Lieblosigkeit oder weshalb Kinder liebevolle erwachsene Begleiter brauchen - Foto von Joel Overbeck auf Unsplash

Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über das Potential zur Herausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Ob und wie es ihm gelingt, diese Anlagen zu entfalten, hängt von den Erfahrungen ab, die es während der Phase seiner Hirnreifung machen kann. Die entscheidenden Erfahrungen machen alle Kinder bei ihren Versuchen, ihre beiden seelischen Grundbedürfnisse zu stillen, mit denen sie bereits auf die Welt gekommen sind. Das ist einerseits das Bedürfnis nach Verbundenheit und Geborgenheit, das sie in der Beziehung zu ihren jeweiligen Bezugspersonen zu stillen versuchen und andererseits das Bedürfnis nach eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und Autonomie, dem sie beim spielerischen Entdecken und Ausprobieren nachgehen.


„Kein Mensch kann die in ihm angelegten Potentiale entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird oder er gar selbst seine eigene Würde verletzt.“ Gerald Hüther


Ein Kind, das sich nicht sicher und geborgen fühlt, hört auf, seine Welt und seine Möglichkeiten, die ihm zugängliche Welt auf freie und unbekümmerte Weise selbstbestimmt spielerisch zu erkunden und zu gestalten. Wenn es sich nicht so, wie es ist, also bedingungslos angenommen und gesehen fühlt, sondern erleben muss, dass es zum Objekt der Erwartungen und Vorstellungen, der Belehrungen und Bewertungen oder gar der Maßnahmen und Anordnungen seiner Bezugspersonen gemacht wird, hat das betreffende Kind ein schwerwiegendes Problem. In seinem Gehirn kommt es dann zu einer sich ausbreitenden Inkohärenz, die als Verunsicherung und Angst erlebt wird. Zwangsläufig sucht es nach einer Lösung, die das Durcheinander in seinem Gehirn beendet, also das alles wieder gut wird. Weil es die lieblose Behandlung durch seine Bezugspersonen nicht abstellen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als etwas in sich selbst zu ändern, nämlich seine beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Selbstgestaltung zu unterdrücken. Nur so kann es ihm gelingen, sich an die Vorstellungen dieser Bezugspersonen anzupassen und deren Erwartungen oder Vorgaben zu erfüllen. Wenn sich seine Bezugspersonen darüber freuen, dass ihr Kind nun ihre Erwartungen erfüllt, so ist das Ausdruck des Umstands, dass ihnen ihre eigenen Vorstellungen und Maßstäbe, die sie an das Kind richten, wichtiger sind als das Wohl ihres Kindes.

Liebe ist das unbedingte Interesse an der Entfaltung des oder der Geliebten. Wer allzu sehr von der Notwendigkeit zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen und Vorstellungen überzeugt ist, kann dieses unbedingte Interesse an der Entfaltung des ihm anvertrauten Kindes nicht aufbringen.

Lieblosigkeit ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Sie ist Ausdruck einer individuell erworbenen inneren Einstellung, die sich weder objektivieren oder mit wissenschaftlichen Methoden erfassen und vermessen lässt. Die Folgen eines lieblosen Umganges mit Kindern sind jedoch sehr gut erkennbar und bestimmen oftmals das gesamte weitere Leben eines solchen Kindes.

Die fatale Folge unseres gegenwärtigen Leistungs- und Erfolgstrebens: Erziehung zur Lieblosigkeit

Wer andere Menschen, auch andere Lebewesen und sogar seine eigenen Kinder lieblos behandelt, bringt damit zum Ausdruck, dass sie oder er sich selbst nicht mag, dass es tief im Inneren eines solchen Menschen lebendige Bedürfnisse gibt, die von ihm unterdrückt werden.

Lieblosigkeit oder weshalb Kinder liebevolle erwachsene Begleiter brauchen - AdobeStock © Monkey BusinessEine solche Person erlebt sich nicht als ganz und unversehrt, sondern als in sich gespalten und verletzt. Sie wäre gern anders, würde gern ein anderes Leben führen, schafft es aber nicht und bleibt deshalb in einem Gefühl von eigener Unzulänglichkeit und Unzufriedenheit gefangen. Deshalb geht sie auch mit sich selbst nicht liebevoll um.

