Alle Kinder wollen beschützt, geliebt und gesehen werden, Zeit mit ihren Eltern verbringen. Den meisten Eltern geht das Herz auf, wenn sie das erste Mal von ihrem Kind angelächelt werden und wenn es die ersten Schritte macht.
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Gleichzeitig fühlen sich immer mehr Mütter und Väter bereits in der Schwangerschaft und bevor sie ihr Kind das erste Mal zu Gesicht bekommen genötigt, sich entscheiden zu müssen, wie sie als Familie zusammenleben wollen. Viele Dinge spielen da eine Rolle: Reicht unser Geld aus, wenn wir zukünftig nur ein Einkommen zur Verfügung haben, erhalte ich nach der Elternzeit meinen alten Arbeitsplatz zurück, beschneide ich meine berufliche Karriere, wenn ich mich für eine längere Zeit mit dem Kind entscheide und gegen einen frühe Rückkehr an den Arbeitsplatz, wie denken andere über mich, wenn ich ganz in der Mutterrolle aufgehe, ist die frühe außer Haus Betreuung für unser Kind geeignet, wann müssen wir unser Kind in fremde Hände geben, damit es keine Bildungschancen verpasst?
Die Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft und Bindungsforschung geben zumindest Antwort auf die letzte Frage.
Der Forschungsstand der frühkindlichen Entwicklung
Seit den letzten 30 Jahren wissen wir zunehmend immer mehr – dank der Gehirnforschung – über die natürlichen sozial-emotionalen Bedürfnisse der Gehirne unserer Kinder. Für Mütter und Väter ist dies ein großer Zugewinn für die Pflege und Erziehung.
Margot Sunderland, Kinderpsychologin und Psychotherapeutin, schreibt in ihrem Buch: „Die neue Elternschule“:
„Es begeistert mich, dass wir die Fehler der Vergangenheit aufgrund der neuen Erkenntnisse der Gehirnforschung über die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen heute nicht mehr wiederholen müssen. Vieles von dem Wissen ist jedoch bei den Eltern noch nicht angekommen […].“
Emmi Pikler, Kinderärztin und Leiterin eines Säuglings- und Kleinkind-Heims, erforschte und entwickelte durch Beobachtung eine Pädagogik, „die die Bedürfnisse des kleinen Kindes in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellt. So konnten die ihnen anvertrauten Kinder vor den negativen Auswirkungen des Heimlebens geschützt werden und zu körperlich und seelisch gesunden Menschen heranwachsen.“ (Pikler Gesellschaft Berlin e.V.)
Ihre Forschungsarbeiten trugen zu wesentlichen Erkenntnissen über die frühkindliche Entwicklung bei, heißt es weiter auf der Webseite der Pikler Gesellschaft. „Wie alle revolutionären Einsichten bezeichnen die Grundsätze ihrer Arbeit etwas nahezu Selbstverständliches:
Jedes Kind hat sein eigenes Zeitmaß der Entwicklung. Seine Autonomie, Individualität und Persönlichkeit können sich entfalten, wenn seine vielfältigen Kompetenzen erkannt und respektiert werden. Die achtsame, zugewandte Umgangsweise des Erwachsenen, die dem Kind Geborgenheit und innere Sicherheit vermittelt, ermöglicht, dass das Kind seine Selbständigkeit und Selbstverantwortung beim Bewegen und Spielen genießen kann.“
Natalie Rehm, Erziehungsbegleiterin Frühe Kindheit, SAFE®-Mentorentrainerin und Autorin des Buchs „Gehen, Sprechen, Denken“, schreibt auf ihrer Webseite:
Was mir in dieser schwierigen Zeit (nach der Geburt meiner Tochter) wirklich geholfen hat, waren die Erkenntnisse der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler zur selbständigen Bewegungsentwicklung und ihre feinfühlige Umgangsweise mit Säuglingen und Kleinkindern bei pflegerischen Tätigkeiten. Ihren Anregungen folgend konnte ich voller Staunen erleben, wie sich mein anhaltend weinender Säugling allmählich in ein zufriedenes, fröhliches und sehr geschicktes kleines Mädchen verwandelte.
