Kindheit
Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft
Wie Kinder heranwachsen, ob sie in Geborgenheit ihre Welt erobern können oder aber ohne sichere Bindung und Urvertrauen lernen, Dingen und Menschen zu misstrauen und sich von Ihnen abzukoppeln, prägt ihr gesamtes Leben, hinterlässt tiefe Spuren bis weit ins Erwachsenenalter.
Inzwischen ist das längst eine allgemein akzeptierte, wissenschaftlich nicht mehr bezweifelte Einsicht in die Bedeutung der (frühen) Kindheit. Umso erstaunlicher, dass die notwendigen Konsequenzen aus diesem gesicherten Wissen in der politischen und gesellschaftlichen Umwelt nach wie vor umstritten sind und oft genug ignoriert und hinter anderen Zielen und Wunschvorstellungen zurückgestellt werden.
Einen umfassenden Überblick über diese widersprüchliche Situation, ihre historischen und gesellschaftlichen Gründe und die Ansätze für Lösungen in der Zukunft gibt in dem folgenden Beitrag die Psychoanalytikerin Agatha Israel. Ihr Schwerpunkt in Forschung und Publikationen ist die Psychologie von Frühgeborenen, Säuglingen und der Eltern-Kind-Beziehung. Ausgehend von den wechselnden historischen Bedingungen der Kindheit und von den Erfahrungen mit der staatlich gelenkten Kindererziehung in der DDR blickt sie auf die frühe Kindheit von innen her, da sie in diesem Staat lernte, studierte und die längste Zeit ihres Lebens arbeitete und als Frau, Mutter und Bürgerin lebte. In dieser Beitragsserie hinterfragt sie die möglichen Veränderungen der Persönlichkeits- und Charakterstruktur, die eine frühe Trennung von Eltern und Kind mit sich bringt und wie dies sich auf das Sozialklima der Gegenwart auswirkt.
Lesen Sie, was Kinder für ein glückliches Leben brauchen, was sie zu selbstbewussten, empathischen Mitmenschen macht oder was sie antreibt, egoistisch und aggressiv zu handeln und wie gesellschaftspolitische Maßnahmen es möglich machen könnten, dass Mütter und Väter ganz selbstverständlich und ohne Benachteiligungen und unnötige Opfer für ihr Kind, ihre Kinder, gleichberechtigt Verantwortung tragen können.
von Redaktion fürKinder
Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte
Sobald ein Mensch geboren wird und damit die körperliche Einheit mit seiner Mutter verliert, passt er sich – um zu überleben – mit allen Kräften, die ihm zur Verfügung stehen, an die Welt an. Weil die kindliche Welterfahrung sich anfangs noch sehr begrenzt auf seine unmittelbare Umwelt bezieht, richtet sich seine Anpassung auf deren wichtigste Repräsentanten: Mutter und Vater.
Die Anpassungsbemühungen des Kindes allein reichen jedoch nicht, um sein Überleben zu sichern, es braucht auch eine Umwelt, die sich dem Kind anpasst und auf seine Grundbedürfnisse ausreichend eingeht. Anfangs müssen sie ständig durch die Umwelt entlang der täglichen Versorgung und Pflege, Abwendung von Bedrohung oder Gefahr durch Krankheiten, ausreichende Ernährung und Schutz gestillt werden. Aber das alles reicht nicht aus, wenn die Liebe fehlt.
Es braucht Halt und Verstehen der Erwachsenen, ihre Fähigkeit zu fühlen und zu denken und angemessen zu handeln.
Das ist die Art von Liebe, auf die ein kleines Kind angewiesen ist, um sich entwickeln zu können. Sie wird ihm von den natürlichen Verantwortlichen seinen Eltern (und deren Vertretern) mehr oder weniger genügend gegeben und hat nichts zu tun mit Küsschen geben, erregenden Spielen, Training oder Herausputzen.
Elterliche Liebe zeigt sich in einer suchenden Haltung: Was erlebt und braucht unser Kind jetzt?
