Rainer Böhm, Leitender Arzt a. D. des Sozialpädiatrischen Zentrums Bielefeld Bethel, beleuchtet in seinem Aufsatz, veröffentlicht im Pädiatrie-Sonderheft „Die ersten 1.000 Tage“, aufgrund neuer Erkenntnisse eines wissenschaftshistorischen Forschungsprojekts der Universität Erfurt, warum die fremde Betreuung von unter Dreijährigen als riskant betrachtet wird und wie man sie erfolgreich umgehen kann.
Welche negativen Folgen die Fremdbetreuung von Kleinkindern hat, lässt sich historisch recht leicht am Beispiel der Betreuungssituation in der DDR ablesen. Obwohl die Verhältnisse in der damaligen DDR nicht direkt mit den heutigen vergleichbar sind, erklärt die vorliegende Zusammenfassung von Birgitta vom Lehn, warum die in der DDR-Studie genannten Folgen auch auf unsere aktuelle Situation teilweise übertragen werden können.
Betreuung in der DDR
Die Studien aus Thüringen ergaben: Je länger sich Kinder in ihren ersten Lebensjahren in Krippenbetreuung befanden, desto kritischer stellte sich ihre gesundheitliche Situation und Entwicklung dar. Dies betraf beispielsweise eine starke Zunahme von Infektionskrankheiten, eine langsamere Längen- und Gewichtsentwicklung, eine verzögerte Sprachentwicklung oder Verhaltensauffälligkeiten wie Störungen der Konzentration, der Impulskontrolle und des Sozialverhaltens.
Familienkindern ging es besser als Tageskrippenkindern, diesen wiederum besser als Wochenkrippenkindern und letzteren besser als Kindern in Säuglingsdauerheimen. Zwar wurden diese Daten in der DDR unter Verschluss gehalten, aber sie waren doch dermaßen alarmierend, dass eine schrittweise „Refamiliarisierung“ der frühen Betreuung erfolgte. So wurden die Wochenkrippen nach 40-jähriger Praxis abgeschafft und ein „Babyjahr“ eingeführt. Immerhin zeigte sich in diesen DDR-Daten, dass die steigenden Kontaktzeiten zwischen jungen Kindern und ihren Eltern einen schützenden Faktor zu bedeuten schien [1].
Stress der Krippenkinder
Unabhängig von der Betreuungsqualität bedeutet Krippenbetreuung für Kleinkinder unter drei Jahren immer erhöhten Stress. Dieser lässt sich durch die Messung der Cortisolwerte ermitteln. Cortisol ist ein körpereigener Botenstoff, der von der Nebennierenrinde freigesetzt wird und dafür sorgt, dass dem Körper Energie zur Verfügung steht. Obwohl Cortisol kurzfristig die Leistungsfähigkeit steigern und die Konzentration erhöhen kann, haben mehrere aktuelle Studien gezeigt, dass ein chronischer Cortisolüberschuss gesundheitsschädliche Auswirkungen hat. Diese Studien haben den Cortisolspiegel bei Kindern in verschiedenen Betreuungssituationen gemessen.
Erstmals wurde 2006 eine entsprechende Metaanalyse veröffentlicht. Im Jahr 2023 wurde eine weitere, noch breiter angelegte Meta-Studie aus über 28 internationalen Studien publiziert. Sie umfasst ein Kollektiv von insgesamt 2354 Kindern, die im Schnitt 2,8 Jahre jung waren.
Hierin zeigte sich, dass die am frühen Nachmittag gemessenen Cortisolwerte an Kita-Tagen höher liegen als an Familientagen und dass das Tagesprofil an Kita-Tagen eine aktivierte HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, die zahlreiche Körperfunktionen und -reaktionen, u. a. die Stressreaktion beeinflusst) mit ansteigenden Cortisolwerten vom Vormittag zum Nachmittag aufweist. An Familientagen dagegen wird ein Abfall des Cortisolprofis beobachtet. Die Analyse ergab, dass das Profil mit der zeitlichen Betreuungsintensität (Stunden pro Tag/Woche/Monat) und mit dem Alter der Kinder korrelierte, nicht jedoch mit der Betreuungsqualität. Aufgrund dieser Ergebnisse appelliert das Forschungsteam an die Eltern, ihre kleinen Kinder nicht länger als einen halben Tag in einer Betreuungseinrichtung zu lassen. [2]
Eine norwegische Studie im Vorjahr kam ebenfalls zu den alarmierenden Ergebnissen ansteigender Cortisolwerte am Nachmittag. Auch hier gab es keinen Bezug zur Betreuungsqualität. Ebenso wenig gab es einen Beleg dafür, dass diese Stressreaktionen als „entwicklungsförderlich“ eingestuft werden könnten [3].
Dick und klein „dank“ Krippe?
Aufhorchen lassen sollten auch Studienergebnisse, die eine signifikante Korrelation zwischen früher Gruppenbetreuung und Übergewicht/Adipositas berichten. So zeigte eine kanadische Längsschnittstudie, dass Kinder, die eine Kita besucht hatten, ein langfristig erhöhtes Risiko für Übergewicht/Adipositas besaßen. Die durchschnittliche Wochenstundenzahl in der Kita korrelierte dabei hochsignifikant mit dem Adipositasrisiko. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die starke Ausweitung früher Gruppenbetreuung signifikant zur Adipositasepidemie in Industrieländern beiträgt.