Vanessa Welker hat das Buch „Die neue Elternschule“ von Margot Sunderland für uns gelesen. Ihre Rezension finden Sie in unserer Liste der Literaturempfehlungen.
Erika Butzmann hat das Buch „Gehen, Sprechen, Denken“ von Natalie Rehm rezensiert. Ihre Empfehlung finden Sie ebenfalls unter unseren Literaturempfehlungen.
Im Interview mit Natalie Rehm gehen wir Fragen zur kindlichen Entwicklung nach und was es braucht, um ein glückliches erfülltes Leben zu führen.
Alle, die Kinder in ihrer Entwicklung begleiten, brauchen ausreichende Erholungsphasen
FürKinder: Wenn wir dem Ansatz von Emmi Pikler folgen, brauchen wir dann das vielzitierte Dorf, um ein Kind großzuziehen?
Natalie Rehm: Die Pikler-Pädagogik legt großen Wert auf eine Pflege, die beziehungsvoll in einer 1:1 Interaktion stattfindet, sowie auf eine selbständige Bewegungsentwicklung, die ein Kind aus eigener Kraft meistert und nicht zuletzt auf ein freies Spielen, in dem das Kind individuellen Interessen und Bedürfnissen nachgeht. Dazu braucht es Erwachsene, die bei alltäglichen Pflegehandlungen ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Kind richten können. In einer institutionellen Betreuungssituation setzt dies entsprechende strukturelle und personelle Ressourcen voraus, damit die Betreuungspersonen ihre anspruchsvolle Arbeit umsetzen können. Kinder brauchen außerdem genug Platz, um sich selbstständig bewegen zu können und entwicklungsgerechte Materialien zum Spielen. Das „Dorf“ braucht es insofern, als sich Betreuungspersonen (Eltern und Fachleute) ausreichend erholen können sollten, um qualitativ hochwertige Betreuungsarbeit leisten zu können.
Eine wechselseitige Kooperation in der Pflege beflügelt
FürKinder: Angelehnt an Emmi Piklers Erkenntnisse haben Sie sich für einen bewussten feinfühligen Umgang mit Ihrer Tochter entschieden. Ihre Tochter hat davon scheinbar profitiert, wie Sie berichteten. Hat sich auch Ihr Gefühlsleben dadurch verändert?
Natalie Rehm: Der feinfühlige Umgang mit Kindern ist eine win-win Situation für beide Seiten. Nicht nur das Kind profitiert von einem einfühlsamen, kooperativen Umgang der Erwachsenen mit ihnen, auch der Erwachsene fühlt sich dabei wohler. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich mich in meiner Rolle als Mutter oder Betreuungsperson immer dann gut fühle, wenn es mir gelingt, das Zusammensein mit dem Kind während der Pflege so zu gestalten, dass ein echtes Miteinander, eine wechselseitige Kooperation, entsteht. Das ist ein sehr befriedigendes, schönes, emotional nährendes Erlebnis.
Selbertun – das ist die Zauberformel der frühkindlichen Entwicklung
FürKinder: Ihr Buch hat den Titel „Gehen, Sprechen, Denken. Warum sollten Eltern der Bewegungsentwicklung ihres Kindes nicht vorgreifen?
Natalie Rehm: Greifen Erwachsene der Bewegungsentwicklung des Kindes vor, indem sie es in eine Körperhaltung bringen, die es noch nicht aus eigener Kraft aufsuchen kann, nehmen sie ihm die Möglichkeit, diesen Entwicklungsschritt selbst zu tun. Selbertun – das ist die Zauberformel der frühkindlichen Entwicklung. Kinder, die aus sich selbst heraus eine Herausforderung meistern, sind auf körperlicher und emotionaler Ebene bereit für diesen Schritt. Sie schöpfen ihre Potenziale bestmöglich aus. Das zeigt sich z. B. in der Qualität der Bewegungen. Ein Kind, das z. B. selbst sitzen gelernt hat, zeichnet sich durch eine gewisse Flexibilität in dieser Position aus: Es kann im Sitzen spielen und die Position ohne Hilfe von außen auch wieder verlassen. Es muss also nicht durch Weinen darauf aufmerksam machen, dass es sich unwohl fühlt und aus dieser Position befreit werden möchte. Ein selbst erreichtes Ziel ist außerdem ein echtes Erfolgserlebnis für das Kind. Es fühlt sich kompetent und erlebt sich selbstwirksam. Dadurch kann es Selbstvertrauen und ein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen.
