„Uns hat die Krippe nicht geschadet.“, „Wir mussten die Kinder so früh abgeben, dass war halt so.“ oder „Sag bloß nichts!“, „Stell dich nicht so an!“, „Du bildest dir alles nur ein!“
Alle ehemaligen DDR-Bewohner kennen diese Sätze, die auch heute noch die Gegenwart tief durchdringen, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung.
KRIPPENSTART IM WESTEN WECKT ERINNERUNGEN AN DDR-KRIPPE
2013 wurde in der wiedervereinigten Bundesrepublik ein Gesetz über den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für alle Kinder ab dem 1. Lebensjahr erlassen. In den neuen Bundesländern musste diesbezüglich nicht groß ausgebaut werden. Die politischen Rahmenbedingungen, dass Kinder früh in die Fremdbetreuung gingen, blieben unbehelligt.
„Erziehungsziele der Krippe übernahmen Eltern auch zu Hause.“ Foto © Jennifer Hein
Als ich in den 90er Jahren meine Heimat Thüringen verlassen habe und mich in den alten Bundesländern niederließ, habe ich dort zunächst andere Werte wahrgenommen. Kinder durften erst mit drei Jahren in den Kindergarten. Auch hörte ich Sätze wie „Ossis sind doch alle krank. Wie kann man nur seine Kinder so früh abschieben? Wofür schafft man sich denn überhaupt Kinder an.“ Solche Sätze haben mich aufhorchen lassen, aber ich konnte nicht verstehen, was an meiner Erfahrung als Krippen-Kind in der DDR schlecht gewesen sein sollte. Gleichzeitig jedoch überkam mich eine große Traurigkeit. Muss ich mich denn wirklich schämen, weil ich ein Ossi bin? Und was hat das überhaupt mit mir zu tun? Ich war doch gerade mal 14 Jahre alt, als die Mauer fiel. Das fand ich toll. Endlich konnten wir zu unseren Familien in den Westen reisen.
VOM WANDEL DER SCHEINWELT
Meinen allergrößten Traumberuf, eine Ausbildung zur Erzieherin, konnte ich jetzt frei wählen! Allerdings musste ich noch kurz vor der Wende beim Schuldirektor antreten, weil ich meine Ausbildung an einer Katholischen Fachschule für Sozialpädagogik absolvieren wollte, nicht an einer staatlichen. Diese Eigenmächtigkeit schien ihm nicht gefallen zu haben. Um keinen Unfrieden zu stiften, habe ich mir auch die staatliche Schule angeschaut, obwohl meine Entscheidung längst feststand.
Nach der Wende hatte ich dann in der Ausbildung in Thüringen die Möglichkeit in viele Teilbereiche reinzuschauen und mich dahin zu orientieren, wohin mein Herz mich führte. Ein großes Glück für mich, denn in der DDR blieb diese Wahl vielen Menschen verwehrt.
Nach der 5-jährigen Ausbildung war es äußerst schwierig eine Arbeitsstelle in einer Kita zu finden. Zudem war zu dieser Zeit die Kinderkrippe in den alten Bundesländern noch eine Randerscheinung, die ich nicht wahrgenommen habe. Und da die Geburtenzahlen damals zurückgingen, bangte ich jährlich um meine Stelle in Bayern.
Eine neue Erfahrung war für mich, dass im Westen die Kindergruppen altersübergreifend geführt wurden. Ich kannte nur gruppenhomogene Strukturen d. h., dass alle Kinder eines Jahrgangs in einer Gruppe waren. Altersübergreifend hingegen bedeutet, dass das Alter der Kinder 3 Jahrgänge umfasst und damit die sozialen Voraussetzungen andere sind. Jüngere Kinder lernen von älteren und ältere Kinder wachsen an jüngeren, indem sie sich sozial einbringen können wie z. B. ältere Kinder zeigen jüngeren Kindern, wie man bestimmte Aufgaben bewältigt, was wiederum den Selbstwert der älteren Kinder steigert und diese Qualität lässt sich nicht in einem Plan festschreiben, weil es sich nicht kontrollieren lässt.