Die Erwachsenen müssen ihr Unwissen und ihre Unsicherheit, ein Leben in offenen Fragen aushalten, sich vornehmen: Das Kind und wir müssen die Welt gemeinsam noch einmal neu erschaffen. Das sind die notwendigen Bedingungen für ein Baby, um denken zu lernen. Davon weicht die verbreitete Vorstellung ab „Gute Mütter wissen immer und sofort, was ihre Kinder brauchen“ und „Gute Mütter sind deshalb selbstsicher, zufrieden und ausgeglichen“.
Vom Schmerz sich zu binden
Im Laufe der Menschheitsgeschichte stieg die Chance von Generation zu Generation als Neugeborenes zu überleben. Erst seit dem 20. Jahrhundert jedoch ist die Kindersterblichkeit so niedrig, dass es als Ausnahme gilt, wenn in Europa ein Kind nicht das erste Lebensjahr erreicht. Bis dahin schützten sich Eltern vor dem Schmerz, ihr Kind zu verlieren, indem sie sich an die Kinder weniger banden oder sie in den ersten Lebensjahren an Ammen und Pflegestellen weggaben oder sie ihnen noch keine Menschenwürde, kein menschliches Erleben und Fühlen zustanden, sie eher wie einen Haushaltsgegenstand betrachteten, den man abstoßen kann oder wie Tiere verkaufen kann. In der Antike war der Infantizid (Kindstötung) eine legitime Form, zu viele Kinder loszuwerden. Im römischen Kaiserreich nannte man Familia das Hab und Gut, dazu zählten Immobilien, Vermögen, ebenso Kinder, Tiere und Sklaven.
Das Bild vom Kind
Auch wandelte sich über die Jahrhunderte hinweg der Auftrag der Gesellschaft, den Kinder für Erwachsene zu erfüllen hatten. Im „Bild vom Kind“ transformierte jede Epoche ihr gesellschaftliches Unbewusstes – also das, was nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein dringen sollte – und begründete damit ihre Erziehungsziele und -methoden [1].
Zum Beispiel diente das Kind mit seinen Bedürfnissen im Mittelalter unbewusst als Projektionsort für das Böse in den Erwachsenen, wie Völlerei, Gelüste, Brutalität. Die Erziehungsaufgaben zielten darauf dem Kind „das Böse” auszutreiben und sich selbst dadurch auf diese Weise befreien zu wollen. Oder in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert bedeutete Erziehung, das „leere” Kind mit Wissen anzufüllen. Es ist noch gar nicht lange her, seit man Säuglingen und kleinen Kindern ein eigenes Erleben und Fühlen zubilligt. Dass erst so spät bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum Interesse für die Psyche und das Bindungsbedürfnis von Säuglingen und Kleinkindern bestand, sie kaum als fühlend-denkendes Gegenüber behandelt wurden, hatte mit der hohen Kindersterblichkeit bis zum Ende des 19. Jahrhundert zu tun. Denn der Schmerz, sein Baby zu verlieren ist geringer, wenn man nicht so gebunden ist und im Kind noch eher ein Tierchen oder Engelchen sieht. Das Bild vom Kind bezog sich auf seine „Assozialität” und seine „Sozialisierung durch Erziehung”.
Erst in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts erkannte man, wie Säuglinge auf einen lebendigen Austausch mit den pflegenden Erwachsenen – insbesondere seiner Mutter – angewiesen sind, um nicht zu verkümmern oder zu sterben, dass Säuglinge Beziehung brauchen, um zu überleben und dass Menschen vom Lebensanfang an ein seelisches und körperliches Schmerzempfinden haben [vgl. 2]. (Und dennoch erhielten erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Neugeborene, wenn man sie operieren musste, eine Narkose.) In der 12 Jahre währenden Nazizeit beherrschte das Bild vom „stählernen deutschen Kind” die Erziehung, die körperliche und seelische Schwachheit überwindet [vgl. 3].