FürKinder: Was hat die Bewegungsentwicklung mit dem Sprechen zu tun?
Natalie Rehm: Bewegung ist eine wichtige Basiskompetenz für das Sprechenlernen. Sprechen ist ein äußerst komplexer Bewegungsvorgang, an dem die gesamte Körpermotorik beteiligt ist.
Was die Denkentwicklung fördert
FürKinder: Wie wirkt sich die Bewegung und das Sprechen auf das Denken aus?
Natalie Rehm: Bewegung hinterlässt „Spuren“ im Gehirn, d. h. Bewegung ist an der Ausdifferenzierung des Gehirns in den ersten Lebensjahren maßgeblich beteiligt. Sprechen als motorische Fähigkeit wirkt sich ebenfalls auf die Strukturierung des Gehirns aus, das bei der Geburt noch unreif ist. Voraussetzung für das Denken lernen ist ein intensiv vernetztes Gehirn. Zum Denken braucht es außerdem Wörter und Begriffe. Die Namen der Dinge eignet sich das Kind durch das Sprechen lernen an.
Familie und Beruf – ein elterlicher Spagat
FürKinder: Was sind die größten Herausforderungen für Eltern?
Natalie Rehm: Ich denke, eine große Herausforderung für Eltern ist, sowohl den Bedürfnissen des Kindes als auch den eigenen auf angemessene Weise gerecht zu werden. Schwierig zu meistern ist auch der Spagat zwischen Familie und Beruf. Nicht zuletzt lastet ein großer Druck auf Eltern: Einerseits wollen sie das Beste für ihr Kind, alles richtig machen, andererseits wollen sie sich selbst verwirklichen. Auch die Gesellschaft stellt hohe Anforderungen an Eltern.
Die Erkenntnisse aus der Pikler-Pädagogik sind auch heute noch ein wesentlicher Beitrag zur körperlichen und emotionalen Gesundheit unserer Kinder
FürKinder: Emmi Piklers Forschungsarbeit liegt nun schon Jahre zurück. Haben Sie Kenntnisse davon, ob sich ihr Betreuungsansatz für die Kinder positiv auswirkt, wenn Sie an die zunehmende Anzahl an Menschen mit Depressionen, Anspannung und eigener Aggressivität denken?
Natalie Rehm: Neuere Forschungen zu den positiven Auswirkungen auf die psychische Verfassung von Menschen, die im Sinne der Pikler-Pädagogik aufgewachsen sind, gibt es meiner Kenntnis nach leider nicht. Vor dem Hintergrund der teilweise von der WHO finanzierten Nachuntersuchungen in den Jahren 1968 und 1970 von ehemaligen Heimkindern des von Emmi Pikler geleiteten Säuglingsheims Lóczy in Budapest, Ungarn, gehe ich davon aus, dass die Pikler-Pädagogik auch heute noch einen wesentlichen Beitrag zur körperlichen und emotionalen Gesundheit unserer Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen leisten kann.
FürKinder: Die frühe Krippenbetreuung greift landesweit immer mehr um sich. Ist es für Sie denkbar, dass 1-jährige Kinder von einer Gruppenbetreuung profitieren? Und wenn ja, welche Kriterien müssten zugrunde liegen?
Natalie Rehm: Junge Kinder können durchaus von einer frühen Krippenbetreuung profitieren, sofern diese qualitativ hochwertig ist. Dazu gehört beispielsweise ein Betreuungsschlüssel von 1:2. Je jünger die Kinder sind, desto enger müssen sie von wenigen konstanten Betreuungspersonen begleitet werden. Die Qualität der Interaktion zwischen Betreuungspersonen und Kindern ist ebenfalls ein entscheidendes Kriterium für eine positive Wirkung früher Fremdbetreuung. Dazu bedarf es einer umfassenden Schulung des Fachpersonals z. B. im Sinne der Pikler-Pädagogik. Wichtig erscheint mir außerdem, dass Betreuungspersonen genug entlastet werden, um sich ihrer anspruchsvollen pädagogischen Arbeit bestmöglich widmen zu können.
