Wie ich 107 wurde - Foto © Sandra Behrbohm„Was soll aus dem Schüler nur werden?“ fragten wir uns während meiner langen Zeit der Arbeit als Therapeutin und Lehrerin in allgemeinbildenden Schulen so manches Mal besorgt. Zu groß schienen uns oftmals die Belastungen, die Kinder all zu früh schultern mussten und wir waren froh, wenn wir durch Gesprächs-und Kreativangebote wenigstens etwas unterstützen konnten.

Wenn wir wüssten, wie aus unglücklichen Kindern glückliche Hundertjährige würden, wäre das wunderbar. Und dieses Wissen wäre wohl kaum »das eine Rezept«. Aber schauen wir gemeinsam und versuchen ein wenig zu erhellen anhand der Lebensgeschichte von Anna Lang und ihrer Biografie »Wie ich 107 wurde«:

Was hat Anna gerettet?
Wie hat Anna es geschafft, glücklich zu werden?

Darauf Antworten zu finden, erfordert sicher differenzierte Betrachtung. Ich möchte, meiner therapeutischen Heimat geschuldet, aus leiborientiert- integrativer und salutogenetischer (kurz gesprochen, nicht Krankheit in den Blick nehmend, sondern das, was gesund erhält) Perspektive betrachten. Wenngleich in einer völlig anderen Zeit geboren (und somit sicherlich nicht ohne Weiteres auf unsere Zeiten heute übertragbar), so lassen sich auch im Leben der Anna Lang, um es neuzeitlich auszudrücken, Resilienzen (Widerstandskräfte) und Ressourcen entdecken, wie wir sie in Forschungen und Studien an belasteten Kindern bereits als hilfreich identifizieren konnten, hier vor allem:

  • positive Bindungserfahrungen außerhalb der Kernfamilie
  • Resonanz-und Wirksamkeitserfahrungen
  • Belastendes als Herausforderung, die bewältigt werden kann, anzusehen (challenge)
  • geeignete Coping-und Bewältigungsstrategien
  • Möglichkeit zu kreativem Ausdruck
  • die Integration von „schwierigen“ Gefühlen und Erlebnisse in einen sinn-stiftenden Kontext
  • Fähigkeit zu Humor und Frohsinn (Wolin&Wolin)

Heilsame Beziehungs- und Resonanzerfahrungen

Einmal mehr sehen wir an Anna, wie eine zentrale Bezugsperson im Leben eines belasteten Kindes rettend sein, ja, in ihrer Bedeutsamkeit für die Identitätsentwicklung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Anna erzählt von Menschen, die sie getragen haben, außerhalb ihrer Stammfamilie. Die  Großmutter „…war mir die Liebste“. Jeden Mittwoch ist Anna von klein auf aus Augsburg aufs Land hinaus die 10 km zur Oma gewandert.

„Das hat das Herz gefüllt…sie hat mich angenommen. Sie hatte immer Zeit für mich … Sie war die einzige Person, die mich gemocht hat … dafür bin die 4 Stunden gelaufen, jeden Mittwoch.“

So kann sie später auch zu weiteren Personen Vertrauen fassen, die sie mögen: etwa zum Großbauern Brandnervater, auf dessen Hof sie im 1. Weltkrieg verweilt, und der ihr ihr erstes Gewand schenkt.

Und auch eine weitere Liebe wird ihr Hilfe und Ressource: die Kreativität. Sie entdeckt als junge Frau das Theaterspielen für sich: sie kommt auf die Bühne. Rezitiert Gedichte, wird von einem Schauspiellehrer entdeckt. Hier ist Raum für Emotion und Aus-Druck, neuartige Resonanzerfahrungen werden für Anna möglich, sie findet Anklang. „Das war ein schönes Leben!“, beschreibt Anna, mit großer Bescheidenheit, ohne Pathos. Die Begeisterung für die künstlerische Arbeit ist ihr auch mit 107 noch anzuspüren. Der Schauspiellehrer (er habe sogar die später berühmte Martha Schneider unter seinen „Fittichen“ gehabt) will sie zum Film bringen, aber Anna will einmal mehr Mutter und Bruder nicht allein lassen. Wie so viele Kinder aus belasteten Familien zeigt sie ein großes Verantwortungsbewusstsein für die Familie, in der sie doch viel Leid erfuhr. Wie so manches Leid in ihrem Leben kompensiert sie auch diesen Verzicht, „man muss überbrücken mit Liebe“.

Resümee: „… das ist die Kunst des Lebens.“

Eindrucksvoll gelingt es der Regisseurin in das Leben der Anna Lang einzutauchen, durch Annas sensibel geschnittene innige Erzählungen, unterstützt mit Bildmaterial von Orten, die bedeutsam waren. Die Balance zwischen Einst und Jetzt, zwischen Schwere und Leichtigkeit gelingt, nicht zuletzt durch die so einfühlsam unterlegte Musik (hier vor allem durch die kommentierende Violine), einfühlsam gerade nah genug an der Protagonistin, Intimität und Grenzen wahrend, Mut machend. „Immer wieder das Positive in den anderen sehen, das ist die Kunst des Lebens!“ resümiert Anna. „Man kann sich so freuen, dass man als Mensch leben darf. Ich bin so glücklich, bin im Paradies.“

In einer Vorankündigung des Films ist zu lesen: „Anna Lang ist mit ihren 107 Jahren rüstig, geistig völlig präsent und hat einen erfrischenden, hintergründigen Humor. Ihre Geschichte erzählt von einem beispielhaften Frauenleben, das sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt.“ Ich stimme diesen Zeilen zu und möchte ergänzen, dass Annas Leben beispielhaft sein mag für Frauen dieser Zeit, aber in ihrer Einzigartigkeit, das Leben und seine Herausforderungen zu bewältigen, sich die Erlebensfähigkeit und Lebendigkeit dennoch zu erhalten, sucht Anna sicher ihres Gleichen.

Am 27.9.2019 ist Anna Lang mit 108 Jahren gestorben. Ihr Lebensmut, ihre Freude, ihre Kraft zum „Dennoch“ mögen weit über ihren Tod hinaus inspirieren: deshalb möchte ich Ihnen, die sie sich um das Wohl unserer Kinder, gerade auch in diesen schwierigen Jetzt-Zeiten sorgen, Ihnen, die Sie manchmal schwere Beziehungsarbeit leisten, diesen Filmbeitrag ans Herz legen.

von Waltraut Barnowski-Geiser

Links zum Thema

Vater, Mutter, Sucht, Waltraut Barnowski-Geiser, Klett-Cotta, 2015

Kindheit: Der unbewusste Treuevertrag hat einen hohen Preis, Waltraut Barnowski-Geiser, Kritik zum Film: „Wie ich 107 wurde“