Den politisch sowie pädagogisch Verantwortlichen ging es in erster Linie um das „Heranzüchten kerngesunder Körper“, um die Vorarbeit zu soldatischer Kampf- und Opferbereitschaft, dem alle anderen erzieherischen Aspekte untergeordnet waren. Um ein nützliches, tüchtiges und zugleich gut verwendbares Mitglied der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu werden, sollten die Kinder zu den typischen „deutschen (germanischen) Charaktereigenschaften” hin erzogen werden, wie: Anpassungsfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Gehorsam, Fleiß, Verträglichkeit, Ordnungsliebe und Disziplin, Sauberkeit, Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Fügsamkeit und Ehrfurcht gegenüber Autoritäten, Liebe zum Vaterland und seinem Führer, Sparsamkeit, Verzichtbarkeit, Opfersinn, Härte usw. [4]
Ich zitiere diese Erziehungsziele deshalb ausführlicher, weil in beiden deutschen Staaten noch Jahrzehnte später, aber besonders systematisch in der DDR die postulierten Erziehungsziele im Sprachduktus* fast gleich lauteten. Deshalb könnte man davon ausgehen, dass trotz der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in beiden Teilstaaten die Angst vor Bindung, Beziehung und Verletzlichkeit gesellschaftlich unbewusst bleiben sollte.
* Sprachduktus ist ein Ausdruck für die gesprochene oder geschriebene Sprache und bezeichnet den Sprachstil, das Charakteristische einer persönlichen Sprache, d. h. die Art zu sprechen, zu reden, zu schreiben.
Die Sensibilisierung für Bindung, Trennung und Abhängigkeit hat eine relativ junge Geschichte, die bereits wieder zu enden droht, denn der Zeitgeist Ende des 20. Jahrhunderts propagierte:
Alles ist machbar, alles ist ersetzbar, auch Beziehungen sind ersetzbar, austauschbar durch andere Personen oder Dinge. Nötig sind Flexibilität, Mobilität, Anpassung, überschussorientierte Produktivität und Konsum.
Konträr dazu standen die anwachsenden Erkenntnisse über die Beziehungsbedürfnisse vom Lebensanfang an, über die Einmaligkeit der frühen Eltern-Kind-Kommunikation, die das Kind lebenslang körperlich und seelisch prägen. Der gesellschaftliche Alltag machte es Müttern und Vätern schwer für ihre Berufung als Eltern da zu sein: ein individuelles Tempo zu finden, Zuwendung, Verstehen, Geduld, Einüben, also die individuelle Liebe zu geben.
In unserem Jahrhundert existiert ein Bild vom Kind, als einer Person, die Unterstützung braucht und deren vorhandene Anlagen Förderung brauchen. Davon ausgehend wurden Rechte des Kindes gefordert u. a. das Recht auf körperliche Unversehrtheit und besonders ein Recht auf Förderung und Bildung vom Lebensanfang an. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken werden nicht nur von Empathie getragen, sondern bedienen auch Projektionen der Erwachsenen: Im Kind wird die Angst, sich nicht selbst verwirklichen zu können, sich nicht voll entfalten zu können, deponiert. Aber auch die Umkehrung ist anzutreffen: Die existentielle Angst, abhängig zu sein vom Wohlwollen anderer und die Angst vor Nähe, vor Verbindung, Identitätsverlust sobald man sich nahekommt.
Frühe Kindheit: Was erleben und brauchen Kleinstkinder?
Die institutionalisierte Früherziehung in Kinderkrippen, die in der DDR bereits in der dritten Generation zur Tradition gehörte, wurde ab 2012 auch gesetzlich in der vereinten Bundesrepublik eingeführt und veränderte damit die Vorstellung und Praxis der Elternschaft erheblich.
