Ist der Streit um die richtige Kindererziehung auch ein Streit um die politische Zukunft unseres Gemeinwesens? Den meisten Menschen wird diese Frage absurd erscheinen. Was ist privater, was ist intimer als Mutter- und Vaterliebe? Gehören nicht die Erzählungen aus alter und jüngster Geschichte über die Vergesellschaftung/Politisierung der Kinderziehung (von den Spartanern bis zur nordkoeranischen Massenkrippe) zum Schauerlichsten, was die Geschichte der Pädagogik zu bieten hat?
Kein Unterdrückungssystem von Dauer ohne Zwangseingriffe in die frühkindliche Entwicklung
Schon wahr! Aber umgekehrt ist eben auch richtig, dass all diese Gesellschafts- und Herrschaftsformen gar nicht möglich gewesen wären, ohne die Zurichtung der Kleinen und Kleinsten in allgemein oder zumindest überwiegend akzeptierten Erziehungs- oder besser: Zurichtungssystemen – kein totalitärer Staat ohne „schwarze Pädagogik“. Kein totalitäres, ja nicht einmal ein autoritäres System könnte auf Dauer überleben mit Bürgern, die in ihrer frühesten Kindheit gelernt hätten, anderen mit Empathie zu begegnen, die eigenen Gefühle selbst kontrollieren zu können und die Besonderheiten anderer Mitmenschen als legitim zu akzeptieren und sie zumindest mit Fassung zu ertragen.
Ein staatliches Unterdrückungskorsett würde zerspringen unter dem Druck von Bewohnern, die schon als Babys und Kleinkinder gelernt hätten, selbstständig – und vor allem im freien Spiel ohne Eingriffe „von oben“- Dinge und ihre Zusammenhänge zu erkunden, ihre Bedürfnisse und Interessen frei auszudrücken ohne immer und überall von Sanktionen eingegrenzt zu werden, und die jederzeit darauf vertrauen konnten, dass es in Not und Gefahr im Hintergrund immer einen Rückzugsort, einen sicheren Hafen gab, von dem aus man zu neuen Dingen aufbrechen konnte.
Wie wird ein Mensch zum mitleidlosen Hasser und Killer
Nun ist unsere Gegenwart sicher nicht bedroht von weit verbreiteten Wahnvorstellungen über „identitäre“ Erziehung, von einem flächendeckenden Betrieb von Prokrustes-Betten [1] für unsere Kleinsten. Aber das immer wiederkehrende Auftauchen ideologisch verengter und hermetisch nach außen abgegrenzter Bewegungen und Organisationen auch in anscheinend demokratie-sicheren, liberalen Gesellschaften – derzeit in unserem Land die Welle rassistischer und fremdenfeindlicher Gesinnung und im Extrem neo-faschistischer, potentiell gewalttätiger Gruppen – erlaubt die Frage nach den Ursprüngen schon im frühesten Erleben ihrer Mitglieder und Gesinnungsgenossen.
Die rituelle Reaktion in Politik und Öffentlichkeit auf Ausbrüche von rechts- oder gelegentlich auch linksradikaler Gewalt mit Standard-Empörung und Aufruf zum Kampf dagegen, immer festgemacht an Ereignissen, Events, und Institutionen greift bei weitem zu kurz. Sie stellt nicht, ja sie ver-stellt sogar, die entscheidende Frage:
Was macht den Gewalttäter zum Täter? Wieso reagiert ein Mensch positiv auf eine Vorstellung von Gemeinschaft, die von ihm die Aufgabe der eigenen Individualität, das bruchlose Aufgehen in kollektiver Identität verlangt?
Eine eindeutige, eindimensionale Erklärung gibt es sicher nicht. Viele Entwicklungen und biographische Brüche können da eine Rolle spielen. So etwa die Verwerfungen und Entwertungen ganzer Biographien nach der Eingliederung der ehemaligen DDR („Neue Bundesländer“) in das neue Gesamtdeutschland. Aber immer wird der Blick auf die frühe Kindheit, so schwierig das im Einzelfall auch ist, ein wesentlicher Schlüssel sein zur Einsicht in die Umstände, die von dem weitgehend „unbeschrifteten“ Neugeborenen zum fremd-emotionalisierten, empathielosen Gewalttäter führen.
