Was braucht das Kind - Foto Sergej Khackimullin © fotolia

Entwicklung vollzieht sich in Phasen oder Stufen. Am deutlichsten zeigt sich Entwicklung in der Kindheit. Das Kind soll zum Mitmenschen werden, der fähig ist, den anderen Menschen als ein individuelles Wesen zu sehen, der die Grenzen des anderen akzeptiert, der Mitleid empfinden und seine Kraft in den Dienst von anderen stellen kann.

Der Mensch ist ein sich lebenslang entwickelndes Wesen.

Andererseits soll sich das Kind aber auch zu einem ganz individuellen Wesen entwickeln, zu einem Menschen, der seinen eigenen „roten Faden“ im Leben erkennen lernt, der seine eigenen Fähigkeiten einschätzen und weiterentwickeln kann, aber auch seine Beschränkungen kennt und akzeptieren kann.

Wie lernt das Kind all das?

Einerseits hat ein Kind eine gewisse genetische Disposition, es kommt mit bestimmten Anlagen und Fähigkeiten zur Welt. Andererseits wird es in eine bestimmte Familie hineingeboren, in eine bestimmte Situation, die ihm Entwicklung ermöglichen oder auch erschweren kann. Es lernt durch seine Auseinandersetzung mit der Welt, zuerst in der unmittelbaren Umgebung der Familie, dann lernt es dort, wo es in einen immer größer und größer werdenden Radius hineingestellt ist, also im Kindergarten, durch die Nachbarschaft, die Großeltern, Freunde usw. Am meisten lernt das Kind in der frühesten Epoche seines Lebens. Da ist es am empfänglichsten für Eindrücke, ja, da hat es noch keinen Schutz, sich von Eindrücken überhaupt abzugrenzen.

In den wichtigen ersten drei Jahren ist das Kind noch verbunden mit seiner Umwelt, vor allem verbunden mit der Mutter, beziehungsweise mit der Person, die es vorrangig betreut; es hat noch keine Ich-Grenzen, Ich und Welt sind eines (Das heißt nicht, dass es nicht bald unterscheiden lernt zwischen Mutter, Vater und fremden Personen, was deutlich wird im „Fremdelalter“, wenn das Kind etwa 9 Monate alt ist).

Frühere „Ich-Erkenntnis“

Aber erst, wenn das Kind zu sich „Ich“ sagen lernt, beginnt es sich deutlich aus der Einheit mit der vertrauten Person zu lösen und erlebt sich als von ihr getrennt. Seinen Ausdruck findet  das in der sogenannten Trotzphase. In diesem Alter gehen viele Kinder die ersten Schritte in die Selbständigkeit, werden Kindergartenkinder. Natürlich sind die Übergänge fließend, heute scheint sich dieser Vorgang der ersten „Ich-Erkenntnis“ deutlich früher zu zeigen.

Wichtig für die Selbständigkeitsentwicklung des Kindes ist das Bindungsverhalten des Kindes zur Mutter, das sich vor allem im ersten Lebensjahr als Erfahrung manifestiert. Bis dahin haben die Kinder bereits ein Bild von der Welt und ihren Vertrauenspersonen entwickelt, das ihnen entweder ein Gefühl der Verlässlichkeit gibt, oder aber das Gefühl der Unberechenbarkeit verunsichert die Kinder so, dass sie selber eine ambivalente Beziehung zur Welt entwickeln.

Entscheidend sind die Erfahrungen der ersten Jahre für die weitere Entwicklung auch im Hinblick auf die Selbstachtung der Kinder. (Die Psychologie erkennt hier einen deutlichen Zusammenhang zu den Bindungserfahrungen). Seine sozialen und emotionalen Persönlichkeitsmerkmale werden bereits durch entsprechende frühkindliche Erfahrungen geprägt. Erlebt das Kind in seiner frühen  Kindheit keine ausreichende Geborgenheit, ist die Gefahr groß, dass es in späterem Alter hyperaktiv, ängstlich, unausgeglichen und wenig bindungsfähig wird. Ebenso ist seine Spielfähigkeit beeinträchtigt.

Nähe und Distanz – wieviel Raum braucht das Kind für sich selbst?

Was braucht das Kind - Foto iStock © Jernej GartnerFür seine Entwicklung in den ersten Jahren, ebenso aber auch später, benötigt das Kind nicht nur stabile Beziehungen und eigene Zeiträume zu seiner Entfaltung, sondern auch Lebens- und Entwicklungsräume im Sinne von Seelenräumen. Gemeint ist der seelische Raum, der Schutz und Halt vermittelt, einmal durch Grenzsetzung von Seiten der Erwachsenen, der aber auch entsteht durch Familienrituale, durch Struktur und Rhythmus, der gleichzeitig Entfaltungsraum ist, indem der Erwachsene Wärme gibt, Zuwendung, Anteilnahme und Spielraum.

