Mehr als alle anderen Kinder brauchen Frühgeborene - Foto Ramona Heim © Fotolia SZENE: INTENSIVSTATION FÜR FRÜHGEBORENE

Das Leben beginnt mit Schmerz, Lärm, Hektik und quälendem Licht. Der Mutter und des Vaters willkommen heißende Liebe muss ein Frühgeborenes in Form eines sehnsuchtsvollen Blickes annehmen. Das Ringen um den Erhalt der Atmung und die Stabilisierung aller Vitalfunktionen verdrängt jedes warmes Gefühl.

Wenn die Eltern dann endlich zu ihrem winzigen Baby dürfen, steht die Angst zwischen dem Inkubator und dem Elternpaar. Für mich waren diese Momente immer besonders ergreifend, wenn ich dieser stummen, gewaltig angespannten Sehnsucht zuhören durfte.

Damals war ich selber noch nicht Mutter. Ich verstand die Dimension dieser Sehnsucht nur ansatzweise. Dennoch habe ich im Laufe der 10 Jahre meiner Berufserfahrung genau dort, am Bett der Kinder, unglaublich viel über die tiefe Verbindung zwischen Eltern und Kind gelernt.

ANGST ABBAUEN, NÄHE HERSTELLEN

Eine der wichtigsten Aufgaben für uns Pflegenden besteht darin, die Angst abbauen zu helfen und die Interaktion zwischen den Eltern und ihrem Baby zu stärken. Nähe herstellen, Bonding nachholen lassen, so gut es geht.

Was mich besonders faszinierte und in meinem Menschenverständnis weiterbildete, waren die jeweiligen Beziehungsformen der Familienmitglieder untereinander – und deren Folgen! Ich durfte zusehen, wie Winzlinge durch die selbstverständlich – sich schenkende Liebe ihrer Eltern schneller an Gewicht zunahmen, weniger Komplikationen bekamen.

Das verläßliche Da-Sein der Mutter und des Vaters, die innere Zugewandtheit der Eltern, das unbeschreiblich starke innere „Ziehen“ der Eltern ließ ein Baby weniger unruhig sein, weniger ankämpfen, schneller reifen und von den Geräten unabhängig werden.
„Was für ein Wunder“, dachte ich oft. „Und was für ein Geheimnis!“

ES WAR IMMER DIE LIEBE…

Mehr als alle anderen Kinder brauchen Frühgeborene - Foto © Kerstin PukallIch beobachtete auch, wie diejenigen Mütter, die sich von ihrer Angst befreien konnten, mehr Raum für ihre Liebe und Mutterrolle bekamen. Dies machte sie mutiger, was sich wiederum auf das Frühgeborene positiv auswirkte. So eine Mutter schaffte es, ihre Scham beiseite zu legen, um an der offenen Inkubatorklappe ein Gute-Nacht-Lied zu summen. Am Bildschirm des Monitors konnte man dabei schön beobachten, wie der Herzschlag des Babys ruhiger wurde, die Atmung, tiefer und das CO2 besser abgeatmet wurde.

Es war immer die Liebe, die ein Kind früher nachhause holen konnte.
Es war immer die Liebe, welche ein Kind vor Hospitalismus bewahrte.
Es war immer die Liebe, die so manche Krise überwand.

An dieser Stelle möchte ich allen Helden und Heldinnen und deren Eltern dafür danken, dass sie mich teilhaben ließen an ihrem mutigen Weg. Ich habe so unsagbar viel über die Kraft des menschlichen Zugewandt-Seins gelernt. Mit allem Respekt kann ich sagen, dass ich dadurch sehr viel über das Wesen – und die Bestimmung (?) des Menschen gelernt habe.

Denn: Sind wir nicht zur Liebe hin ausgerichtet? Ist es nicht die Liebe allein, welche uns gesund wachsen lässt?

ZUWENDUNG KANN LEBEN RETTEN

Mehr als alle anderen Kinder brauchen Frühgeborene1 - Foto © Kerstin PukallEs ist keineswegs pathetisch, wenn ich behaupte, dass so manche Liebe ein Kind vor dem Verabscheiden aus dem Leben bewahrt hat.
Wenn ein winziger Mensch in eine lebensentscheidende Krise rutscht, ist immer der grund-sätzliche Rat aller Ärzte: „Geben Sie ihrem Baby so viel Zuwendung und Liebe wie sie nur aufbringen können“.

Als ich Mutter wurde, erkannte ich, dass ich sehr wenig davon begriffen hatte, wie tiefgreifend so ein Band zum eigenen Kind ist. Es war für mich von Anfang an klar, dass ich die Hinwendung meines Babys beantworten werde. Es fühlte sich immer nur richtig an, ganz für die Kleine da zu sein.

ZEIT FÜR DIE SIGNALE DES BABYS

Ich durfte erleben, wie klar die Interaktion zwischen einem selbst und dem eigenen Kind werden kann, wenn man sich Zeit nimmt, die Signale zu verstehen. Und dann dem Impuls des Herzens Folge leistet.

Dieses Hoch wurde aber spätestens nach den ersten Lebenswochen getrübt. Viele – für mich unverständliche – Fragen stürmten auf mich ein:

  • wie lange ich bei dem Kind bleiben mochte,
  • wann ich wieder arbeiten gehen wollte,
  • welche Kita ich mir aussuchen sollte,
  • wie ich es schaffen könnte, immer für das Kind da zu sein, ohne selber durchzudrehen.

Und das eigene Leben dürfte ja schließlich nicht aufhören…

ICH BIN BEI MEINEN KINDERN GEBLIEBEN

Ich habe keine Kita gesucht, weil die Sprache meiner Kinder klar geäußert hat, dass die Verlässlichkeit und Zeit, Ruhe und eine sich hinwendende Mutter brauchten, um bei sich selbst bleiben, entspannt die Welt kennen lernen zu können, in dem Wissen, dass sie selbst entscheiden können, ab wann sie von mir wegkrabbeln, und wie lange sie dies aushalten möchten, wenn sie sich entfernen.

Ich habe mein eigenes Leben dabei nicht verloren, wenngleich ich für eine Zeit lang manche Dinge hinten anstellen musste. Ich habe gewonnen – nur gewonnen. Es gibt kaum etwas vergleichbar wertvolle, ab wann man seinen eigenen Kindern die gesündeste Basis für ein gesundes Leben gibt: lieben zu können, weil man sich selber liebt.

Und – ja, mitunter ist es ein knochenharter Job, Mutter zu sein. Aber niemand kündigt seinen Job, nur deswegen weil er hart sein kann. Schon gar nicht den Beruf, Mutter zu sein!

von Bärbel Weygandt

Links zum Thema

„Känguru-Methode“, gut verständliche Beschreibung (Deutsch) der WHO: „Kangaroo Mother Care“

„Kangaroo mother care to reduce morbidity and mortality in low birthweight infants“

Mutter/Eltern-Kind-Bonding: in den Medien oft als „Kuschel-Methode“ verniedlicht, ein Beispiel: „Gesund durch Mamas Nähe“, scinexx-Dossier

„Europäisches Institut für Stillen und Laktation“, Informationen über die Rolle des Stillens

Eine Langzeitstudie zeigt, dass Frühgeborene, die Muttermilch erhielten und im weiteren Verlauf gestillt wurden, im späteren Leben bessere schulische Leistungen, einen höheren IO-Wert und weniger ADHS-Symptome hatten. JAMA Network Open, 2022, doi: 10.1001/jamanetworkopen.2022.21608