Gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Unsicherheit - das stille Kind - Foto iStock © RightClickStudiosManchmal sind im komplexen Gefüge von Familie gerade die Kinder, die auf den ersten Blick ruhig und unscheinbar wirken, diejenigen, die mit tiefgreifenden emotionalen Herausforderungen konfrontiert sind. Im heutigen Fallbeispiel werfen wir einen Blick auf die Vergangenheit der mittlerweile erwachsenen Petra.

Seit Petra im Alter von 25 Jahren ihren Sohn Jonas zur Welt brachte, denkt sie oft darüber nach, wie anders Jonas im Vergleich zu ihr ist. Während der 14-jährige Junge Herausforderungen und Konflikte mit unbändigem Frohsinn und Humor löst und zahlreiche Freunde hat, war sie als Kind eher von ruhigerem Gemüt.

Petras Eltern beschreiben ihr Kind als pflegeleicht. In der Schule kam sie gut zurecht: Ihre Noten bewegten sich im durchschnittlichen Bereich und sie war nie in Konflikte mit Mitschülern verwickelt. Kurzum: Petra war als Kind völlig unauffällig. Sie erinnert sich genau daran, wie stolz ihre Eltern darauf waren, einen so umgänglichen Sprössling zu haben.

Petra war ein verträumtes Kind. Im Gegensatz zu ihrem extrovertierten Sohn lebte sie lieber in ihrer eigenen Welt, statt sich mit den lauten und komplexen Strömungen des sozialen Lebens auseinanderzusetzen. In ihrer Fantasiewelt bekämpfte sie Bösewichte mit ihrer Superkraft sich unsichtbar zu machen.

Das sie durch ihr ruhiges Wesen auch in der Realität kaum jemandem auffiel, störte sie nicht nur nicht; sie fand es sogar gut. Denn mit ihrer Art kam sie gut durch die Welt: Sie war zwar nicht besonders beliebt, aber sie eckte auch bei niemandem an und ging Konflikten jeglicher Art aus dem Weg.

Dass sich hinter ihrer scheinbaren Unauffälligkeit große Kontaktschwierigkeiten und Ängste verbargen, ist Petra selbst als Erwachsene nur entfernt bewusst. Sie vermeidet es, sich tiefgreifend mit ihrer Kindheit auseinanderzusetzen, die bei genauerem Blick von Einsamkeit und Schmerz geprägt war.

Besser verstehen

Gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Unsicherheit - das stille Kind - Foto iStock © WavebreakmediaMicroPetras Eltern, die eher konservativen Überzeugungen folgten, lernten sich bereits in jungen Jahren kennen und entschieden sich rasch, eine Familie zu gründen. Doch schon kurz nach ihrer Hochzeit, als Petra bereits unterwegs war, zeigten sich erste Schwierigkeiten.

Zwischen ihren Eltern entfalteten sich oft heftige Auseinandersetzungen, die von beiden Seiten nicht konstruktiv gelöst werden konnten. Obwohl Petras Eltern in ihren Streitereien nicht auf einen Nenner kamen, sind sie sich zumindest in einer Sache einig: Eine Scheidung kommt nicht infrage.

So wuchs Petra in einem Haushalt auf, in dem sich der Frust von langanhaltenden, ungelösten Konflikten aufgestaut hat und nur darauf wartete, sich bei jeder Gelegenheit explosionsartig zu entfalten. Die häusliche Situation war so angespannt, dass Petra sich insgeheim wünschte, ihre Eltern würden sich trennen, damit endlich Ruhe und Frieden einkehren können.

Ihre Mutter, eine Frau, die äußerst streng mit sich selbst und anderen umging, sah wenig Sinn darin, mit ihrer Tochter über Gefühle zu sprechen. Als Petra mit etwa 10 Jahren ein paar Mal versuchte, ihrer Mutter zu sagen, dass es sie traurig machte, wenn Mama und Papa sich anschreien, erwiderte diese: „Dir geht es doch gut. Du hast ein Dach über dem Kopf, Spielzeug zum Spielen und stets etwas zu essen auf dem Tisch. Solche Streitereien kommen nun mal in jeder Familie vor.“

Auch ihrem Vater konnte sie sich nicht mitteilen, denn er entzog sich der häuslichen Situation, indem er sich so oft wie möglich in die Arbeit flüchtete. Oft kam er erst spätabends nach Hause, wenn Petra schon lange schlief. Noch heute ist die Beziehung zu ihrem Vater entfremdet.

