Erziehung prägt Gesinnung

Herbert Renz-Polster
Erziehung prägt Gesinnung
Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können
Kösel-Verlag, München
ISBN: 978-3-466-31116-3
320 Seiten
20,60 Euro

Der Kinderarzt, Autor und Wissenschaftler Dr. Herbert Renz-Polster beweist in seinem neuen Buch, dass eine kalte Kindheit in Strenge und Kontrolle im späteren Leben anfällig macht für rechte Parolen und diktatorisches Handeln. Fehlende Geborgenheit und gestörte Bindung in der frühen Kindheit prägen Menschen damit lebenslang. „Was musste schief gehen, damit nun ausgerechnet das schlimmste Mobber-Kind auf dem Spielplatz über Krieg und Frieden auf dieser Welt entscheiden darf?“ Diese Frage stellte sich der Buchautor Renz-Polster. Gemeint ist zunächst einmal der aktuelle Präsident der USA, Donald Trump. Auf ihn kommt er immer wieder zurück – wohl auch deshalb, weil der Autor mit seiner Familie sieben Jahre in den Staaten gelebt und gearbeitet hat. Aufgehängt an dieser Frage entwickelte er daraus ein kluges, mutiges, faktenkundiges Buch, das die Frage erweitert auf jegliche Form von Fieslingen, die irgendwo irgendwie an die Macht gekommen sind. Immer handle es sich ja um Menschen, mit denen wir als Kinder niemals im Sandkasten hätten spielen wollen, schreibt er. Der Titel des Buchs „Erziehung prägt Gesinnung“ verrät denn auch, wohin die Reise geht: in die Vergangenheit, genauer: in die Kindheit.

Der Killer ein König?

„Du bist ein Killer, du bist ein König“: wer unter einem Vater, der solche Sprüche klopft und insgesamt einen streng autoritären Erziehungsstil verfolgt, aufgewachsen sei – das Zitat stammt von Fred C. Trump, dem verstorbenen Vater des amerikanischen Präsidenten -, dessen Neigung zu eigenem autoritären Erziehungs- und Handlungsstil im späteren Leben sei damit schon praktisch vorgezeichnet, so die These des vierfachen Familienvaters.

Mehr noch: wer selbst eine von Befehl und Gehorchen eingeklemmte Kindheit erlebt habe, der fühle sich später auch verstärkt selbst wieder zu Machthabern mit autoritärem Führungsstil hingezogen. Weshalb es dann auch so viele Menschen gebe, die solche Leute wählen. Eindrucksvoll belegt Renz-Polster diese zunächst kühn erscheinende These anhand eines Vergleichs von „Bestrafungslandkarten“ mit „politischen Landkarten“:

Bestrafungslandkarten

„Was hat das nun mit Landkarten zu tun? Ganz einfach: Wenn man für die USA eine „Bestrafungslandkarte“ erstellt – so deckt sich diese ziemlich genau mit den politischen Wahlergebnissen, die Donald Trump an die Macht gebracht haben!

Nehmen wir die Frage: „Meinen Sie, es ist okay, ein Kind zu schlagen?“ und erstellen eine Reihenfolge der Bundesstaaten von Alabama (höchste Zustimmung mit 87 Prozent) bis Vermont (niedrigste Zustimmung mit 55 Prozent) – die ersten 22 Staaten auf dieser Liste gingen alle an Donald Trump. Ähnliches gilt für die Frage: „Glauben Sie, es ist okay, wenn Lehrer einen Schüler schlagen?“ Auch aus diesen Antworten lässt sich – treffsicher – eine politische Landkarte erstellen: Alle der Top-25-Bundesstaaten auf der Liste (…) gingen an die Republikaner!“

Kontrolle statt Vertrauen

Der Autor zieht daraus das Fazit „Strenge Kindheiten (…) gehen mit ‚strengen‘ politischen Überzeugungen einher“ und überträgt es auch auf andere Länder, etwa Frankreich oder China, aber natürlich auch auf die arabischen Staaten und schließlich auf den Rechtspopulismus, der hierzulande besonders in Ostdeutschland verfängt. Warum gerade im Osten? Die entscheidende Frage sei, so Renz-Polster, ob ein Kind in eine „Kultur des Vertrauens“ oder in eine „Kultur der Kontrolle“ hineingeboren werde. Viel entscheidender als die Frage nach der Religion sei deshalb die nach der Kindheit, ist er überzeugt.

„Keiner der rechtspopulistischen Bannerträger hat eine normale Kindheit mit verlässlicher, liebevoller Unterstützung erlebt. Keiner ist in einer „Beziehungsheimat“ aufgewachsen, in der er sich als sicher, geborgen und unverletzlich erlebt hat. Keiner durfte in einem menschlichen und sozialen Sinn Kind sein. Liest man die Biografien -etwa die über Marine Le Pen, aber auch die der neuen Populistenriege von Heinz-Christian Strache bis Tomio Okamura  – so greift einem das Mitleid mitten ins Herz. Von Hitlers, Maos und Stalins Kindheit gar nicht zu reden. Sie waren alle emotional vernachlässigte, schwer traumatisierte Kinder und offensichtlich ihr ganzes Leben damit beschäftigt, nach den absurdesten Mitteln zu suchen, nur um sich selbst zu ertragen.