Ein liebloser Umgang mit sich selbst ist in all jenen Gesellschaften besonders weit verbreitet, deren Mitglieder davon überzeugt sind, dass es darauf ankomme, möglichst perfekt zu funktionieren, anstehende Aufgaben effektiv zu erledigen und die Erwartungen anderer zu erfüllen, um im Leben anerkannt und erfolgreich zu sein.

Wer lieblos mit sich selbst umgeht, verhält sich auch lieblos gegenüber anderen, sogar den jeweiligen Lebenspartnern und den eigenen Kindern.

Wenn Kinder die Erfahrung machen müssen, nicht so angenommen und gemocht zu werden, wie sie sind, verlieren sie ihr Vertrauen zu sich selbst. Sie halten sich für „nicht richtig“, „nicht gut“, „nicht wertvoll“ oder gar „nicht liebenswert genug“. Ihre beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Geborgenheit einerseits und nach Autonomie und Freiheit andererseits werden als Folge dieser Erfahrung gleichzeitig verletzt. Die Kinder leiden und müssen eine Lösung finden, um den damit einhergehenden Schmerz zu überwinden.

Entweder lernen sie, andere, auch andere Kinder, ebenso lieblos zu behandeln wie sie selbst behandelt worden sind. Oder sie lernen, ihre lebendigen Bedürfnisse und den durch deren Verletzung einhergehenden Schmerz immer besser zu unterdrücken.

So beginnen sie, zunehmend liebloser zu sich selbst zu sein. Erstere lernen dabei immer besser, andere Kinder, die Eltern oder auch die Betreuungspersonen wie Objekte zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen und Absichten einzusetzen und zu benutzen. Letztere spüren sich selbst und ihren Schmerz immer weniger. Manche stumpfen ab und identifizieren sich mit ihrer Objektrolle, andere versuchen, die „Liebe“ ihrer Bezugspersonen durch selbstverleugnendes und unterwürfiges Verhalten zu gewinnen. Beobachten lässt sich all das besonders gut in den meisten Einrichtungen zur Kleinkindbetreuung. Gelingt es einem solchen Kind später im Leben nicht, sich aus diesem jeweiligen Denk und Verhaltensmuster, aus dieser Verwicklung, dieser ungünstigen inneren Einstellung zu befreien, wird es diesen Teufelskreis im Erwachsenenalter durch sein eigenes liebloses Verhalten weiter verstärken und die dieses Verhalten steuernde Grundhaltung an nachfolgende Generationen weitergeben.

Lieblosigkeit ist Ausdruck einer langfristig immer ungünstiger werdenden inneren Einstellung

Lieblosigkeit oder weshalb Kinder liebevolle erwachsene Begleiter brauchen - iStock © JuanmoninoDie Arbeitsweise des Gehirns orientiert sich an einem Grundprinzip, dass sich aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ergibt und die alle im Gehirn ablaufenden Prozesse so ausrichtet, dass dabei möglichst wenig Energie verbraucht wird. Dieser ständig angestrebte Energiesparmodus erklärt nicht nur den Umstand, dass wir es gern möglichst bequem haben, Sorgen und Probleme lieber vermeiden und auch nur ungern tiefschürfend über etwas nachdenken. Das verbraucht alles viel zu viel Energie. Ebenfalls sehr hilfreich zur Drosselung des Energieverbrauches im Gehirn ist die Herausbildung von Routinen und Automatismen. Bei kleinen Kindern lässt sich noch besonders gut beobachten, wie lange und wie beharrlich sie bestimmte Bewegungsmuster einüben und dabei all die komplexen Nervenzellverschaltungen festigen, die gebraucht werden, um beispielsweise eine Tasse zum Mund zu führen. Oder beim Laufen lernen: Alles wird spielerisch ausprobiert, und das was klappt und am leichtesten geht, wird beibehalten und im Gehirn als sogenannte „Metarepräsentanz“ verankert. Künftig müssen nicht alle daran beteiligten Muskelgruppen separat angesteuert werden, sondern es reicht, sich die betreffende Bewegungsgestalt vorzustellen, und dann lenkt dieses übergeordnete Muster, diese Metarepräsentanz, die Ausführung der betreffenden Handlung. Das spart viel Energie.