Der Umgang mit Hilflosigkeit und Unsicherheit

Gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Unsicherheit - das stille Kind - Foto iStock © SDI ProductionsPetra wächst in einem Umfeld auf, in dem Konflikte nicht konstruktiv gelöst und Emotionen unter Verschluss gehalten werden. Durch das Verhalten ihrer Eltern lernt sie im Verlauf der Jahre, dies ebenfalls zu tun.

Als ihre Ausdrucksversuche im Alter von 10 Jahren auf Unverständnis stoßen, sucht Petra nach einem anderen Weg, um mit der Hilflosigkeit und Unsicherheit umzugehen, die durch die häusliche Situation ausgelöst werden: Sie entzieht sich, indem sie sich in ihre eigene Welt flüchtet.

Im Angesicht der Konflikte kapselt sie sich ab. Sie erschafft eine Fantasiewelt, in der sie die Heldin ist und erfolgreich gegen jegliches Unrecht kämpft. Die Möglichkeit, sich dort zur Heldin zu machen, steht im starken Widerspruch zu ihrer Realität, in der sie sich hilflos, machtlos, bedeutungslos fühlt.

Bei Petras unauffälligem Verhalten, das von ihren Eltern fälschlicherweise als Pflegeleichtigkeit interpretiert wird, handelt es sich also um einen Schutzmechanismus, mit dem sie den ungewissen und oft belastenden Spannungen innerhalb der Familie entkommen kann.

Eben dieser Schutzmechanismus führt jedoch auch dazu, dass Petra erhebliche Schwierigkeiten hat, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Ihre ruhige Art verhindert zwar, dass sie in der Schule in Konflikte gerät, führt aber auch dazu, dass sie keinen Anschluss findet.

Ohne gelernt zu haben, wie man Probleme löst und Gefühle angemessen ausdrückt, fehlen ihr wesentliche Grundkompetenzen für das soziale Miteinander. Dadurch erlebt Petra Einsamkeit und empfindet sich als bedeutungslos. Weder zu Hause noch Außerhalb hat sie die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse, Meinungen und Gefühle auszudrücken.

Dynamik in der Familie

Die familiäre Dynamik in Petras Familie wird von verschiedenen dysfunktionalen Merkmalen geprägt, die das Verhalten des Kindes maßgeblich beeinflussen und es in die Rolle des „stillen Kindes“ gedrängt haben. Der zentrale Auslöser dieser familiären Dysfunktion sind die ungelösten Konflikte zwischen Petras Eltern, die regelmäßig zu destruktiven Auseinandersetzungen führen.

Petras Beispiel verdeutlicht, dass elterliche Konflikte nicht zwingend in physischer Gewalt resultieren müssen, um Ängste, Unsicherheit und Verzweiflung bei einem Kind auszulösen. Langanhaltende Spannungen, mangelhafte Kommunikation und das Unterdrücken von Gefühlen haben ebenfalls negative Auswirkungen auf die Entwicklung der Nachkommen.

Das Verhalten von Petra zeichnet sich durch auffällige Unauffälligkeit aus, was genau dem Sinn der Rolle des „stillen Kindes“ entspricht. Ähnlich dem Clown-Kind – die Rolle, die viele Jahre später einmal ihr Sohn Jonas einnehmen wird – versucht auch das stille Kind, sich emotional von dem dysfunktionalen Familiensystem zu distanzieren. Petra hat somit mehr mit ihrem Sohn gemeinsam, als ihr bewusst ist.

Zusätzlich erfährt das stille Kind in der Regel Lob und Zuspruch von den Eltern für sein braves und vermeintlich pflegeleichtes Verhalten. In ihrer Unauffälligkeit finden stille Kinder also einen Weg, Anerkennung zu erlangen.

Petras Rolle erfüllt zudem fundamentale Funktionen für das Bestehen des Familiensystems. Ihr Verhalten vermittelt, ganz ähnlich wie das ihres Sohnes Jonas später, nach außen hin den Eindruck einer intakten Familie. Ihre unauffällige Art dient als Fassade, die die realen Probleme verschleiert.

Diese Fassade verhindert, dass die dysfunktionale Dynamik nach außen dringt und somit den sozialen Status sowie das Ansehen der Familie schützt. Allerdings trägt eben dieses Verhalten dazu bei, die familiäre Dysfunktion langfristig aufrechtzuerhalten.

Mehr wissen

Petra, die, wie wir aus Jonas Fallbeispiel wissen, im Erwachsenenalter eine Alkoholabhängigkeit entwickelt, verdeutlicht nicht nur die individuellen Herausforderungen, mit denen Kinder aus dysfunktionalen Familien konfrontiert sind, sondern wirft auch einen Blick auf das größere Bild.