Politik, Medien und Öffentlichkeit drücken sich vor dieser Diskussion
Diese merkwürdige Lücke in der öffentlichen Diskussion um das Entstehen anti-demokratischer, im schlimmsten Falle terroristischer Bewegungen, versucht Dr. Herbert Renz-Polster zu schließen in seinem kürzlich erschienen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ (hier eine Rezension) und aktuell in einem Blog-Kommentar zum Anschlag in Halle, den wir mit seiner Erlaubnis hier übernehmen:
Blog: Kinder verstehen
Halle: Was wir von einem ”Loser” lernen können
„I killed some, I tried to kill some. Ach. Then I die. Like the loser I am. Fuck.” (Stephan Balliet, 9.10.2019, bei seinem Amoklauf in Halle)
9.10. 2019: Wieder ein antisemitischer Anschlag, diesmal in Deutschland. Der 27-jährige Stephan Balliet aus Sachsen-Anhalt bekennt sich als Judenfeind und beginnt eine lange geplante Hinrichtung von Menschen, die ihm zufällig in den Weg kommen. Öffentlich, per livestream ins Netz übertragen.
Ich habe mich für mein letztes Buch zwei Jahre lang mit rechtspopulistischen und rechtsextremen Gesinnungen befasst, mir bleibt nichts übrig als diese Tat mit Fakten zu kommentieren, auch wenn mir Trauer und Abscheu eine objektive Analyse nicht leicht machen.
Erstens: Antisemitismus kommt im Paket
Die Auswertung der historischen Daten zum Antisemitismus zeigt, dass er mit realen Lebensverhältnissen nichts zu tun hat. Er ist deshalb auch dort anzutreffen, wo es gar keine oder kaum Juden gibt – wie etwa in Sachsen-Anhalt, wo der Täter von Halle aufwuchs.
Er entspringt vielmehr einem generell feindseligen, angstgeprägten Weltbild: Antisemiten fühlen sich von Feinden umstellt.
Antisemitismus tritt deshalb auch nie alleine auf, sondern im Paket. Und in diesem Paket liegen stets auch andere ausgrenzende Gesinnungen: Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Fremden- bzw. Rassenhass sowie Hass gegen liberale gesellschaftliche Gesinnungen.
- … siehe das Attentat in Halle: Der Täter leugnet den Holocaust und beschimpft dann mit obszönen Worten die Frau, die er gerade feige ermordet hat. Später äußert er seinen Hass auf „Kanaken“ und „Linke“.
- … siehe die Gesinnung am rechten Rand der AfD: neben Antisemitismus und Fremdenhass stehen immer auch Antifeminismus, Homophobie und Anti-Liberalismus (Hass auf die „links-grün versifften Gutmenschen“) auf dem Programm.
- … Antisemitismus ist aber auch prägendes Merkmal des Dschihadismus, anderer autoritärer religiöser Strömungen, aber auch autoritärer Gruppierungen wie Ultra-Fanclubs im Fussballsport. Und auch da liegen die genannten Zutaten in aller Regel in einem Paket zusammen – also Homophobie, Fremdenhass und Verachtung von Frauen.
Kurz, Antisemitismus hat nichts mit Juden, Judentum oder dem jüdischen Glauben zu tun – er steht für geschlossenes autoritäres Denken.
Zweitens: Antisemitismus hat nichts mit Bildung oder mangelnder Intelligenz zu tun
Wenn es um Antisemitismus geht, ist immer wieder die Meinung zu hören, hier müssten doch Bildungsdefizite vorliegen, die sich durch einen besseren Geschichtsunterricht – oder spätestens durch einen Besuch in einem Konzentrationslager ausgleichen ließen. Oder dass nur Dumme dafür empfänglich wären. Dies ist leider eine Annahme, die Autoritarismusforscher skeptisch sehen. »Für sich allein«, so sagt etwa die bekannte Autoritarismusforscherin Susanne Rippl, »reicht Bildung … zur Prävention gegenüber Vorurteilen nicht aus.« Das bestätigt sich auch in internationalen Vergleichsstudien. So lässt sich in Deutschland unter den Gebildeten zwar insgesamt weniger Antisemitismus messen. Dass das aber nicht allein an der Bildung liegt, zeigt der Blick in andere Länder, wo sich dieser Bildungsbonus nicht nachweisen lässt: Wo man sich in der Gesellschaft einig ist, dass Juden oder Homosexuelle schlechte Menschen sind, spricht der hoch gebildete Arzt über sie genauso schlecht wie der Analphabet. Kurz, so wenig mangelnde Bildung jemanden zum Antisemiten macht, so wenig schützt Bildung vor Antisemitismus.
