr verlässlich arbeiten. Bei uns in der Region (Harsefeld Landkreis Stade) haben schon die ersten Mütter ihre Arbeitszeit reduzieren müssen“, berichtet Alsago.

Hat die Kita-Misere am Ende doch noch ihr Gutes? Die Vernunft könnte sich durchsetzen und damit die lange geschmähte Erkenntnis, dass Elternhäuser zuverlässiger funktionieren und wohltuender wirken als Krippen und Kitas. Gerade in der Corona-Pandemie haben viele Eltern das zu spüren bekommen:

Während Krippen und Kitas geschlossen wurden, blieben Elternhäuser geöffnet. Viele haben erst da gemerkt, dass auf Fremdbetreuung wenig bis kein Verlass ist.

Die Politik hat mit dem Rechtsanspruch für Einjährige und kostenfreien Kindergärten mehr versprochen als sie halten konnte und die Misere nicht nur geschaffen, sondern befördert. Fragt sich: wo sind und was machen eigentlich die frühen Verfechter der frühen Fremdbetreuung heute? Fthenakis hört man längst nicht mehr zur „frühen Bildung“ in Krippen und Kitas schwadronieren – er dreht jetzt stattdessen am großen Rad der Digitalisierung.

Geschickte Lobbyisten finden eben immer einen Weg, sich klammheimlich aus dem Staub zu machen und neues, lukratives Terrain zu erobern. Hauptsache, die Windrichtung stimmt, dann ist die Karriere gesichert. Im Regen stehen dafür jetzt diejenigen, die sich auf seine großen Worte verlassen haben. Aber die vage Hoffnung besteht, dass bodenständige Kräfte – siehe Verdi – den Kita-Karren aus dem Dreck ziehen können und damit Kinder und ihre Eltern von ihrem Kita-Stress-Elend befreien. Zu wünschen wäre das!

von Birgitta vom Lehn

Links zum Thema

NICHD-Studie (Belsky et al. 2007, 2010, 2010 a) In einer umfassenden Langzeitstudie wird die Wirkung von verschiedenen frühen Fremdbetreuungsformen (bis 4 ½ Jahre) auf mehr als 1.300 Kinder der USA erforscht. Resultate der Betreuungswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen liegen bis zu 15 Jahren vor.

Quelle: Do Effects of Early Child Care Extend to Age, National Library of Medicine

Übersicht bekannter Studien zur frühen Krippenbetreuung inkl. kurzer Zusammenfassung der meist genannten Ergebnisse der NICHD-Studie, kritischer Betrachtung und Vergleich mit anderen Studien sowie umfangreiche Quellenangaben, Gisela Geist

Was brauchen Kleinstkinder? Steve Biddulph

Familien leben – Wie Kinder und Eltern gemeinsam wachsen. Ein Grundlagenbuch, Hannsjörg Bachmann, Eva-Mareile Bachmann, Kösel-Verlag

Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz

Kitaplatzmangel – Wir müssen draußen bleiben, Spiegel-online, Kristin Haug,