Wenn Eltern und Erzieher nicht ausreichend über die speziellen Bedürfnisse von Kindern mit Wahrnehmungsstörungen informiert sind, kann das schwerwiegende Folgen für deren Entwicklung haben.
Prof. Dr. Eva Rass, eine erfahrene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, weist darauf hin, dass mangelndes Verständnis zu einer unzureichenden Bindung und langfristigem emotionalen Leiden führen kann.
Diagnosefehler, emotionale Folgen und der Weg zur Unterstützung
Dieser Text beleuchtet, wie solche Wahrnehmungsstörungen erkannt werden können, warum sie häufig fälschlicherweise mit ADHS, Autismus oder anderen Störungen diagnostiziert werden und welche Schritte notwendig sind, um betroffenen Kindern eine angemessene Unterstützung zu bieten.
Erkennung von Wahrnehmungsstörungen
Wahrnehmungsstörungen bei Kindern sind relativ häufig und können durch einfache Tests identifiziert werden. Eine Studie des Gesundheitsministeriums Baden-Württemberg aus dem Jahr 2001 zeigte, dass 23 % der Kinder unter verschiedenen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen leiden. Diese Störungen betreffen Bereiche wie Sehen, Hören, Motorik und Artikulation. Sie sind angeboren und nicht durch emotionale Zustände, Empathiemängel oder psychologische Faktoren verursacht.
Auswirkungen auf das Lernen und Verhalten
Kinder mit Wahrnehmungsstörungen haben Schwierigkeiten, Informationen korrekt zu verarbeiten. Dies kann zu Entwicklungsstörungen, Lernschwierigkeiten (wie Lese-Rechtschreib-Schwäche), Konzentrationsproblemen und sozialen Schwierigkeiten führen. Es ist wichtig, gezielte therapeutische Ansätze zu wählen, da eine rein psychologische Behandlung oft nicht ausreicht, wenn die zugrunde liegenden Wahrnehmungsstörungen nicht berücksichtigt werden.
Körperliche Koordination und Gleichgewicht
Kinder mit Wahrnehmungsstörungen haben oft Probleme mit der Koordination und dem Gleichgewicht. Aktivitäten wie Schaukeln, Klettern oder Ballspielen können ihnen schwerfallen, was zu einem geringen Selbstvertrauen führen kann. Sie erleben häufig Scham und Kritik, wenn sie körperliche Aufgaben nicht wie andere Kinder meistern. Diese Kinder haben später Schwierigkeiten, komplexe Handlungen zu planen und auszuführen, z. B. beim Zimmer aufräumen oder bei feinmotorischen Aufgaben wie Schreiben und Zeichnen. Sie erleben oft Kritik, da sie Abläufe nicht gut strukturieren können.
Verarbeitung von Geräuschen und Sprache
Kinder, die Schwierigkeiten haben, Geräusche und Sprache im Gehirn zu verarbeiten, nehmen akustische Reize oft als „Geräuschbrei“ wahr. Sie können den Rhythmus der Sprache langsamer verarbeiten und haben Probleme, Laute und Konsonanten-Kombinationen wie „dr“, „gr“, „pr“ klar zu erkennen. Dies führt oft zu gereiztem Verhalten, Rückzug aus sozialen Gruppen oder Frustration und kann fälschlicherweise als ADHS diagnostiziert werden. Häufig werden Kinder mit solchen Auffälligkeiten zur logopädischen Therapie geschickt, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern. Aufgrund der zugrunde liegenden Wahrnehmungsstörung wird jedoch oft das korrekte Erlernen der Sprache behindert. Das kann zur Belastung für das Kind werden, da es merkt, dass es den Aufgaben nicht gerecht werden kann, dementsprechend kann es mit auffälligen Verhalten reagieren. Erwachsene und Lehrer interpretieren dieses Verhalten oft falsch, indem sie denken, das Kind höre nicht zu oder sei unkonzentriert.
Visuelle Wahrnehmungsstörungen
Bei visuellen Wahrnehmungsstörungen haben Kinder Schwierigkeiten, neue und komplexe Situationen schnell genug zu erfassen. Die Informationen erscheinen ihnen wie ein schnell vorbeiziehender Film, den sie nicht vollständig verstehen können. Betroffene Kinder entwickeln Vermeidungsstrategien und fühlen sich in Gruppen unsicher. Dies kann zu Gefühlen von Scham, Angst und sozialem Rückzug führen und dem Glauben, dass sie nicht gemocht oder verstanden werden. Die betroffenen Kinder benötigen ein empathisches Umfeld und Unterstützung, um sich schrittweise zu integrieren.
Fehldiagnosen und Missverständnisse
Kinder mit Wahrnehmungsstörungen sind anfällig für Frustration, Angst vor Neuem, Depressionen und entwickeln langfristig negative emotionale Muster, die ihre sozialen Beziehungen und ihre Entwicklung beeinträchtigen. Oft werden Kinder mit diesen Schwächen fälschlicherweise als unkonzentriert oder als ADHS/ADS-Patienten diagnostiziert, oder es wird mit Autismus verwechselt. Die schnelle, flexible Gesellschaft und hohe Anforderungen verstärken zusätzlich den Druck auf diese Kinder, was zu anhaltendem Stress und psychosomatischen Erkrankungen führen kann.