Diesen für mich neuen Ansatz der Arbeit habe ich schnell integrieren können und empfinde ihn auch heute noch für sinnvoll und richtig, weil Kinder sich unterschiedlich schnell in ihren Entwicklungsstufen entwickeln und damit der Druck der Gleichmachung aller Kinder, wie es in der DDR üblich war, herausgenommen wird.
Nicht nach vorgefertigten Plänen zu arbeiten und sich stattdessen an den Kindern zu orientieren und an dem, was sie spontan einbringen und dieses möglichst mit allen Sinnen den Kindern begreifbar zu machen, stärkt die Beziehungen untereinander. Die Zeit, die wir miteinander verbracht haben und in der ich mich ihnen zuwenden konnte, beglückt mich noch heute.
2003 zogen dann die Bildungspläne in die Kita ein als Folge der katastrophalen Ergebnisse der PISA-Tests für Deutschland. Für mich war es der Beginn des langsamen Sterbens des Miteinander-Seins. Von Jahr zu Jahr hielten immer mehr verwaltungstechnische Aufgaben Einzug, sei es Qualitätsmanagement oder Dokumentationen über die Kinder und die pädagogische Arbeit, mit Zielen und Zielkontrollen bei den einzelnen Kindern.
Von Jahr zu Jahr habe ich mich unter diesen Zwängen immer mehr gewunden und den wachsenden Widerstand in mir gespürt. Höhepunkt war dann, als ich in einer Kita begann zu arbeiten, die mit einer Kinderkrippe verbunden war. Im Frühdienst gab es eine Auffanggruppe, die alle Kinder entgegennahm, auch die Krippenkinder. Viele dieser kleinen Kinder kannten mich nur flüchtig – so etwa von einer kurzen Begegnung beim Freispiel im Garten. Dass ich keine vertraute Bindungsperson für diese Kinder war, zeigte sich in der Trennungssituation. Berufstätige Eltern brachten ihre Kinder ab 7 Uhr. Kinder, die noch müde waren, zeigten ihre Überforderung, indem sie ihren Eltern nachweinten. Ein Trösten war nur bedingt möglich, weil ich für die Kinder fremd war. Andere wiederum stürmten in die Gruppe und schafften in kürzester Zeit Chaos und waren sehr laut und unhaltbar in ihrem Bewegungsdrang – ein weiteres Zeichen von Überforderung, nur auf anderer Ebene. Ich habe das nicht ertragen, musste meine Tränen unterdrücken, bin auf Toilette geflüchtet, um mich zu fangen und habe letztendlich den Dienst in der Auffanggruppe verweigert.
Später dann in meiner Ausbildung zur Elternberaterin und -begleiterin wurde uns ein Vortrag von Gerald Hüther präsentiert, der mich aufwachen ließ. Sein Thema: „Ohne Gefühl geht gar nichts.“ Und mir wurde klar, dass ich mit der Zeit meine Lebensfreude im Beruf immer mehr verloren hatte, um mich einer Struktur anzupassen, in der ich mich und mein Verständnis für die Arbeit mit Kindern zusehends nicht wiedererkennen konnte. Die zunächst nicht hinterfragte Anpassung an diese Zustände, sowie die damit verbundene Gefühlsleere und die Herzenseinsamkeit, die ich dabei spürte, zähle ich heute zu meinem DDR-Erbe.
In der DDR habe ich gelernt mich unterzuordnen. In der Schule wurden wir abgerichtet und mit sozialistischen Ideologien geprägt. Der Einzelne galt nichts. Alle im Gleichschritt, Marsch für unser Heimatland. Ich erinnere mich noch, als meine Tante aus Düsseldorf uns besuchte, kam meine jüngere Schwester begeistert angelaufen und sagte: „Ihr seid unsere Feinde.“ Und dann fiel sie meiner Tante und Cousine in die Arme. Lachen kann ich heute darüber nicht mehr, weil es deutlich macht, welchen Mächten wir unterworfen waren.
UNGELEBTE TRAUER AUF DER SUCHE NACH LEBENDIGKEIT
Das Thema Kinderkrippe ließ mich nicht los. Ich versuchte mich mit anderen Erzieherinnen aus den alten Bundesländern darüber auszutauschen, auch mit meiner Familie.
