Wie hoch ist die Krankheitslast seelischer Störungen - Foto Franco Cozzop© plainpictureWeltweit begegnen Kinder Krisen. Die körperlichen Folgen von Krieg, Flucht oder Misshandlung stehen oft im Fokus. Doch was ist mit den seelischen Schäden und ihren Folgen? Deren weitreichende Bedeutung wird bis heute selbst von Fachleuten verkannt.

Die traurige Ausgangslage ist Eltern und Fachpersonen hinlänglich klar: Viele Kinder, die heute geboren werden, sind in hohem Maß von Unsicherheit und Bedrohung betroffen. Weniger verbreitet ist das Wissen um die Folgen dieser frühen Traumatisierungen. „Negative Lebenserfahrungen haben gravierende Auswirkungen, besonders wenn sie in den ersten drei Jahren oder während der Schwangerschaft auftreten“, so Prof. Dr. Kai von Klitzing von der Uni Leipzig. Über die Kindheit hinaus können sie das Risiko für Krankheiten psychischer und körperlicher Art erhöhen.

In seiner Funktion als Präsident der World Association of Infant Mental Health (WAIMH) engagiert sich Professor von Klitzing für die offizielle Anerkennung der Krankheitslast seelischer Störungen in der frühen Kindheit. Warum das nötig ist, erläuterte der Kinder- und Jugendpsychiater im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH) an der Uni Hamburg.

Verletzliche Phase

Kinderärzte bezeichnen die frühe Kindheit als Phase besonderer Verletzlichkeit. Erleben Säuglinge und Kleinkinder negative Erfahrungen, besitzen diese eine enorm langfristige Wirkung. Forschungen auf dem Gebiet der Epigenetik haben darüber hinaus gezeigt, dass bereits während der Schwangerschaft das Stresserleben der Eltern negativ aufs ungeborene Kind wirkt.

Dennoch hält sich bis heute in vielen Kreisen ein gefährlicher Irrglaube: Babys wären noch zu klein, um wirklich zu verstehen oder um sich dauerhaft zu erinnern. Dadurch werden wertvolle Chancen verpasst. Denn Babys und Kleinkinder haben eine intensive gefühlsmäßige Erinnerung, die später ihr Verhalten steuert. Professor von Klitzing: „Jedes Kleinkind besitzt einzigartige nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten für unaussprechliches Leid.“ Nötig seien Experten, um diese Botschaften sicher zu lesen und Traumatisierungen zu behandeln.

Anmerkung der Redaktion: Der Bindungsforscher Klaus Grossmann hat in seinem Artikel „Stumme Zeichen des Leids bei Kleinkindern in Familie und Tagesbetreuung“ wesentliche Aspekte herausgearbeitet. Er beschreibt darin folgende Zeichen des Leids: anhaltendes Schreien, anhaltend ängstliches Anklammern, Augenkontakt vermeiden, lange in sich versunken sein, andere vermeiden, Ess-Störungen, fragmentierter Schlaf, zielloses Umherwandern, ständiges Sichern, anhaltend ausdruckslose Mimik, Desinteresse am Erkunden von Angeboten, andere still von ihren Plätzen oder Spielsachen verdrängen, das Schlagen anderer.

Frühe Interventionen

Experten gehen davon aus, dass seelische Störungen in der frühen Kindheit genauso häufig auftreten wie im Kindes- und Jugendalter. Meist werden diese erst dann behandelt, wenn sie in späteren Jahren nach außen sichtbar werden – trotz aller Erkenntnisse, dass frühe Interventionen besonders wirksam sind. Nach wie vor sei es zum Beispiel schwer, die Behandlung seelisch kranker Kinder zusammen mit der seelisch kranken Mutter von Krankenkassen finanziert zu bekommen, berichtete von Klitzing.

Last der Gesellschaft

Das Problem: Unbehandelte seelische Störungen erhöhen das lebenslange Krankheitsrisiko. Als sicher gilt heute, dass negative Erfahrungen in der frühen Phase der Kindheit die Gefahr von psychischen Krankheiten, psychosomatischen Beschwerden oder Suchtmittelmissbrauch in späteren Lebensphasen erhöhen. Gleichzeitig hemmen sie die Ausbildung von Fähigkeiten wie Kooperation und Empathie, die in der frühen Kindheit durch gute Beziehungen angelegt werden und wachsen. Die Folgen betreffen uns alle: durch hohe Kosten für die Allgemeinheit sowie mehr Gewalt, Zerfall und Krieg für künftige Gesellschaften.

Öffentlichkeit schaffen

Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung ist umso erstaunlicher, dass das psychische Wohl von Säuglingen und Kleinkindern nicht längst mitten im Blickfeld von Öffentlichkeit, Politik und Medizin steht. Eine Kampagne ist nicht in Sicht. Laut Professor von Klitzing ist es im ersten Schritt vielmehr erforderlich, die Krankheitslast seelischer Störungen in der frühen Kindheit zu definieren.

Anmerkung der Redaktion: Seit den 1980er Jahren werden Berechnungen zur Krankheitslast auf Bevölkerungsebene durchgeführt. Das Ziel ist, die gesundheitliche Lage im Zeitverlauf zu betrachten und daraus mögliche Interventionsmaßnahmen sowie Handlungsempfehlungen abzuleiten. Die Kennziffer der Last einer Krankheit ist hoch, wenn diese zu weniger Lebensjahren bei guter Lebensqualität führt.

