Manchmal sind im komplexen Gefüge von Familie die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen, wie uns das 13-jährige „Problemkind“ Max heute zeigt.
Max Eltern wissen nicht mehr weiter. Während sich seine Schwester Lisa völlig unauffällig verhält, ist ihr Sohn ein äußerst rebellischer Junge, der sich gegen Regeln und Autorität auflehnt. Er hinterfragt Anweisungen und Vorschriften und ist selten bereit, zu gehorchen.
Zuhause weigert er sich, an den täglichen Familienessen teilzunehmen oder Aufgaben zu erledigen, die ihm aufgetragen wurden. Auf sein Verhalten angesprochen, reagiert Max feindselig und abweisend, macht sarkastische Bemerkungen oder wird seinen Eltern gegenüber aggressiv. Versuchen seine Eltern sich gegen ihn durchzusetzen, reagiert er mit Wutanfällen, schreit herum und schmeißt Gegenstände durch die Wohnung.
Auch in der Schule läuft es nicht besser. Der Junge weigert sich, sich an die Schulordnung zu halten, schwänzt Unterrichtstunden und schleicht sich in den Pausen vom Gelände, um mit Gleichgesinnten heimlich zu rauchen.
Seine ausgeprägte Neigung, sich gegen alles zu stellen, was von anderen erwartet wird, seine rebellische Natur und sein aufsässiges Verhalten verwickeln ihn häufig in Konflikte. Seine Eltern und Lehrer:innen glauben ihm schon längst nichts mehr, weshalb er nun manchmal auch zu Unrecht bestraft wird.
Max‘ Vertrauen in Autoritätspersonen bröckelt dadurch zunehmend, weshalb er sich nur noch stärker gegen sie auflehnt. Es ist ein Teufelskreis, bei dem vor allem einer Schaden nimmt, nämlich Max. Denn Max ist nicht grundlos ein solches „Problemkind“, wie seine Eltern ihn nennen. Er steckt in einer Rolle fest, die ihm durch äußere Umstände aufgezwungen wurde.
Besser verstehen
Max‘ problematisches Verhalten fing an, als er etwa 10 Jahre alt war. Etwa ein Jahr zuvor erkrankte sein Vater an einer Depression. Bis zu diesem Zeitpunkt standen er und Max sich sehr nahe; ein „Papa-Kind“ durch und durch.
Doch durch die Erkrankung veränderte sich Max‘ Vater drastisch und damit auch ihr Verhältnis: Der sonst liebevolle und stets lustige Mann zieht sich immer weiter zurück, schläft bis in die Mittagsstunden und reagiert völlig genervt auf seine Kinder – vor allem, wenn diese in seinen Augen zu laut sind.
Der Mann, dem sonst nie auch nur ein schlechtes Wort über die Lippen kommt, wird plötzlich laut und aggressiv. Immer öfter reagiert er mit Wutanfällen auf seine Kinder, in denen er sie auch manchmal beschimpft und beleidigt.
Max‘ Mutter sieht ihm dieses Verhalten nach und erklärt den Kindern, ihr Vater mache gerade eine schwere Zeit durch. Hilfe möchte der Familienvater sich jedoch nicht suchen. Das hat gleich mehrere Gründe: Er schämt sich für seine Situation, er findet nicht die Kraft, sich Unterstützung zu holen und hofft insgeheim, die Situation selbst wieder in den Griff zu bekommen.
Bedürfnis nach Aufmerksamkeit
Doch nicht nur Max‘ Vater verändert sich. Auch seine Mutter wird völlig durch die Erkrankung vereinnahmt: sie übernimmt nicht nur alle liegengebliebenen Aufgaben, denen üblicherweise Max‘ Vater nachkommt, sondern kümmert sich auch mit großer Sorge um ihren Partner. Am Ende des Tages ist auch sie völlig erschöpft – viel Zeit für die Kinder bleibt nicht mehr.
Max wünscht sich mehr Aufmerksamkeit und sein Vater, der für ihn stets ein Vorbild darstellte, wird durch sein aggressives Verhalten plötzlich zum negativen Rollenmodell. Doch auch unterschiedliche Geschlechterrollen schlagen sich in seinem Verhalten nieder: Während Mädchen oft beigebracht wird, sich umsichtig und fürsorglich zu verhalten, werden Jungen aggressivere Verhaltensweisen eher nachgesehen, frei nach dem Motto: „Boys will be boys“.