Drittens: Antisemitismus ist tief in der Persönlichkeit verwurzelt
Schon weiter führt der Blick auf das Innenleben des geschilderten „Pakets“. Seine Inhalte stehen für Abwehr von „anderen“ sowie für die Suche nach einer unverbrüchlichen äußeren Ordnung, die schön sortiert sein muss – nach Geschlecht, Ethnie, Nation und Religion. Und betrachtet man die Träger dieser Haltungen, so begegnet einem der immer gleiche „Typ Mensch“: Er hat eine an Paranoia grenzende Bedrohungs-Angst (kein Wunder hat sich der rechtsautoritäre Abwehrkampf zuletzt sogar auf die Wölfe ausgeweitet), er ist geprägt von Hass und Feindseligkeit, und hat eine eingeschränkte Fähigkeit zu Empathie gegenüber anderen. Nicht der Mangel an Bildung oder geistigem Hubraum ist das Problem, sondern der Mangel an Herz und an innerer Heimat.
Und dieser Mangel kommt nicht von ungefähr. Dahinter stehen – das kann die Psychologie inzwischen auch gut nachzeichnen – die auf dem Lebensweg gemachten Erfahrungen: die Erfahrung mangelnder seelischer Sicherheit, mangelnder Anerkennung und mangelnder Zugehörigkeit. Kurz, was die Abwertung anderer antreibt, ist das eigene Unwert-Empfinden: Du darfst nicht sein, weil ich nicht bin.
Diese Grundlage seiner Gesinnung beschreibt der Täter von Halle selber am besten, ich habe seine Worte, die er selbst bei seinem Amoklauf aufgezeichnet hat, deshalb an den Beginn dieses Beitrags gestellt: „Ich habe ein paar getötet, ich habe versucht, ein paar zu töten. Ach. Dann sterbe ich. Als der Verlierer, der ich bin. Fuck.“
Viertens: Nicht jeder „Loser“ wird Antisemit, und nicht jeder Antisemit ist gewaltbereit
Das heißt NICHT, und das ist mir wichtig, dass aus jeder gequälten Seele, aus jedem missachteten Kind ein Antisemit wird. Dazu sind die Wege von den äußeren Erfahrungen hin zu inneren Gewissheiten viel zu vielschichtig und ungerade. Auch hält das Leben immer wieder neue Anstriche für die Innenräume der Menschen bereit. Erklären lässt sich aber eine Verletzlichkeit: Menschen mit vielfältigen Enttäuschungserfahrungen sind gegenüber äußeren Versprechungen von Ersatz anfälliger.
Und um nicht nur Gesinnungs- sondern auch Gewalttäter zu werden? Da muss sicherlich noch Weiteres dazu kommen. Nämlich tief greifende, traumatische Entwicklungserfahrungen. Und während auch hier die meisten Menschen mit diesen Erfahrungen trotzdem nicht zum Mörder werden, ist die wissenschaftliche Datenlage doch eindeutig:
Praktisch ALLE antisemitischen (übrigens auch alle dschihadistischen und auch alle sonstigen aus ideologischen Gründen mordende Gewalttäter) sind schwer traumatisierte oder sonstwie psychisch schwer belastete Persönlichkeiten.
Nehmen wir einmal nur die letzten rechtsextremen Terrorakte:
- … Anders Breivik, der Attentäter von Utoya, 2011: eine schier unfassbare Biographie einer zerstörten Kindheit.