Wir müssen uns fragen, wie ehrlich meint es die Gesellschaft mit dem Recht auf Förderung und Bildung mit der sie die Frühtrennung von den primären Beziehungspersonen rechtfertigt. Geht es wirklich um die Kinder oder geht es um das Schicksal der Eltern? Wie sieht die Unterstützung eines Kleinstkindes aus? Wie lernt ein Baby?
Vielleicht bedient die aktuelle Praxis der Frühbetreuung das gesellschaftliche Unbewusste, die kollektive Verdrängung der Sehnsüchte nach Halt, Geborgenheit und Verbindung? Wird deshalb die Frühtrennung von den Eltern praktiziert, die Verantwortung an Erziehungsexpert:innen abgegeben, das Kind in Gleichaltrigengruppen untergebracht? Selbstverständlich gibt es vordergründig eine plausible Erklärung: Beide Eltern wollen so rasch wie möglich wieder in ihren Beruf zurückkehren, das bisherige Leben wieder aufgreifen, den Lebensstandard halten. Noch nie gab es eine derartig umfangreiche „Kinderindustrie” wie heutzutage, also Lehr- und Sachbücher über Erziehung und Kinderpflege, Kurse, Anleitungen, die sicheres und schmerzarmes Gebären versprechen, technische Hilfsmittel zum Tragen, Beruhigen, Pflegemittel, Bekleidung, Ernährungsprodukte. Kinder sollen mit allen Mitteln zufrieden, glücklich, abgesättigt, schmerzfrei, ausgeglichen gemacht werden. Eltern gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ein Baby von ihnen erwartet, „bespielt” zu werden.
Selbstverständlich wollen Eltern, die sich all dieser Dinge bedienen, damit das Beste für ihr Kind bewirken. Aber zugleich spalten sie einen Teil der Realität ab, der unweigerlich zum Menschsein gehört:
Ständig schwingen wir zwischen unterschiedlichen Daseinszuständen: wie müde-wach, hungrig-satt, sicher-bedroht, schwach-stark, aktiv-passiv, lieben-hassen usw., so wie jede Körperzelle ebenfalls pulsiert zwischen Wachsen und Altern.
Das Bewusstsein fehlt, dass diese Polarisierungen unser Leben ausmachen. Wenn aber ein schmerzfreier Dauerzustand der Befriedigung als „normal” propagiert wird, dann darf es unsichere Eltern, unzufriedene Babys nicht geben, ebenso darf keine Ungewissheit darüber aufkommen: Was erlebt mein Kind?
Ratgeber und Experten mit ihren klaren Antworten, Minutenangaben, wie lange man ein Baby mindestens halten soll und ähnliches, scheinen besser befähigt. Eltern und Angehörige verlassen sich nicht oder wenig auf ihr Fühlen und Denken, auf ihre Intuitionen und vergessen ihre einmalig prägende Beziehung.
Erziehungskonzepte verstehen
Der Aufbau des Krippensystems in der DDR war eine der wirkmächtigsten sozialpolitischen Maßnahmen der DDR-Regierung, die eine radikale Veränderung der frühen Kindheit nach sich zog, die in erster Linie den Müttern zu Gute kommen sollte. Babys konnten nach Ablauf des Mutterschutzes, also anfangs nach der 6. dann 12. Lebenswoche und schließlich ab 1986 ab dem 12. Lebensmonat – für ein minimales Entgelt – in der Krippe betreut werden. Diese Möglichkeit nahmen immer mehr Eltern in Anspruch – 1989 wurden ca 80 % der Null- bis Dreijährigen in der Krippe betreut, weil sie nicht nur zur möglichst frühzeitigen Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit genötigt wurden, sondern viele es auch selbst wollten. An der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, was Haushalt und Kinderbetreuung anbelangte, änderte sich in diesem Zusammenhang wenig.