„Alleine Einschlafen ohne Mama war schwer und normal.“ Foto © Jennifer Hein
Irgendwann bin ich dann auf die Stiftung Zu-Wendung für Kinder gestoßen, die mir in vielen Beiträgen widerspiegelte, was in mir tief drin sich eingehaust hatte und was in meinem täglichen Arbeitsleben mit viel Leid und Schmerz verbunden war.
Zeitgleich damit verbunden war der schwere Krankheitsverlauf meines Vaters, der letztendlich auch zum Tode führte und mich zusammenbrechen ließ. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich als Kind von 4,5 Jahren, nie über den Verlust meiner Beziehung zu meinem Vater getrauert hatte. Damals trennten sich meine Eltern. Erst als ich erwachsen war, stellte sich mir immer wieder die Frage, warum ich als Kind nicht zu ihm durfte und warum er mich so scheinbar leichtfertig aufgeben hatte. Ich ging dieser Frage nach und konfrontierte ihn mit dieser Frage. Spürbar und sichtbar wurde mir dann, dass auch er all die Jahre um unsere Beziehung getrauert hatte und unsicher war, wie er mir gegenübertreten sollte.
Unsere gemeinsame Liebe zur Musik, zu Märchen und zum Puppenspiel nährten uns, bis er dann leider viel zu früh erkrankte und verstarb. Mein Vater fand durch meine Konfrontation auch zu seinen Tränen. Tränen, die auch er nie gewagt hatte zu weinen, weil das Trauern in DDR-Zeiten verboten war. Ich hatte das scheinbar übernommen.
In meiner therapeutischen Auseinandersetzung mit mir selbst, wurde mir bewusst, wie durchdrungen ich war von meinen DDR-Prägungen und wie notwendig für mich die Bewältigung dieser Prägung geworden war. Sich austauschen, über mein Erleben reden, ohne gesagt zu bekommen “Das bildest du dir alles nur ein. Hör endlich damit auf. Du kannst es eh nicht ändern.”, dieser Wunsch wurde immer dringlicher.
Die Rückkehr in die Kita war für mich nicht mehr denkbar und ich suchte intensiv nach einer neuen Aufgabe, in der ich meine eigenen Werte und mein Potenzial realisieren konnte. Ich beschloss mir etwas Gutes zu tun und der Stimme, Raum zu geben, der ich in der Musik immer wieder begegnete.
VON GEFÜHLSLEERE UND HERZENSEINSAMKEIT
Meine Ausbildung zur kreativen Leibtherapeutin für Musiktherapie und meine Tätigkeit in einer Psychosomatischen Klinik für Familientherapie verhalfen mir mein Gespür für Menschen, die wie ich ihre Prägung in der DDR erhalten haben, zu intensivieren.
Auffällig waren bei diesen Menschen die große Sprachlosigkeit, die sie mitbrachten und der schwere Kampf, den sie auszutragen hatten, um einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Geholfen hat vielen, eine Hand, ein Arm, der sie hielt. Ein tröstender Blick, der sie sah. Ein Lied, was in ihnen erklang, um den Gefühlen endlich einmal Raum zu geben, die durch das Lied zum Durchbruch kamen. Ein mitfühlendes Ohr, was zuhört. Ein Spiegel, der die Worte finden lässt. Eine Umarmung, die von Herzen kommt. Auch der Ausdruck von Wut war bei vielen Patienten sehr verdeckt – eben unsichtbar wie verboten.
Trost haben die meisten von Ihnen dennoch kaum erfahren. Die unterbewussten Prägungen behielten häufig die Überhand: Leisten und Funktionieren, den Therapieplan einhalten, auch dann noch, wenn das Kind in Begleitung der Eltern sich mit Händen und Füßen wehrt. Sich anpassen, Angst vor Ablehnung, Unsicherheit im Ausdruck ihrer Bedürfnisse. All diese Themen sind mir bei meiner Arbeit begegnet und sie sind mir sehr vertraut, da ich sie aus meinem eigenen inneren Erleben so gut kenne.
MEINE SEHR PERSÖNLICHE BEOBACHTUNG ÜBER DIE NACHWEHEN DES DDR-ERBES
Dreijährige Kinder oder älter, die mit ihren in der ehemaligen DDR aufgewachsenen Eltern in die Therapie kamen, stürzten meistens begeistert hinein.