Es entstehen also im kindlichen Gehirn zunächst Handlungsmuster, die Handlungen steuern. Anschließend werden auf einer sich darüber herausbildenden Ebene all jene Metakonzepte verankert, die wir innere Einstellungen, Haltungen und feste Überzeugungen nennen. Diese lenken dann aber nicht einzelne Handlungsabläufe, sondern ganze Verhaltensweisen.

Das Verhalten ist also Ausdruck der ihm zugrunde liegenden Haltung oder inneren Einstellung des betreffenden Menschen.

Dazu kommen dann später auch noch die jeweiligen Selbst-, Menschen- und Weltbilder, die ausschlaggebend dafür sind, wie und nach welchen Kriterien wir unser Leben und unser Zusammenleben mit anderen gestalten.

Diese Metakonzepte haben sich kein Kind und auch kein Erwachsener selbst ausgedacht. Die sind ihm oder ihr auch nicht von anderen Personen ins Hirn gebaut worden. Sie können auch nicht unterrichtet, sondern nur durch selbst gemachte Erfahrungen herausgebildet und in Form bestimmter Nervenzellverknüpfungen im Gehirn verankert werden. Es handelt sich also dabei um die jeweiligen Lösungen, die das betreffende Kind auf seinem bisherigen Lebensweg für die dabei vorgefundenen Probleme gefunden hat.

Lieblosigkeit ist eine Haltung bzw. innere Einstellung, die leider recht viele Menschen als Lösung für von ihnen oft schon sehr früh in ihrer Kindheit gemachte Erfahrungen gefunden und in ihrem Gehirn in Form bestimmter Nervenzellverschaltungen verankert haben.

Diese einmal erworbene lieblose Haltung gegenüber sich selbst lenkt oftmals für den gesamten Rest des Lebens das gesamte Denken, Fühlen und Handeln der betreffenden Personen. Ihr Blick bleibt eng, Ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist eingeschränkt, und so lieblos, wie sie mit sich selbst umzugehen gelernt haben, verhalten sie sich auch gegenüber anderen Menschen, oft auch gegenüber anderen Lebewesen.

Deshalb macht diese lieblose Haltung die betreffenden Menschen, engstirnig und hartherzig. Ihnen bleiben der Zauber und die Schönheit der Welt verborgen, und weil sie auch taub für die aus ihrem eigenen Körper kommenden Signale geworden sind und nicht mehr spüren, was ihr Körper braucht, werden sie über kurz oder lang auch krank.

Dabei wäre es doch ganz leicht, etwas liebevoller zu sich selbst zu sein

Lieblosigkeit oder weshalb Kinder liebevolle erwachsene Begleiter brauchen - iStock © Monkey BusinessimagesUm liebevoller mit uns selbst umzugehen, müssten wir uns nur ein klein wenig verändern – also wir selbst, nicht die anderen, die uns stören oder verärgern. Aber zu solch einer eigenen Veränderung wären wir nur dann bereit, wenn uns das Ergebnis attraktiver erscheint als das, was wir bis dahin doch recht gut auszuhalten gelernt haben. Wer in einer schwierigen Beziehung oder einem problematischen Arbeitsverhältnis feststeckt, bleibt oft so lange im vertrauten Sumpf sitzen, bis schließlich der eigene Körper nicht mehr mitmacht und mit Burnout oder einer anderen schweren Erkrankung reagiert. Manchmal kommen Menschen dann wieder in Kontakt mit ihren unterdrückten Bedürfnissen, mit ihrer eigenen Lebendigkeit. Das ist die Chance, die in der Krise steckt. Aber wer diese Chance ergreift, verwandelt sich tiefgreifend. Die meisten Menschen haben davor Angst und machen lieber so weiter wie bisher. Manchmal erlebt man auch so etwas wie eine „Sternstunde“. Das kann eine berührende Begegnung, ein Film, ein Buch, oder was auch immer sein. Man erlebt dann eine tiefe Berührung im Inneren und ist bereit, völlig umzusteuern. Aber auch hier haben die meisten Menschen Angst davor, die ihnen vertraute Welt zu verlassen und machen lieber so weiter wie bisher.