Krippenbetreuung und Frühtrennung gehörte zur Normalität der frühen Kindheit in der DDR. Aber die überwiegende Mehrheit der Eltern übergab ihre Kinder nicht mit der Überzeugung in die Institution, dass dies ein besserer Ort als die Familie sei, sondern weil sie meinten, es tun zu müssen und weil es so üblich war. Bei einer Arbeitszeit von 8 ¾ Std. ging es um tägliche Trennungszeiten bis zu 10 Std., abhängig vom Arbeitsweg. Das Erziehungsprogramm sollte „das theoretische Rüstzeug für die erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens schaffen“. Es wurde zwischen 1963 und 1967 unter der Federführung der Leiterin des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters der DDR, Eva Schmidt-Kolmer, ausgearbeitet. Das Institut unterstand direkt dem Ministerium für Gesundheitswesen. Das Erziehungsprogramm erfuhr zwischen 1970 und 1974 eine immer minutiösere Ausgestaltung, so dass man von einem zeitlich straff durchgeplanten Krippenalltag und einer programmierten Erziehung sprechen muss [5].
Die Gleichschaltung von Familie und Institution
Mittels Entwicklungsbögen wurden die Ergebnisse der Erziehungsarbeit – gegliedert nach Sachgebieten – genau kontrolliert. So wurde in einem „Merkblatt zum Beschäftigungsplan“ festgehalten, ob das Kind sein Wochenziel erreichte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Anwesenheit des Kindes überprüft, um sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendigen Übungen absolvierten.
In den Krippen lebten die Kleinstkinder in überfüllten Gruppen – das konnten zwanzig und mehr Kinder sein, vorgesehen waren Gruppengrößen von 8 bis 10 Kindern, weil es an Erzieherinnen mangelte. So gehörten unruhige oder weinende Kinder zum Krippenalltag. Entsprechend groß war der Druck zur Anpassung und Unterordnung [6]. Aber das Erziehunsgkonzept/-programm sah auch gar keine andere Entwicklung vor, denn das gesellschaftliche „Bild vom Kind” basierte auf den Vorstellungen:
Heranwachsende sind werdende Erwachsene. Sie sind nahezu grenzenlos formbare Rezipienten einer programmierten Erziehung. Sie sind zu füllen. Sie haben sich vor allem Fähigkeiten anzueignen, die die sozialistische Persönlichkeit ausmachen: mit rational-bewussten, gesellschaftsverpflichtenden, angepassten Verhalten.
Familie und Erziehungsinstitution sollten gleichsinnig funktionieren. Dafür wurde eine „einheitliche, geschlossene Erzieherfront“ geschaffen, die die „sozialistische Familienerziehung“ in eine politisch-ideologische Zielharmonie mit der gesellschaftlichen Erziehung bringen sollte [vgl. 7, 8, vgl. 9].
Entsprechend hatten sich die Eltern den Forderungen und dem Entwicklungstempo der Krippe unterzuordnen. Wünsche nach besonderer Zuwendung wurden als Extravaganzen: „Es will nur auf sich aufmerksam machen, aus der Reihe tanzen” abgelehnt.
Aus dem gesellschaftlich Bewussten wurde die Sehnsucht nach Individualität, Freiheit und Verbindung verdrängt oder abgespalten und den Kindern unterstellt, sie müssten dringend Einordnung, Gehorsam, Anpassung erlernen und dass eine Frühtrennung zum Leben dazugehört.
In den 70er-Jahren hatten die vorgegebenen Lebensstrukturen in der DDR ihr Höchstmaß an Konformität (Gleichschaltung) erreicht. Dazu gehörte auch die programmierte Früherziehung in den Kinderkrippen. Die Bedürfnisse des Einzelnen waren den Normen der Gruppe untergeordnet. Die Normen sollten die ideologisch erwünschten Erziehungsziele auch gegen die Interessen und Widerstände des Einzelnen durchsetzen. Merkmale der schwarzen Pädagogik sind hier nicht zu übersehen und setzten sich in der Schule, im Hort, den Massenverbänden der (jungen) Pioniere und Freien Deutschen Jugend u. Ä. im weiteren Lebensalter fort. So vollzog sich von frühester Kindheit bis in das Erwachsenenalter das Leben überwiegend in hierarchisch strukturierten Klein- und Großgruppen nach dem Modell: Führer – Geführter, Rede ohne Gegenrede.