„Frühe Eigenständigkeit hatte einen hohen Wert in der DDR.“ Foto © Jennifer Hein
Sie waren sprachlich gut aufgestellt, zeigten wenig Berührungsängste, waren sehr laut und bestimmend, suchten viel Aufmerksamkeit, waren sehr selbstständig beim Toilettengang, beim Anziehen und beim Selbstbedienen des Essens. Oft hatten sie Schwierigkeiten, die Grenzen der anderen Kinder wahrzunehmen und immer wieder plagten sie sich mit Erkältungssymptomen. Andererseits begegneten mir auch die in sich versunkenen und ängstlichen Kinder, die sich von ihren Eltern nicht trennen konnten, scheu und unsicher im Gruppenkontakt waren.
Heute nach der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Geschichte, nach meinen vielfältigen Beobachtungen, Gesprächen und Begleitungen von Menschen, die wie ich aus der ehemaligen DDR stammen, treffe ich beruflich auf Familien mit Kindern, die sehr früh fremdbetreut wurden. Vieles fühlt sich vertraut und verkehrt an. Ich höre bundesweit Sätze wie: „Kinder müssen früh in die Fremdbetreuung, um den Anschluss an die Bildung nicht zu verpassen.“, „Bildungspläne geben den Kindern Sicherheit und Struktur vor.“, „Wo sollen die Kinder denn hin, wenn wir arbeiten müssen?“, „Was die Kinder in der Kita lernen, das können wir ihnen gar nicht bieten.“, „Es schadet den Kindern doch nicht, hast du doch im Osten selbst erlebt.“
Dass flächendeckende Krippenbetreuung und Bildungspläne in unserer heutigen Zeit wieder Einzug erhalten haben, sehe ich nicht als Fortschritt an, sondern als ein Zeichen für die Weitergabe eines unreflektierten Traumas, über das in der breiten Öffentlichkeit nicht gesprochen werden durfte – damals nicht und heute wieder nicht. Dahingehend wünsche ich mir eine breitere und kritische Auseinandersetzung, mit Einbezug und Anerkennung von Studien und Erkenntnissen aus der Bindungs- und Entwicklungsforschung. Kinder brauchen ausreichend gute Bindung und Zeit in ihren Familien und keine Ersatzeltern, die nach Plan arbeiten.
Wenn ich behaupten würde, dass ich nach all den Jahren mein DDR-Erbe überwunden hätte, würde ich lügen. Beim Anhören eines kürzlichen Austauschs mit Dr. phil. Udo Baer, Kreativer Leibtherapeut, über die seelischen Folgen der Kindheit in der DDR ist mir im Nachgang aufgefallen, dass ich immer wieder Sätze nicht beendet habe und nach Worten gerungen habe. Auch das ist für mich ein Zeichen, weil es zum Ausdruck bringt, wie stark die Sprachbarriere noch blockiert und beeinträchtigt ist. Auch das ist mir oft in meiner Arbeit in der Klinik begegnet. Es kann Schamgefühle und Verunsicherung hervorrufen. Dennoch ist es eine Chance sich diesem Symptom zuzuwenden, Mut zu haben, sich trotzdem eine Stimme zu geben und auch andere Betroffene zu ermutigen, sich zuzumuten, so wie man ist. Das kann Scham und Verunsicherungen schmälern und ein Schritt zu sich selbst sein. Mein DDR-Erbe kann jeder Zeit wiederauftauchen, im Positiven sowie im Negativen, wie durch dieses Beispiel deutlich wird.
Und ich möchte betonen, dass das sicherlich so für viele unter uns Ossis nicht gilt. Dennoch gilt es in auffallend vielen Fällen. Woran das liegen kann, hinterfragt Udo Baer in seinem Buch „DDR-Erbe in der Seele: Erfahrungen, die bis heute nachwirken“ und erläutert unser Gespräch „DDR-Erbe in der Seele“, welches Sie in unserem YouTube-Kanal anhören können.
Mit verbundenen und herzlichen Grüßen,
Jennifer Hein
[Von Generation zu Generation: Den Teufelskreis der Traumatisierung durchbrechen, Forschungsprojekt gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Forschung und Technologien]