Kinder brauchen eine qualitativ hochwertig Betreuung
FürKinder: Franz Ruppert, Traumatherapeut, fordert von der Politik: Die Mütter und die Kinder müssen zusammenbleiben und zwar mindestens die ersten drei, vier Lebensjahre. Würden Sie aus Ihren langjährigen Erfahrungen heraus seine Forderung unterstützen?
Natalie Rehm: Ich würde es so formulieren: Eltern, die den Wunsch haben, die ersten Lebensjahre mit ihrem Kind zu Hause zu bleiben, sollten die Möglichkeit dazu erhalten. Es gibt aber durchaus Eltern, die früher wieder in den Beruf zurückkehren wollen. Diese sollten ebenfalls die Möglichkeit dazu haben. Das bedingt natürlich, dass es eine ausreichende Fremdbetreuung gibt. Sofern diese qualitativ hochwertig ist, sehe ich da weniger ein Problem. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, bei dieser Frage die individuelle Situation zu berücksichtigen.
FürKinder: Sicher sind Ihre Ausführungen im Buch für viele Eltern neu, nicht vertraut. Kann es Eltern mit dem Lesen Ihres Buches gelingen, in die empfindsame kindliche Seele hineinzuschlüpfen und dann möglicherweise den Kurs der eigenen Lebensplanung neu auszurichten?
Natalie Rehm: In meiner praktischen Arbeit mit Eltern und Kindern konnte ich beobachten, dass Eltern durchaus von der Pikler-Pädagogik zu einem Kurswechsel inspiriert worden sind. Ob dies auch durch das Lesen meines Buches gelingt, bleibt zu hoffen.
FürKinder: Emmi Pikler spricht immer wieder davon, wie wichtig es ist mit Ruhe und Zuwendung dem Kind zu begegnen. Ihre Filmdokumente sind sehr bewegend, zu sehen wie feinfühlig die Pflegenden mit den ihnen fremden anvertrauten Kindern umgehen. Wie kommt es, dass dieses Wissen jetzt erst Müttern und Vätern zugänglich wird und wie erleben Sie – in Ihrer Kursarbeit – heutige Mütter?
Natalie Rehm: Seit Jahrzehnten gibt es sehr engagierte Menschen, die sich für die Verbreitung der Pikler-Pädagogik einsetzen. Ich denke wie alles Neue hat es auch dieses Wissen schwer, ins allgemeine Bewusstsein vorzudringen. Die Pikler-Pädagogik erfordert eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihren Inhalten, was ein Umdenken nach sich zieht. Dazu sind nur wenige Menschen bereit. Drei Jahre vor ihrem Tod formuliert Emmi Pikler diese Tatsache so:
„Das Umsetzen wissenschaftlicher Resultate und Erkenntnisse in die Praxis, bei der die Mutter ihr mütterliches Verhalten dem Säugling gegenüber bzw. die Eltern ihre Einstellung zu seiner Erziehung verändern müssten, ist viel schwieriger und stößt oft auf fast unüberwindbare Widerstände.“ (Emmi Pikler u.a., Miteinander vertraut werden. Erfahrungen und Gedanken zur Pflege von Säuglingen und Kleinkindern, Freiamt 2008, S. 43).
Nichts desto Trotz gibt es heute junge Eltern, bei denen die Pikler-Pädagogik wie Samen auf fruchtbaren Boden fallen, als ob sie nur darauf gewartet hätten, aufzugehen.
Vielen Dank für das Gespräch.
von Redaktion fürKinder
Links zum Thema
Die ersten 1000 Lebenstage sind entscheidend, Quelle: Dee Dee Yates, TED-Talks zu Elternschaft, Erziehung und Bildung, Originalvortrag
Elternkurs: Baustein „Elternschaft“
„Gehen, Sprechen, Denken“ Wie Babys sich aus eigener Kraft entwickeln, Natalie Rehm, Kösel-Verlag
„Die neue Elternschule“, Margot Sunderland, Dorling Kindersley Verlag