Auch Feste, Feiern und kreative Gestaltungen lenkte und leitete die Erzieherin; Spontanität und Eigensinn hatten kaum einen Raum. Es wäre aber verfälschend, wenn nicht auch fröhliche und unbeschwerte Situationen genannt würden, wie Spaß beim freien Spielen und Toben, als sei die Krippe nur ein düsterer Ort gewesen.
Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils
Mit der Akzeptanz der vorgegebenen Bevormundungsstruktur entfernte sich die DDR-Gesellschaft in ihrem unbewussten Selbstverständnis immer weiter von ihrer ursprünglichen Abkehr von den totalitären Verhältnissen der Nazizeit, deren Untaten durch Schweigen, Wegsehen, Mitläufertum und Stumpfheit gegen das Schicksal der anderen, von den normalen Bürgern mitgetragen worden waren. Es eröffnete sich ein (unbewusster) Konflikt, den Einzelne fühlten, der jedoch kaum gedacht und selten öffentlich diskutiert werden konnte:
Die Erziehungspraxis mit autoritären Strategien und Methoden von früher Kindheit an Mündigkeit, Empathie, Verantwortung „anerziehen” zu wollen, behinderte die Entfaltung gerade dieser Fähigkeiten. Denn ein entmündigtes Kind entwickelt eher gegenteilige Eigenschaften, wie „Passivität, Duckmäusertum, Heuchelei, aber auch Aggressivität“. [10]
So beförderte die Erziehungs- und Sozialpolitik der DDR die unbewusst bleibende Wiederkehr des Verdrängten.
Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis:
- Abrupte Trennung des Babys von seinen Eltern; in den 80er-Jahren dann stundenweise gestufte Eingewöhnung, aber „ohne” Mutter/Vater.
- Trennungsschmerz und Trennungsangst, die daraus entstandene Verwirrung des Kindes, seine Unfähigkeit zu spielen, werden weitestgehend ignoriert, das Kind alleine gelassen: „Es wird schon”.
- Zu große Gruppen Gleichaltriger, weil zu wenig Erwachsene für zu viele Kinder mit ihren gleichgerichtetem Interessen und Bedürfnissen zur Verfügung stehen, fehlt es dem einzelnen Kind an Hilfe und Aufmerksamkeit, dagegen Abfertigung in Eile beim Füttern oder An- und Ausziehen u. Ä., Kommandoton und harter Griff.
- Gleiches Tempo für alle Kinder wird bei den alltäglichen Verrichtungen vorgegeben und ohne Rücksicht auf das individuelle Tempo erwartet.
- Gruppennorm ist übergeordnet, Einordnung und Konformität werden belohnt, ein Dialog fehlt.
- Programmierte Erziehung: Das Lernen wird vom Erwachsenen gelenkt, geleitet und kontrolliert.
- Erziehung vermittelt Staatstreue: Verbreitung ideologischer Inhalte, Werte und Ängste im Freund-Feind-Bild.
- Die familialen und institutionellen Erziehungsziele sind weitestgehend gleichgeschaltet. Die Familie unterstützt die gesellschaftlich erwünschten Charakterstrukturen hinsichtlich Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Respekt vor dem Erwachsenen, der immer Recht hat.
Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis:
Meines Erachtens war (und ist) die Verweigerung der Empathie der Eltern und Erwachsenen gegenüber dem Baby der einschneidende Eingriff in die Entwicklung der Kinder.
Der Säugling musste die tägliche Trennung von seinen Eltern erleben. Wenn den damit verbundenen Trennungsschmerzen, Trennungsängsten, Bedrohungserleben der Trost versagt bleibt, das Mitgefühl verweigert wird, wirkt es seelisch vernichtend: „was willst du denn, hab` Dich nicht so, da muss man durch”, insbesondere dann, wenn Eltern und Erzieher sich gleichermaßen verhalten.