Max lernt schnell, dass sein Benehmen funktioniert: Während er selten Aufmerksamkeit für Freundlichkeit und Gehorsam bekommt – denn diese werden von beiden Elternteilen allzu schnell übersehen – reagieren beide aufgrund ihrer Überforderung sehr stark auf sein aufmüpfiges Verhalten.
Sie schimpfen ihn aus, bestrafen ihn mit Fernsehverboten und Hausarresten. Nichts wirkt. Es ist zwar eine negative Form der Aufmerksamkeit, doch nur so fühlt Max sich in einem Haushalt, der sich durch die Erkrankung des Vaters seit einigen Jahren im Ausnahmezustand befindet, überhaupt gesehen.
Max‘ Verhalten ist also keinesfalls eine natürliche Neigung sich gegen alles aufzulehnen. Das wird auch daran erkenntlich, dass er bis zu der Erkrankung seines Vaters ein liebevolles, unauffälliges Kind war.
Durch das Verhalten der Eltern setzt sich nun ungewollt ein sich selbst verstärkender Teufelskreis in Gang: Max kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass er nichts richtig machen kann. Aufmerksamkeit bekommt er nur, wenn er sich unerwünscht verhält.
Immer öfter zeigt er dadurch genau diese Verhaltensweisen. Und das nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule. Denn wenn die Schule (wieder einmal) anruft, um von Max‘ Fehlverhalten zu berichten, dreht sich zumindest dieses Mal alles nur um ihn.
Durch die kontinuierliche negative Rückmeldung sowohl Zuhause als auch in der Schule, fühlt Max sich ungeliebt und kann kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Akzeptanz findet er nur bei gleichgesinnten Unruhestifter:innen, mit denen er mehr und mehr Zeit verbringt.
Tief im Inneren wünscht er sich, gesehen zu werden. Das tiefgreifende Bedürfnis, das hinter seinem Verhalten steckt, ist dem Kind natürlich nicht bewusst. Bei all dem Misstrauen, das er mittlerweile gegen Andere hegt, bleibt außerdem fraglich, ob er den Wunsch selbst bei vorhandenem Bewusstsein ausformulieren würde. Deshalb ist es die Aufgabe von uns Erwachsenen, das dahinterliegende Bedürfnis zu erkennen und zu handeln.
Dynamik in der Familie
Betrachtet man die Hintergründe von Max‘ Verhalten wird schnell klar, dass Max nicht etwa der Auslöser, sondern ein Symptomträger der häuslichen Missverhältnisse ist. Die familiäre Dysfunktion, in diesem Fall ausgelöst durch die unbehandelte psychische Erkrankung des Vaters, zwingt jedes Familienmitglied in eine bestimmte Rolle.
Der Vater erscheint durch seine Erkrankung völlig wesensverändert und ist nicht mehr in der Lage, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Gleichzeitig spielt er die Situation herunter. Es wäre ihm peinlich, wenn Außenstehende von seinem „Versagen“, wie er es interpretiert, etwas mitbekommen würden.
Max‘ Mutter respektiert den Wunsch ihres Partners und spricht nur selten mit Anderen über die Zustände Zuhause. Durch dessen Erkrankung wird sie jedoch gezwungen, neben ihrem Job und den alltäglichen Hausarbeiten zusätzliche Aufgaben zu übernehmen.
Egal wie sehr sich Eltern bemühen mögen, an den Kindern geht nicht vorbei, dass Zuhause etwas nicht (mehr) stimmt. Auch sie reagieren auf die Veränderung: Während Max‘ Schwester Lisa, auf die wir in einem weiteren Beitrag noch einmal zurückkommen werden, anders mit der familiären Dysfunktion umgeht, reagiert Max mit ausgelebter Wut. Wut darüber, dass sein geliebter Vater plötzlich so verändert ist und darüber, dass plötzlich nichts mehr so ist, wie es früher war.
Im hier angeführten Beispiel sind Depressionen der Auslöser für die Rollenverschiebungen, doch auch andere psychische Erkrankungen, wie eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, können ähnliche Dynamiken erzeugen.
Mehr wissen
Durch Max‘ Verhalten gerät der Auslöser der eigentlichen Probleme immer weiter in den Hintergrund. Tatsächlich erwischen sich beide Elternteile, denen es sehr schwer fällt, sich die Erkrankung einzugestehen, immer wieder bei dem Gedanken: „Wenn Max uns nicht so viele Sorgen bereiten würde, dann wäre alles gut“.