Belastende Kindheitserfahrungen, wie sie uns auch im Fall von Max, Lisa und Jonas begegnen, können langfristige Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben – und zwar sowohl körperlicher als auch psychischer Natur.

Da Petra nie gelernt hat, wie man angemessen mit Emotionen und Problemen umgeht, führt sie dieses Verhalten als Erwachsene weiter: Sie versucht, ihre Gefühle mit Alkohol zu unterdrücken und sich kurzzeitig der Realität zu entziehen.

An Petras Beispiel wird auch deutlich, dass familiäre Dysfunktionen dazu neigen, sich über Generationen hinweg zu wiederholen. Oftmals waren Eltern in ihrer Kindheit selbst einmal in einer familiären Dysfunktion gefangen und hatten nie die Möglichkeit, ein anderes Verhalten zu erlernen.

Denn Kinder lernen durch das Modellieren des elterlichen Verhaltens und übernehmen unbewusst Muster, die in ihrer eigenen Eltern-Kind-Beziehung wiederkehren. Dadurch kann Petra auch nicht erkennen, dass das Verhalten ihres späteren Sohnes Jonas keineswegs einen gesunden Umgang mit Konflikten darstellt.

Sowohl für Eltern als auch für uns als Gesellschaft ist es daher von drängender Notwendigkeit, familiäre Dysfunktionen zu erkennen, zu verstehen und präventive Maßnahmen zu ergreifen.

Was können Eltern in einem solchen Fall tun? Was braucht Petra, um aus ihrer Rolle herauszukommen?

Gefangen zwischen Unsichtbarkeit und Unsicherheit - das stille Kind - Foto iStock © SewCreamZunächst einmal zeigen die Fälle von Petra, aber auch von Max, Lisa und Jonas, dass das Verhalten der Kinder und ihrer Eltern bereits Versuche darstellen, mit der herausfordernden Situation umzugehen. Alle suchen unbewusst nach einer Lösung – leider ohne rechten Erfolg. Deshalb ist es, wie auch in allen anderen Fällen familiärer Dysfunktion, notwendig, die Auslöser zu erkennen und neue Lösungsansätze auszuprobieren.

Das bedeutet, die Verhaltensmuster zu identifizieren, die zur familiären Dysfunktion beitragen, und diese zu verändern. In Petras Fall wäre das die Förderung einer offenen Kommunikation innerhalb der Familie. Lernen Eltern einen konstruktiven, lösungsorientierten Umgang mit Konflikten und einen gesunden Umgang mit ihren eigenen Emotionen, können sie dies auch an ihre Kinder weitergeben.

Für Petra bedeutet dies, einen Raum zu schaffen, in dem sie sich sicher fühlt, ihre Bedürfnisse, Meinungen und Gefühle ausdrücken kann und in dem ihr Selbstwert gestärkt wird. Es ist wichtig zu betonen, dass Rückschläge und Herausforderungen Teil dieses Prozesses sind, und es erfordert Ausdauer und Durchhaltevermögen, um positive Veränderungen zu bewirken.

Petras Fall zeigt zudem die weitreichenden Konsequenzen, die nicht aufgearbeitete belastende Kindheitserfahrungen haben. Eltern, die in ihrer Kindheit in dysfunktionalen Familiendynamiken gefangen waren, haben oft nicht die Hilfe bekommen, die sie verdient hätten. Diese dürfen sie sich aber als Erwachsene selbst geben, indem sie professionelle Hilfe in Form einer Psychotherapie zulassen, um die schwerwiegenden Auswirkungen ihrer Vergangenheit abzufangen, den  Teufelskreis zu durchbrechen und eine positive Entwicklung für sich selbst und nachfolgende Generationen zu fördern.

von Alina Feito Caldas

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Ein Beitrag aus unserer Praxis-Rubrik:

FamilieLeben – besser verstehen


Sind Eltern zufrieden und glücklich entwickeln sich ihre Kinder zu kleinen Persönlichkeiten mit einer großen Portion gesundem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Doch was brauchen Familien, damit Spannungen und Konflikte gar nicht erst aufkommen und wie gestalten sie ihre Beziehung und erhalten sie aufrecht? Was wäre nötig, damit Väter selbstbewusst die Vaterrolle annehmen, die Verteilung der Familienarbeit gerecht aufgeteilt ist und die Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Kindererziehung nicht ständig Thema sind. Kann Familie gelingen, wenn das geschlechtsspezifische Denken, Wahrnehmen und Verhalten im täglichen Umgang miteinander berücksichtigt wird?