Wenn das Baby oder das Kleinkind sich an der Mutter festklammert, empfindet es in diesem Moment massive Trennungs- und Verlassenheitsängste. Das spürt die Mutter instinktiv, sie nimmt das Kind auf und tröstet es. Ist die Mutter für das Kind in den ersten zwei Jahren in solchen Fällen meistens erreichbar, verlieren sich diese Ängste in dem Maße, wie sich die Bindung an die Mutter festigt.
Das Klammerverhalten bezieht sich in erster Linie auf die Mutter. Der Vater ist davon nur betroffen, wenn das Kind ihn als primäre Bindungsperson wahrnimmt. Das Kind empfindet sich nämlich in den ersten 5 bis 6 Monaten als Einheit mit der Mutter durch die innige Verbindung während der Schwangerschaft und der Stillzeit. Es unterscheidet auch nicht zwischen sich, den anderen und seiner Umgebung.
Diese Unterscheidungen lernt es in den nächsten 12 bis 18 Monaten durch seinen unbändigen Willen, seine Umgebung und die Mitmenschen zu erkunden. Immer dann jedoch, wenn es ihm nicht besonders gut geht oder es sich über etwas Unerwartetes erschreckt, versucht es, die Einheit mit der Mutter wieder herzustellen. Wenn sie dann nicht da ist, bekommt das Kind heftige Trennungs- und Verlassenheitsängste.
Kleinkindern fehlt das „Vorstellungsgedächtnis“
Der Grund dafür ist existenziell für das Kind: Sein kleines Gehirn hat zu diesem Zeitpunkt noch kein Vorstellungsgedächtnis ausgebildet. Es kann sich also noch kein inneres Bild von der Mutter in einem anderen Raum machen, wenn diese das Zimmer verlassen hat. Sie ist dann für das Baby weg aus seiner Welt. Das Kind gerät in Panik, weil es sich völlig alleingelassen fühlt. Andere Personen können es dann kaum trösten, oft gelingt dies dem Vater auch nicht.
Erst mit der Ausbildung des Vorstellungsgedächtnisse im Alter von ungefähr 2 Jahren kann das Kind die Abwesenheit der Mutter ertragen, wenn es in dieser Zeit gut versorgt wird von den weiteren Bindungspersonen (Vater, Großeltern). Es erkennt sich und die anderen dann als eigenständige Personen und die Dinge als losgelöst von sich. Ist diese Erkenntnis gereift, sagt das Kind „ich“ zu sich selbst und nennt sich nicht mehr beim Vornamen.
Ich-Erkennen Voraussetzung für ein Trennungserlebnis ohne Folgen
Wenn Kinder vor dem Ich-Erkennen in die Krippe gegeben werden und Trennungsängste ein Kind deutlich belasten, resigniert es früher oder später und passt sich an, weil es sonst nicht existieren könnte. Das ist ein unbewusster psychischer Überlebensmechanismus, der sich jedoch als erhöhter innerer Stresspegel bei Untersuchungen feststellen lässt.
Von Trennungs- und Verlassenheitsängsten sind nicht alle Kinder in gleich starkem Maße betroffen. Kinder, die von Geburt an sensibler und empfindlicher sind, leiden am stärksten darunter und sind durch Fremdbetreuung besonders gefährdet. Kinder, die ein außenorientiertes, auf Neues fixiertes Temperament haben, zeigen diese Ängste nur in kritischen Situationen.
Diese Trennungs- und Verlassenheitsangst lässt sich nicht abtrainieren! Solche Versuche verstärken die Ängste. Je besser die Mutter auf diese Ängste eingehen kann, desto schneller sind sie überwunden. Wichtig ist die innere Einstellung der Mutter zum Klammerverhalten. Sorgt sie sich um die Selbständigkeitsentwicklung des Kindes und empfindet eine innere Abwehr gegen das Klammern, verfestigt sich das Verhalten. Das Kind merkt die negativen Gefühle der Mutter, ist dadurch irritiert und klammert verstärkt.
Quelle: Elternkompetenzen stärken, Dr. Erika Butzmann, Reinhardt-Verlag, München, S. 27f., 45f.