Der Erwachsene ist aufgerufen, in diesem Raum die für das Kind in seiner jeweiligen Entwicklungsphase nötige Nähe, aber auch die nötige Distanz herzustellen. Insbesondere die Frage, wie viel Raum  das Kind für sich braucht und  wie es sich diesen schafft, verlangt viel Einfühlungsvermögen des Erwachsenen. Die Abgrenzungsversuche werden oft krisenhaft erlebt. Sie sind immer Kennzeichen neuer Entwicklungsstufen und nicht nur eminent wichtig gegen Ende der Kindheit, wenn das Kind lernen will und muss, sich von seiner Umwelt, vor allem aber von den Eltern zu lösen und die ersten Schritte in die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung tut.

Aber schon von Anfang an wird deutlich, was das Kind in dieser Hinsicht braucht. Wenn man einen Säugling oder ein Kleinkind ständig bei seinem Tun unterbricht, weil etwas kaputt gehen oder das Kind sich verletzen könnte, wenn man es ständig zu irgendetwas ermuntert, was es noch nicht kann, es zum Beispiel zum Stehen hochzieht, obwohl es von sich aus keine Anstalten macht, ist das für seine Entwicklung genauso wenig förderlich, wie wenn man es ständig in einen „Baby-Safe“ setzt.

Ein Kind braucht seine eigene Zeit und seine eigenen Erfahrungen

Emmi Pikler, eine ungarische Kinderärztin, hat immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Kind kein Spielzeug ist, das von früh bis spät von seinen Verwandten herumgetragen werden will, die es kitzeln, mit ihm herumtanzen und von ihm verlangen, dass es seine neuesten Kunststücke zeigt. Es ist auch kein Gegenstand des Wettbewerbs, das man mit anderen ständig vergleichen soll, dem man Dinge entlocken will („sag ‚Mama’, sag’ doch mal ‚Maamaa’“).

Ein Kind braucht seine eigene Zeit für seine Entwicklung, es lernt das, was seiner Entwicklung gemäß ist von alleine, wenn es mit der nötigen Geduld und Ruhe begleitet wird und wenn man ihm seine Umgebung so gestaltet, dass es eigene Erfahrungen machen kann. Es ist sinnvoller, seine Umgebung umzugestalten (die teure Stereoanlage in ein anderes Zimmer, die kostbaren Bücher höher ins Regal und die Scheren und Messer nicht in die unterste Schublade), als das Kind ständig bei seinen Erkundungsabenteuern zu unterbrechen. Dagegen ist es wichtig, dass die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrnehmen lernen und sie bei ihrer Entwicklung zur Selbständigkeit ermutigen.

Die Funktion des Spielens verändert sich

Wenn das Kind erleben konnte, dass die Eltern ihm Dinge zutrauen, die es auch selber wagt und es vielfältige Erfahrungen im Hinblick auf seine eigenen Fähigkeiten machen konnte, ist es meist gut in der Lage, selbst abzuschätzen, was es schon kann. Für das Spielverhalten des Kindes gilt: Das Kind ist mit drei Jahren deutlicher in der Lage, das Spiel als Lebensbewältigung und Existenzsicherung zu nutzen.

Vorher war das Kind stärker interessiert an den Tätigkeiten der Erwachsenen, die es sich im nachahmenden Spiel zu eigen gemacht hat. Nun aber wird das Spiel im Zusammenhang mit anderen Kindern nach und nach von einem Nebeneinander zu einem Miteinander. Das Kind erwirbt sich soziale Fähigkeiten. Es kann jetzt ausdauernd spielen und je näher es dem Schulalter kommt, desto planvoller spielt es auch. Es weiß dann bereits am Morgen, womit es sich im Kindergarten beschäftigen will. Vorher ließ es sich stärker von dem anregen, was um es herum geschah.

Nicht von ungefähr ist das Recht auf Spiel Teil der inzwischen auch in Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention. Es sollte uns zu denken geben, dass der UN-Experte und Sonderberichterstatter Muñoz auf der 4.Sitzung des UN-Rates 2007 Bedenken äußerte, dass die vorschulische Bildung in Deutschland zu sehr „formalisiert und so das Spiel als pädagogisches Mittel und Grundrecht abgeschafft werde“.