Schon in der DDR gab es Hinweise auf ein verzögertes Längenwachstum von Krippenkindern, bedingt durch den frühkindlichen toxischen Stress. Eine israelische Arbeitsgruppe hat diese Störungen des Längenwachstums nun ebenfalls nachgewiesen. Am empfindlichsten schienen Kinder zu sein, die zwischen einem und anderthalb Jahren in die Kinderbetreuung gegeben wurden. Andere Studien weisen epigenetische Veränderungen nach, wenn es an elterlicher Fürsorge mangelt. Betroffen waren vor allem Gene, die wichtige Funktionen im Neurotransmitterstoffwechsel und der Stressregulation bei Lernen und Gedächtnisformation ausüben.
Alarmierende Ergebnisse aus Kanada
Bemerkenswerte Ergebnisse liefert eine Langzeitstudie aus Quebec und anderen Bundesstaaten in Kanada, wo seit dem Jahr 1997 ein allgemeines, hochsubventioniertes und qualitätskontrolliertes Bildungs- und Betreuungsprogramm für Kinder eingeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen „signifikante Verschlechterungen“ und betrafen die Bereiche Angst, Aggressivität, Hyperaktivität, familiäre Interaktionsmuster, selbstbeurteilter Gesundheitszustand, Zufriedenheit, Lebensqualität und Kriminalitätsraten. Eine kognitive Leistungsverbesserung, gemessen an den kanadischen PISA-Resultaten, war nicht messbar. Schädliche Auswirkungen waren hingegen umso größer, je jünger die Kinder waren, als sie in die Fremdbetreuung kamen [4, 5].
Nur bei über Dreijährigen konnten positive Auswirkungen auf die Entwicklung festgestellt werden [6].
Eine besorgniserregende Entdeckung war, dass alle gemessenen Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung statistisch nachweisbar schlechter wurden. Dazu gehören eine Zunahme feindseliger und nicht beständiger Erziehungsmuster sowie eine Verschlechterung der Gesundheit und Beziehungsqualität der Eltern. Experten führen dies auf die vermehrte Erschöpfung durch lange Arbeits- und Krippentage zurück.
Betreuung: Ein schier unlösbarer Konflikt?
Eltern und Kinder scheinen dem schier unlösbaren Konflikt zwischen finanzieller Notwendigkeit und den Bindungsbedürfnissen der Kleinkinder nur nach dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“ begegnen zu können. Kinder, die durch toxischen Stress verhaltensauffällig werden, treiben Eltern in die Verzweiflung, die dann mit ständig dysfunktionaleren Erziehungsmethoden reagieren, was dann wiederum zu kindlichen Störungen führt – ein fataler Irrweg.
Dabei treffen die vorliegenden Aussagen über Langzeitfolgen (zu) früher und (zu) langer Krippenbetreuung – ganz unabhängig von den methodischen Grenzen der Untersuchungen – immer nur auf einen Teil der Kinder zu. Die Frage, wann Stress toxisch wird, hier also für die künftige physische und psychische Gesundheit der Krippenkinder von Bedeutung ist, bleibt immer relativ offen – vor allem deshalb, weil die Empfindlichkeit der Kinder gegenüber Stress sehr unterschiedlich ist (und das Ergebnis immer auch durch die vielen anderen Umwelt-Einflüsse auf die kindliche Psyche „verwässert“ wird). Daher hat auch Jay Belsky, der zu den Vätern der NICHD-Studien zählt, in späteren Studien
- sich sehr viel vorsichtiger ausgedrückt und
- das Bild von den Orchideen und Löwenzähnen geschaffen.
Plädoyer für eine zeitversetzte Kita-Einführung zur Förderung der elterlichen Zuwendung und Stressreduktion bei Kleinkindern.
Als Fazit aus all diesen fachwissenschaftlichen Ergebnissen fordert der Autor Rainer Böhm, dass für alle Eltern die Option offenstehen soll, ihr Kind später, also etwa erst mit vier oder fünf Jahren, in eine ergänzende Gruppenbetreuung zu schicken. Für die ersten drei Lebensjahre schlägt Böhm das 18:18-Modell vor: in den ersten 18 Monaten Betreuung durch die Mutter, in den folgenden 18 Monaten Betreuung durch den Vater. Dies ermögliche eine intensive elterliche Zuwendung zum Kind, reduziere die toxische Stressbelastung durch eine zu frühe und zu lange Trennung, sorge für mehr Gerechtigkeit in beruflichen Laufbahnen und eine positive Weiterentwicklung von Rollenmodellen.
Quellenangabe
Außerfamiliäre Betreuung von unter Dreijährigen. Lange „Arbeitstage“ stressen Kleinkinder, Rainer Böhm, Pädiatrie September 2023, Jg. 35, Nr. 51, Sonderheft: Die ersten 1.000 Tage, S. 68-73 inkl. Literaturnachweis
Links zum Thema
Auswirkungen von chronischem Stress in den ersten drei Lebensjahren auf Gehirn und Entwicklung, Rainer Böhm, DGPM Kongress ‐ Berlin 2018
Wenn Augenkontakt stresst
Erziehungsstress beginnt in der Schwangerschaft
Kinder unter 7 verstehen
Risiken der frühkindlichen Fremdbetreuung, Eva Rass, Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Das unerkannte Potenzial verletzlicher Kinder, Lena Stallmach, Neue Zürcher Zeitung, 2010