Aus dem Beispiel der vergleichsweise hohen Krankheitslast von Depression und dem hohen Interesse der Medien an dieser Krankheit folgerte von Klitzing in seinem Vortrag auf der GAIMH-Tagung: „Die Krankheitslast besitzt einen direkten Einfluss auf das Level der Aufmerksamkeit.“ Diese Chance würde der WAIMH-Präsident gerne nutzen. Doch leider klafft in Bezug auf die seelischen Störungen in der frühen Kindheit noch ein Forschungsdefizit. „Der heikle Punkt ist, dass wir in der frühen Kindheit die Störungen noch nicht eindeutig definiert haben“, so der Professor. Deshalb könne man auch die Langzeitfolgen nicht ausreichend erfassen. Die Definition von Störungen in der frühen Kindheit sei umstritten, aber nötig für den Nachweis der hohen Krankheitslast. Professor von Klitzing jedenfalls ist überzeugt: „Erst wenn wir aussagekräftige Zahlen erheben können, wird das Thema auf das Programm von Gesundheitspolitikern kommen.“

Zusammenfassung
Aufgrund der weitreichenden Folgen sei präventives Handeln bei seelischen Störungen in der frühen Kindheit wichtig, sagte Prof. Dr. Kai von Klitzing auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH) in Hamburg. Um das Thema stärker ins Blickfeld von Öffentlichkeit, Politik und Medizin zu rücken, beschrieb der WAIMH-Präsident und Professor am Universitätsklinikum Leipzig drei Maßnahmen:
• Forschung – Störungen definieren  Die Krankheitslast ist in der frühen Kindheit besonders hoch, doch es gibt darüber keine statistischen Zahlen. Der Grund: Die Langzeitfolgen sind schwer zu erfassen, weil klare Definitionen der seelischen Störungen in der frühen Kindheit fehlen. Hier muss nachgebessert werden.
• Öffentlichkeit – Aufmerksamkeit schaffen  Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die WAIMH formuliert dazu zentrale Thesen.
• Medizin – Psyche behandeln  Frühe Interventionen sind besonders wirksam. Forschung und Öffentlichkeitsarbeit sollen die Bedeutung der frühen Behandlung psychischer Störungen in den Fokus rücken.

von Angelika Urbach

Foto Prof. Dr. med. Kai von Klitzing

Zur Person: Prof. Dr. Kai von Klitzing

Kinder- und Jugendpsychiater, Professor am Universitätsklinikum Leipzig und Präsident der World Association for Infant Health (WAIMH).

GAIMH Als deutschsprachige Tochtergesellschaft der World Association of Infant Mental Health (WAIMH) setzt sich die GAIMH in Deutschland, Österreich und der Schweiz für die Förderung seelischer Gesundheit in der frühen Kindheit ein. Dazu werden unter anderem jährliche Tagungen an wechselnden Orten veranstaltet. Der nächste Termin ist vom 6. bis 8. Februar 2020 in Wien.

Links zum Thema

„Presidential Address: The Worldwide Burden of Infant Mental and Emotional Disorders“,

„Wenn kleine Kinder klammern“, Dr. Erika Butzmann

„Stumme Zeichen des Leids bei Kleinkindern in Familie und Tagesbetreuung“, Klaus Grossmann – erschienen in „Familiäre Belastungen in der frühen Kindheit“, Klett-Cotta-Verlag Stuttgart

„Säuglinge sind Kommunikationstalente – ganz ohne Worte“, Baby-Signale

„Mit Blick aufs Kind: Zeichen individueller Psychopathologie in den ersten Lebensjahren“, PD Dr. med. habil. Fernanda Pedrina, 26. GAIMH-Jahrestagung 2021
Eine kurze Zusammenfassung von Waltraut Barnowski-Geiser: In ihrem interessanten Vortrag zur Psychopathologie der ersten Lebensjahre folgte die Psychoanalytikerin Pedrina dem Begriff der Entwicklungskrise, der Fragestellung, ab wann es sich bei Kleinkindern um eine psychische Störung handele und der Verknüpfung von individueller Diagnostik und Beziehungskontext. Sie machte zunächst deutlich, dass seelische Leiden bei kleinen Kindern existieren und dass sich Therapeuten zwischen Pathologisierung, die stigmatisiert einerseits, und einer Nicht-Pathologisierung, die drohe, das Leiden zu verharmlosen, bewegen. Zur Diagnostik empfahl sie dringend den Einsatz des neuen DL:05, in dem die Störungskriterien neu gefasst seien. Das Kriterium des Vorliegens einer Störung sein dann erfüllt, wenn

  • das Kind belastet sei
  • die Familie, Beziehungen und Aktivitäten eingeschränkt seien
  • Entwicklungsfortschritte behindert seien

Während im ersten Lebensjahr vor allem Schrei-Ess-Schlafstörungen zu diagnostizieren seien, ließen sich zwischen dem 12-18. Lebensmonat Anzeichen von PTBS nachweisen, zwischen dem 24. und 36. Monat Angststörungen, Bindungsstörungen und ADHS. Sie verwies auf positive Effekte bei früh einsetzenden Hilfen intensiver therapeutischer Arbeit (20-40 Std. in der Woche) bei Störungen aus dem Autismus-Spektrum.