Das Wenige, was von Donald Trumps Kindheit bekannt ist, weist auf Beziehungsabbrüche und Verletzungen durch einen dominant-autoritären Vater, der ihn schließlich mit dreizehn Jahren von heute auf morgen aus dem Haus jagte, in eine brutale Kadettenanstalt, wo schwere Misshandlungen und Beschämungen an der Tagesordnung waren.“

Folgen der DDR-Krippen

In Kapitel 11 kommt Renz-Polster zu der entscheidenden Frage, warum gerade im Osten die Parolen der neuen Rechten besonders stark verfangen. Mit dem üblichen Beklagen des „Abgehängtseins“ aus finanzieller Sicht habe es jedenfalls nichts zu tun. Stattdessen gelte:

„Der größte und durchgängigste Unterschied zwischen den Kindheiten in Ost und West aber lag eindeutig in der frühen, umfassenden und in allen Schichten der klassenlosen Gesellschaft praktizierten institutionellen Säuglings- und Kleinkindbetreuung (…) Während in Westdeutschland nur zwei Prozent der Kleinkinder vor der Wende außerhäuslich betreut wurden (nur in Westberlin waren es mehr), besuchten in der DDR Ende der 1980er Jahre mehr als achtzig Prozent der Ein- bis Dreijährigen eine Krippe.“

Diese frühe „Einordnung ins Kinderkollektiv“ der DDR-Krippen mit ihren langen und durchgehenden Öffnungszeiten macht für den Autor den größten Unterschied aus. In diesen Einrichtungen herrschten hierarchische Strukturen „nach dem Modell: Führer – Geführter, Rede ohne Gegenrede“. Eine solche Ausbildung hätte „für sehr viele Kinder eine schwere Belastung für die Ausbildung emotionaler Sicherheit, einem positiven Selbstbild und innerer Stärke“ bedeutet, deren Folgen sich bis in die heutige Zeit besichtigen „ließen und von vielen Bürgern verwundert beobachtet würden.

Rationierung von Beziehungen

Mit Blick auf die aktuelle Betreuungssituation in Krippen, Kitas und Co. nicht nur im Osten, sondern mittlerweile auch im Westen und auf eine Gesellschaft, in der Eltern, gerade Mütter, immer mehr in die V-Zange („V“ steht für „Vereinbarkeit“) genommen werden, runzelt der Autor deshalb buchstäblich die Stirn und prangert einen regelrechten „Fürsorgenotstand“ an. Am weitesten ausgeprägt sei der wiederum im Osten, wo mittlerweile mehr als jedes zweite Kind unter drei Jahren eine Krippe besucht, während es im Westen „nur“ gut jedes vierte Kind trifft – und in der Regel unter deutlich günstigeren Qualitätsbedingungen..

Renz-Polster ist derweil überzeugt: Dass Menschen „Opfer der AfD-Propaganda“ werden, zeige, „wie Menschen ihre Stimme gebrauchen, wenn sie sie in ihrer Kindheit nicht haben einüben können“.

„Auch das Kind gerät nun unter das Diktat der Effizienz und muss „beschleunigt“ werden. Und diese Beschleunigung hat den immer gleichen Kern: die menschliche Distanzierung. Die Auflösung von Bindung. Die Rationierung von Beziehungen.“

Zur pädagogischen „Planerfüllung“ gehört die Umfunktionierung der Kitas zu Schulen, Stichwort „Schlaumäuse“, „Haus der kleinen Forscher“ und so weiter.

„Selbst unsere Säuglinge, die noch geschoßhockt, getragen und in einem tiefen, intensiven Sinn „bemuttert“ werden wollen (ob von Müttern oder anderen Menschen), karren wir jetzt in Einrichtungen, in denen sie „Bildung“ erhalten sollen. (…) Hauptsache, man bekomme „einen Platz“. Wenn wir aber ehrlich sind, dann ersetzen wir damit doch nur die (zu „teuer gewordene?) Fürsorge durch ein (deutlich billigeres) Versprechen: „frühe Bildung“! Ein Versprechen, das uns just in dem Moment eingefallen ist, wo Mütter zur heißen Ware auf dem Arbeitsmarkt geworden sind. Was für ein schöner Zufall. (…) Und ist sich auf einmal sicher, dass Menschenkinder spätestens ab dem ersten Geburtstag auf dem Schoß von Mama, Papa oder Großmama verdummen.“

Kinder haben nicht viel zu lachen

Dass Herbert Renz-Polster sich dieses pointierte, hochaktuelle, streitsame, aber zugleich auch unterhaltsame Buch abgerungen hat, obwohl ihn seit zwei Jahren ein chronisches Müdigkeitssyndrom in Folge einer schweren Grippe plagt, wie er am Schluss offen bekennt, ist umso bewundernswerter. Es eröffnet den Blick weit über den Tellerrand hinaus und zeigt das Bild einer globalen Welt, deren Kinder oft trotz größten Wohlstands nicht viel zu lachen haben.

von Birgitta vom Lehn

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Über den Buchautor: Dr. Herbert Renz Polster

Jahrgang 1960, verheiratet und Vater von vier Kindern. Medizinstudium in Gießen, München und Tübingen,  Facharztausbildung als Kinderarzt und Forschungstätigkeit in den USA, Forschungspreis für Arbeiten im Bereich der Epidemiologie allergischer Erkrankungen. Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Institut für Public Health (MIPH ) der Universität Heidelberg mit Forschungsschwerpunkt Gesundheitsförderung im Kindesalter. Autor mehrerer Sachbücher und Elternratgeber zum Thema kindliche Entwicklung und Gesundheit – www.kinder-verstehen.de

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