Und genau hier liegt oftmals das Problem: Aufgrund ihrer Impulsivität und Aggressivität werden Kinder wie Max als „schwarzes Schaf“ bezeichnet, dabei sind sie nur der Spiegel der oftmals unausgesprochenen Konflikte Zuhause. Sie werden zum Sündenbock gemacht. In vielerlei Hinsicht dienen solche Kinder als „Druckventil“: Sie werden zum zentralen Träger des Stresses und oftmals förmlich dazu gezwungen, die Schuld für alles zu übernehmen, was innerhalb der Familie nicht stimmt.
Was können Eltern in einem solchen Fall tun? Was braucht Max, um aus seiner Rolle herauszukommen?
Um eine derart verstrickte Situation wieder aufzulösen, bedarf es viel Geduld und elterlicher Initiative. Kinder wie Max müssen lernen, dass ein Verhalten wie ihres nicht notwendig ist, um die gewünschte Zuwendung zu erhalten. Dies ist zum Beispiel möglich, indem man den Kindern auch, oder sogar ganz besonders, in stressigen Phasen bewusst Zeiten einräumt, die ausschließlich für sie bestimmt sind.
Gleichzeitig sollte man Kindern wie Max zeigen, welche Verhaltensweisen erwünscht sind, statt unerwünschte Verhaltensweisen abzustrafen. Dies kann in etwa geschehen, indem man positives Benehmen anerkennt und belohnt.
Hat das Kind zum Beispiel seine Hausaufgaben erledigt, kann man zustimmend lächeln und nicken. Hat es ungefragt etwas im Haushalt gemacht oder das getan, worum man es gebeten hat, kann man sich bedanken. Ein Lob in Maßen – mehr braucht es eigentlich nicht. Wichtig ist, dass das Kind versteht, dass es etwas richtig gemacht hat.
Gleichzeitig gilt es, unerwünschten Verhaltensweisen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zukommen zu lassen, so dass sich ein solches Verhalten schlichtweg nicht mehr lohnt.
Weiterhin ist es wichtig, das angeschlagene Selbstwertgefühl von Kindern wie Max zu stärken.
Eltern sollten ihre Sprösslinge hierfür ermutigen, über ihre Gefühle und Gedanken zu sprechen und Verständnis für diese zeigen. Weitere Möglichkeiten ergeben sich daraus, bewusst die Interessen und Hobbys der Kinder zu fördern und den Aufbau und die Pflege von Beziehungen zu Gleichaltrigen zu unterstützen.
Oftmals gelingt eine konsequente Veränderung in einem komplexen Fall wie diesem hier jedoch nur unter Zuhilfenahme professioneller Hilfe, zum Beispiel in Form einer systemischen Familientherapie, in der die einzelnen Rollen der Familienmitglieder reflektiert werden.
Der eigentliche Auslöser der familiären Dysfunktion, nämlich die väterliche Erkrankung, muss zudem dringend behandelt werden.
In weniger extremen Fällen kann es sich auch lohnen, eine Ehe-, Familien- und Lebensberatung in Erwägung zu ziehen. Diese stellen ihre Dienstleistung in der Regel bereits gegen ein sehr kleines Honorar zur Verfügung.
Wichtig ist zudem, sich bewusst darüber zu sein, dass jede familiäre Situation unterschiedlich ist und somit auch individuell behandelt werden muss. Hilfe in Anspruch zu nehmen ist dabei keine Schande, sondern spricht von Stärke, Mut und dem Willen, etwas verändern zu wollen!
Literaturverzeichnis
Sind Eltern zufrieden und glücklich entwickeln sich ihre Kinder zu kleinen Persönlichkeiten mit einer großen Portion gesundem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Doch was brauchen Familien, damit Spannungen und Konflikte gar nicht erst aufkommen und wie gestalten sie ihre Beziehung und erhalten sie aufrecht? Was wäre nötig, damit Väter selbstbewusst die Vaterrolle annehmen, die Verteilung der Familienarbeit gerecht aufgeteilt ist und die Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Kindererziehung nicht ständig Thema sind. Kann Familie gelingen, wenn das geschlechtsspezifische Denken, Wahrnehmen und Verhalten im täglichen Umgang miteinander berücksichtigt wird?