Notwendigkeit gezielter Förderung
Eine individuelle Diagnostik und Förderung, die auf die spezifischen sensorischen und kognitiven Fähigkeiten der Kinder abgestimmt ist, ist entscheidend. Viele vermeintlich psychische Probleme basieren auf Wahrnehmungsstörungen, die durch gezielte therapeutische Maßnahmen besser adressiert werden können. Therapien, wie z. B. psychomotorische und ergotherapeutische Behandlungen sowie geregeltes Schwimmtraining, Tanzen, Reiten, u. ä., können helfen, diese Defizite zu verbessern. Für das schulische Lernen und die Kommunikation ist die auditive Wahrnehmung entscheidend, weshalb frühe logopädische Unterstützung oft notwendig ist, auch wenn die Behandlungen oft auf die Ausdrucksfähigkeit und nicht auf die auditive Organisation der Wahrnehmung fokussiert sind.
Schlussgedanken
Wahrnehmungsstörungen bei Kindern erfordern ein tiefes Verständnis und gezielte Unterstützung von Eltern, Erziehern und Fachleuten. Fehlende Sensibilität gegenüber diesen Störungen kann zu Missverständnissen in der Beziehung zwischen Kind und Eltern, Fehldiagnosen und zusätzlichen emotionalen Belastungen führen.
Das Wissen über psychische Störungen, die durch zwischenmenschliche Faktoren entstehen, führt oft dazu, dass Beziehungsschwierigkeiten „psychologisiert“ werden. Dabei wird jedoch häufig vernachlässigt, dass sensorische und körperliche Faktoren (wie Berührungs- und Bewegungswahrnehmung) eine Rolle spielen können. Die Folge ist, dass Verhaltensauffälligkeiten oder psychosomatische Erkrankungen fälschlicherweise als Hauptproblem betrachtet werden, obwohl sie möglicherweise nur eine Folge von unbeachteten sensorischen Schwierigkeiten sind. Eine Schwäche in der sensorischen Integration wirkt häufig auf verschiedenen Verarbeitungsbereichen und ein echter Ausgleich durch die anderen vorhandenen Kompetenzen gelingt meist nicht. Durch den Mangel an Wissen können Eltern und professionelle Erzieher den Bedürfnissen des sich entwickelnden Kindes, für das Stützung und Verstehen besonders wichtig wären, um eine sicherheitsgebende Bindung zu entwickeln, nicht gerecht werden. Da dieser Prozess den Alltag des Kindes ständig begleitet, kann es zu einer Anhäufung von fortwährenden Belastungsfaktoren bis hin zu Minimaltraumata kommen.
Der unverstandene Heranwachsende kann seine Fürsorgeperson nicht ausreichend als empathische Bezugsperson benutzen, und ein derart unverstandenes Kind wird immer unglücklicher sein als ein intaktes, da es die Fähigkeit seiner „good enough“-Eltern nicht nutzen kann und diese in ihrem Bemühen als Eltern auch nicht ausreichend bestätigt werden. Der Beziehungsdialog wird durch die fortwährenden Missverständnisse und das Scheitern, das keinen Namen hat, immer schwieriger und ungünstige Regelkreise prägen sich tief in das Erleben des Kindes ein. Der Zeitgeist der Schnelllebigkeit und Flexibilität verführen die Umgebung, verstärkt mit Kritik und noch größere Anforderung zu reagieren.
Wenn einfühlsame Eltern instinktiv die verborgenen Bedürfnisse ihres Kindes erspüren, reagieren sie entsprechend mit Akzeptanz und Beruhigung, was in der Familie dringend notwendig ist. Allerdings steht diese wichtige Feinabstimmung oft im starken Gegensatz zu der Außenwelt, die häufig Schwierigkeiten hat, das Kind zu verstehen. Da das Leben eines solchen Kindes häufig unter intensivster Anspannung verläuft, ist im Praxisalltag immer wieder zu beobachten, dass diese Phänomene mit der Diagnose ADHS/ADS belegt werden.
Eine fundierte Diagnostik und individuelle Förderung sind notwendig, um die besonderen Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen und ihnen eine angemessene Unterstützung zu bieten. Das Ziel sollte sein, den Kindern ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich verstanden fühlen und ihre Fähigkeiten entwickeln können.
Ein Beispiel aus der Praxis zeigt, wie eine späte Erkenntnis zu einer beruflichen Neuorientierung führte:
Ein früherer Kinderpatient kam als junger Erwachsener wieder, da die begonnenen Berufsausbildungen alle wenig erfolgreich waren – da sowohl er als auch das Arbeitsamt die alten Unzulänglichkeiten als lifelong condition nicht bedacht hatten. Bald konnten wir im vertrauten Gespräch das Dilemma erkennen: und so kam er zu folgendem Schluss „Ich weiß es doch schon immer: ich möchte Gärtner werden. Die Pflanzen reden nichts und wachsen langsam.“
von Eva Rass
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Links zum Thema
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Risiko- und Schutzfaktoren im Zusammenhang mit gesundheitsbezogener Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS in Deutschland – Ergebnisse aus dem Konsortialprojekt INTEGRATE-ADHD, Journal of Health Monitoring, Robert Koch Institut, 18. 09. 2024
Die Kosten neu diagnostizierter ADHS im Kindes- und Jugendalter – Eine GKV-Routinedatenanalyse im Rahmen des Konsortialprojektes INTEGRATE-ADHD, Journal of Health Monitoring, Robert Koch Institut, 18. 09. 2024