Aber einen Weg gibt es, um wieder mit den eigenen lebendigen Bedürfnissen und der eigenen Lebendigkeit in Kontakt zu kommen, der überhaupt nicht gefährlich ist und den auch Sie gern ausprobieren können, wenn Sie das möchten:

Sie könnten sich im Alltag immer mal wieder fragen, ob Ihnen das, was Sie da gerade tun, auch wirklich guttut.

  • Mit Kindern zu spielen, ohne wirklich bei den Kindern zu sein, tut ihnen nicht gut. Dabei sind sie ohnehin nicht für die Kinder da, das könnten sie also ändern.
  • Oder draußen in der Stadt müssen Sie künftig auch nicht mehr wie ein fremdgesteuerter Automat in den nächsten Bäckerladen hineinlaufen und sich ein dickes Stück Kuchen gegen Ihren Frust kaufen.

So erleben Sie sich endlich wieder als Gestalter ihres eigenen Lebens. Das funktioniert auch abends vor dem Monitor.

  • Sie können sich weiter über all das ärgern, was Sie sich dort anschauen oder das Gerät einfach abschalten. Es ist ein wunderbares Gefühl, wieder selbst zu bestimmen, was man mit diesem freien Abend machen möchte.

Das alles und noch viel mehr könnten Sie versuchen, aber Sie müssten es auch wirklich selbst wollen. Nur wenn Sie es selbst ausprobieren, können Sie erleben, wie es sich anfühlt, selbstbestimmt und frei das zu tun, was Ihnen guttut. So verbinden Sie sich auch wieder mit sich selbst, mit Ihrer eigenen Lebendigkeit. Damit sind die beiden Grundbedürfnisse nach eigenen Gestaltungsmöglichkeit und Autonomie einerseits und nach Verbundenheit und Geborgenheit gestillt. Auf einmal geht es Ihnen gut. Sie kommen wieder in Ihre eigene Kraft. In Ihrem Gehirn beruhigt sich das ganze Durcheinander, es passt endlich alles wieder besser zusammen. Und in den tieferen Bereichen des Gehirns können endlich wieder all jene Nervenzellvernetzungen ungestört zusammenwirken, die für die Regulation des Körpers zuständig sind, und die dafür sorgen, dass Sie gesund bleiben oder möglichst schnell wieder gesund werden. Das nennt man Aktivierung der Selbstheilungskräfte.

Liebevoll in allem, was man tut zu sein, ist Ausdruck einer Haltung, die nur aus der selbst gemachten Erfahrung erwachsen kann, dass es gut tut, in kleinen Schritten wieder zum Gestalter des eigenen Lebens zu werden und sich wieder mit sich selbst und seinen lebendigen Bedürfnissen zu verbinden. Oder möchten Sie für den ganzen Rest Ihres Lebens als Bedürftige oder Bedürftiger herumlaufen?

Bedürftige Menschen sind Getriebene, die wollen immer etwas von anderen haben oder besser als andere sein.

Jemand, der bei sich ist, sich selbst mag und nicht mehr wie ein Getriebener umher rennt, geht auch liebevoller mit anderen um, mit seinen Kindern, seinem Partner, seinen Nachbarn – sogar mit anderen Lebewesen. So jemand latscht nicht mehr achtlos und mit sich selbst beschäftigt über eine Frühlingswiese und trampelt alle Blumen nieder. So jemand hat ein unbedingtes Interesse an der Entfaltung seines Gegenübers. Sie oder er wird deshalb keine Blume und keinen Regenwurm wie ein Objekt behandeln. Und erst recht wird so jemand niemals ein Kind zum Objekt seiner jeweiligen Absichten und Ziele, seiner Vorstellungen und Erwartungen, seiner Belehrungen und Bewertungen machen. Das wäre die entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung der in so einem Kind angelegten Potentiale. So schwer kann das doch nicht sein.

von Gerald Hüther

Links zum Thema

Den Entwicklungsprozess in den ersten drei Lebensjahren liebevoll begleiten

„Die Wirkung von liebevoller Zuwendung auf das Gehirn unserer Kinder“, Rezension zum Buch: Die neue Elternschule, Margot Sunderland, Dorling Kindersley Verlag

Statement von Herbert Renz-Polster, Kinderarzt, Wissenschaftler, Autor zum Film „GOOD ENOUGH PARENTS“ von Domenik Schuster