Kindheitsspuren oder Wespen - Foto iStock © Radist„Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst.“ Hermann Hesse

Das Vergessen der Kindheit und daran zu leiden, klingt zunächst ein wenig absurd. Wenn wir uns mit Kindern aus belasteten Familien beschäftigen, so müssen wir Hesses Einsicht unterschreiben…

Kindheitsspuren überwinden

Vor einiger Zeit beobachte ich, an einer roten Ampel wartend, einen Jungen, der gar sonderbare Bewegungen ausführt: er springt wild unkontrolliert von links nach rechts, schreit aus Leibeskräften… ein Zaun verhindert die vollständige Sicht, meine Fantasie auf Reisen, findet flux Diagnosen: vielleicht eine Psychose, ein Anfall, schlimme Ausprägung von ADHS? …diese und ähnliche Gedanken strömen durch meinen Kopf. Vielleicht werde ich, wenn ich um die Ecke gefahren bin, aussteigen, um zu helfen, rattert es in mir… Die Ampel springt auf grün und ich sehe plötzlich, dass dieser Junge von Wespen verfolgt wird: als diese von ihm ablassen, geht er ruhig und „normal“ seines Weges daher. Ich bin beruhigt und verblüfft zugleich: hätte ich diese Wespen nicht gesehen, so hätte ich den Jungen also für krank gehalten.

So ergeht es auch vielen Kindern mit schweren familiären Kindheitsbelastungen: Niemand sieht ihre „Wespen“; die Kinder erhalten Krankheitsstempel, ohne dass wirklich klar wäre, worin die eigentliche Ursache für ihr Verhalten liegt, also welche Wespe sie verfolgt, um im Bild zu bleiben. Auch als Erwachsene zeigen Betroffene Symptome, die auf diese Kindheitsspuren zurückzuführen sind. Oftmals können sie selbst nicht einmal diese Symptome mit ihrer Kindheitssituation verbinden (die Wespen waren und sind zu bedrohlich), in der Folge oftmals auch nicht ihre Ärzte und Therapeuten.

Die unerkannten Wespen ihrer Kindheitstage verfolgen Betroffene oftmals über Jahrzehnte bis ins hohe Erwachsenenalter. Hält dieser Zustand über Jahre ohne angemessene Hilfestellungen an, kann es zu Erkrankungen und/oder Belastungen der Erlebens- und Beziehungsqualität kommen. Übergroße Empfindsamkeit (manchmal mit dem Wort Hochsensibilität belegt), starke innere Unruhe und Spannungszustände, unerklärlich erscheinende Psychosomatik, unerträgliche Leere- und Verlorenheitsgefühle u.v.m. sind dann die alltäglichen Begleiter. Erst wenn die Wespen der Kindheitstage entdeckt, identifiziert oder beruhigt werden, besteht für Betroffene Hoffnung auf Ruhe.

von Waltraut Barnowski-Geiser

Quelle
Erstveröffentlichung im Blog: JETZT.BESSER.LEBEN

Links zum Thema

Vater, Mutter, Sucht, Klett-Cotta, 2015

Traumatisierte Kinder sensibel begleiten, Dr. phil. Udo Baer, Diplom-Pädagoge und Autor

„Kindheitsspuren“, Gedichte und Aphorismen, Stiftung Zu-Wendung für Kinder