- … Davis Sonboly, der Attentäter von München 2016: ein schwer geschädigtes, psychisch krankes, gemobbtes Kind
- … Brenton Tarrant, der Attentäter von Christchurch: ebenso
- … Stephan Ernst, der Mörder von Walter Lübcke: Opfer eine schwer destruktiven Kindheit. Vater Alkoholiker, der Sohn schläft aus Angst vor ihm mit einem Messer im Bett.
- … und jetzt Stephan B. in Halle. Über seine Kindheit ist noch nichts bekannt. Auch sie wird schwer wiegende Traumatisierungen zeigen.
Ich lege meine Hand dafür ins Feuer.
Die Wissenschaft hat es ja schon längst getan. So haben die Sozialwissenschaftler Jillian Peterson and James Densley zuletzt die Ergebnisse ihrer Studie The Violence Project Mass Shooter veröffentlicht, in der sie die mehr als 150 öffentliche Massenmorde in den USA zwischen 1966 und 2018 untersucht haben. Das Ergebnis:
„Die gewaltige Mehrheit der Massenschützen in unserer Studie hat in der frühen Kindheit Traumatisierung und Gewalt erfahren. Dazu gehören das Erlebnis elterlichen Selbstmords, körperlicher oder sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, häusliche Gewalt und/oder schweres Bullying.“
Anders ausgedrückt: Es handelt sich um die tragischsten aller Verlierer – um Kinder, die ihre Kindheit verloren haben.
Wer die Literatur kennt, nach der gerade rechtsautoritär denkende Menschen keine negativen Erinnerungen an ihre Kindheit zulassen10, wird diese Befunde gut und gerne so zusammenfassen: Zeig mir das eine Kind, das mit einer guten Kindheit im Gepäck zum Terroristen wurde.
Fünftens und letztens: Schenken wir uns doch reinen Wein ein
NATÜRLICH sind Hetzer wie Björn Höcke geistige Wegbereiter für antisemitische Übergriffe. NATÜRLICH spielen Radikalisierungserfahrungen in geschlossenen rechtsextremen Zirkeln eine Rolle. NATÜRLICH kommt Chatgruppen und Computerspielen eine Rolle zu.
Aber eben keine ursächliche Rolle. All die äußeren Einflüsse brauchen einen inneren Grund, an dem sie sich festhaken können.
Und dieser innere Boden entsteht dort, wo Kinder zu „Verlierern“ gemacht werden. Ob in Familien, in Kitas oder in Schulen. Wir sollten mehr darüber nachdenken, wie wir sie besser schützen können.
Oder, um es anders herum zu wenden: Der Kampf gegen das menschenfeindliche Paket von Rechts erfordert menschliche Fähigkeiten, die nur unter guten Bedingungen wachsen. Schutz vor Hass bildet sich dort, wo Kinder lernen, anderen Menschen angstfrei, empathisch und zugewandt zu begegnen. Schutz vor Hörigkeit bildet sich dort, wo Kinder mündig und selbstbewusst werden können. Schutz gegen Vorurteile und Ausgrenzung bietet nur die gelungene menschliche Entwicklung.
Was wir dafür tun können?
Das wäre doch die Frage, die wir uns angesichts von Halle stellen müssen.
Quellen zum Beitrag: Halle: Was wir von einem „Loser” lernen können, Herbert Renz-Polster
Links zum Thema
Erziehung prägt Gesinnung, Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, Herbert Renz-Polster, Kösel-Verlag
Kindheiten von Tätern wie Stephan Balliet und anderen Personen aus dem öffentlichen Leben, Sven Fuchs
Warum manche tyrannische Anführer anziehend finden, Janosch Deeg, Spektrum.de, 13.7.2020
Laut einer Studie besteht eine Verbindung zwischen dem familiären Umfeld einer Person in ihrer Kindheit und den Führungspersönlichkeiten, Journal of Leadership and Organizational Studies, Who Might Support a Tyrant? An Exploration of Links Between Adolescent Family Conflict and Endorsement of Tyrannical Implicit Leadership Theories, Dayna O. H. Walker et. al., 8.6.2020, https://doi.org/10.1177/1548051820931243
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