Frei, selbstbestimmt, eigenverantwortlich und eingebunden in Beziehungen

Was braucht das Kind - Foto iStock © Petr BonekWenn man von Entwicklung spricht, stellt sich natürlich unmittelbar die Frage nach der Zielsetzung. Wohin will, wohin soll sich das Kind, der junge Mensch entwickeln? Als das Ziel der menschlichen Entwicklung gilt in meinen Augen die Freiheit als diejenige Eigenschaft, die uns am meisten vom Tier unterscheidet. Frei von Instinktverhalten, Trieben und Begierden, frei auch von Außeneinflüssen jeder Art, frei, selbstbestimmt und eigenverantwortlich die als notwendig erachteten Aufgaben, die das Leben stellt, zu meistern.

„Frei ist der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen imstande ist.“  So gesehen bleiben wir immer in Entwicklung begriffene Individuen.

Der sich zu Freiheit und Selbstbestimmung entwickelnde junge Mensch, der sich uns Erwachsenen anvertraut hat, wird auch uns beweglich halten und öffnen für Neues, weil er durch sein Sein und seine Orientierung an der Zukunft unsere Gegenwart und damit unsere Denkgewohnheiten immer wieder in Frage stellen wird. Daher sind die Gegenwart von Kindern und der Dialog mit den Heranwachsenden für den Erwachsenen so fruchtbar. Insofern ist Erziehung in erster Linie Be-ziehung, verweist es doch auf die Gegenseitigkeit: So wie das Kind vom Erwachsenen lernt, so kann der Erwachsene vom Kind und mit ihm lernen. Mut zur Erziehung bedeutet dann, dass in dem gegenseitigen Verhältnis die Freiheit impliziert ist. Der Religionsphilosoph Martin Buber hat es vor 50 Jahren so formuliert:

„Der Mensch, der erziehende, er braucht keine der Vollkommenheiten zu besitzen, die das Kind ihm anträumt. Er kann sich auch nicht in einem fort mit dem Kind befassen, weder tatsächlich noch auch in Gedanken, und soll´s auch nicht. Aber hat er es wirklich aufgenommen, dann ist jene unterirdische Dialogik, jene stets potentielle Gegenwärtigkeit des einen für den anderen gestiftet und dauert. Dann ist Wirklichkeit zwischen beiden, Gegenseitigkeit.“

Kinder nicht „an-eignen“

Die unabdingbare Voraussetzung des Erwachsenen hierfür heißt „wahr-nehmen“ und zwar im eigentlichen Wortsinn. Es bedeutet, das Kind in seinem eigentlichen Wesen zu erkennen, Abstand zu nehmen von den eigenen Vorstellungen, von den Wünschen darüber, wie man das Kind gerne hätte, von Vorurteilen, und seien sie noch so positiv, sich hüten vor Übertragungen („genau wie ich früher!“). Wichtig ist der unverstellte Blick auf das Kind mit den Fragen:

Wer bist du? Was brauchst du? Wo willst du hin? Was brauchst du von mir? Was verlangt die Situation? Wohin geht dein Interesse? Welches ist die Aufgabe, die du dir gerade vorgenommen hast?

Lernprogramme stehen dem eigentlich grundsätzlich im Wege, wenn sie die Lernziele im Vorhinein bestimmen, ebenso wie Erziehungsratgeber, die versprechen, für jede Situation eine Pauschallösung parat zu haben. Was der Erwachsene aber braucht, um sich auf ein Kind wirklich einzulassen, um seine Einzigartigkeit zu erkennen, ist Muße und Aufmerksamkeit. Einfach ist das sicherlich nicht, wenn man bedenkt, unter welchem Zeitdruck heute die Familien stehen, wenn beide Eltern Vollzeit arbeiten wollen oder müssen, wenn die zur Verfügung stehende Zeit, ohne Programm, immer knapper wird.

Wie sollen Erzieherinnen in Kitas, die oft hoffnungslos überfüllt sind, weil es an Personal mangelt, noch ausreichend Zeit für die Bedürfnisse des einzelnen Kindes aufbringen? Denn, um nicht falsch verstanden zu werden: einfach die Kinder machen lassen ist nicht generell die bessere Alternative dazu, das Lernen von Anfang an zu verschulen.

Nur aus der genauen Wahrnehmung dessen, was ich am Kind und seinem Tun beobachte, kann ich sein Tun und damit sein Lernen unterstützen.

von Gabriele Pohl

Zitiert:
Emmi Pikler, Lasst mir Zeit, 3. Aufl. (2001)
Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, 4. Aufl. (2017)
Martin Buber, 1956, zitiert in : Andreas Flitner, Konrad, sprach die Frau Mama…Über Erziehung und Nicht-Erziehung,  München, 1982, S.156