Denn den Kindern wird nicht nur ihre Not und Ängste an die Erwachsenen zu übergeben verwehrt, sondern sie fühlen sich auch „falsch” in ihrem Erleben, ohne zu verstehen weshalb und das ist für sie verwirrend.
Weil sie so wie die Erwachsenen noch nicht nachdenken können, sind sie darauf angewiesen, dass diese ihm übersetzen, den Sinn für das kindliche Befinden zu suchen.
Geschieht dies nicht, verbleibt das Kind in seinen existentiellen Ängsten, wird überflutet von seinen rohen körperlichen und seelischen Zuständen und fühlt sich bedroht. Die bleiben nicht mentalisiert im Körperstress verankert, führen zu geschwächter Immunlage oder primitiven Reaktionen wie sogenannten „Impulsdurchbrüchen” [11].
Für weniger nachhaltig wirkend und schädlich halte ich die ideologischen Einwirkungen also Geschichten, Lieder und Gedichte vom Klassenfeind und der wehrhaften Armee, den guten Sowjetsoldaten, der fürsorglichen Regierung und Appelle zum Fleißig sein, weil davon die unmittelbare Erlebniswelt des Kindes kaum betroffen war, wenngleich nach der Wende dieser Aspekt der Früherziehung von westdeutschen Kleinkindpädagogen besonders unter die Lupe genommen wurde.
Gewiss hat aber eine weniger spektakuläre Praxis die Persönlichkeitsentfaltung beeinflusst: der Zwang zur Konformität, der fast den ganzen Krippentag der Kleinstkinder durchzog, besonders das tägliche Warten müssen beim Füttern, Windeln, Anziehen, das Schlange stehen und Stillhalten, das Gleichmaß.
Das „liebste” Kind war das brave, welches sich am besten anpasste. Das „böse” Kind wurde bestraft.
Windeln ins Gesicht schlagen, wenn es mit dem Toilettengang nicht klappte, in der Ecke stehen, wenn es nicht schlafen oder Zwang, wenn es nicht essen wollte, waren keine Seltenheit. Jenseits solcher deutlichen Auffälligkeiten fielen im körperlichen Ausdruck der Kitakinder in der DDR ihre Unruhe auf, wobei sie zugleich wenig ausholende Bewegungen ausübten; eher waren die Arme eng am Körper, die Schulter angezogen, der Kopf leicht geneigt, das Gesicht blass, vermutlich ein unbewusster kollektiver Ausdruck früher Ängste.
Prägende Kindheitserfahrungen
Die Erfahrungen in der frühen Kindheit wirken sich auf die nächste Generation aus, indem sie unbewusst weitergegeben werden.
Vor dem Hintergrund des Erziehungskonzeptes in der DDR müssen wir davon ausgehen, dass in ihrer frühen Kindheit für mindestens zwei, eher drei Generationen Familienzeit und individuelle Zuwendung gering waren, so dass wesentliche zwischenmenschliche Erfahrungsmöglichkeiten wenig oder kaum entstanden.
„Es bedarf spezifischer Kindheitserfahrungen, um spezifische Merkmale einer Kultur aufrechtzuerhalten; sobald die betreffenden Erfahrungen fehlen, verschwindet auch das entsprechend kulturelle Merkmal.” [12]
Es sind die basalen Erfahrungen, die das Kind mit einem verstehenden verantwortlichen Anderen macht, dem es sein Erleben übergeben kann, während seiner ständig wechselnden Befindlichkeit und Körperzuständen und den damit verbundenen Affekten und hormonellen Ausschüttungen.
Bis ein Kind selbst denken kann, muss ein Anderer sich einfühlen und übersetzen, fragen: „Was ist mit dem Kind?” und danach handeln.
Diese Erfahrungen bilden die unbewussten Phantasien oder anders gesagt, sie prägen die unbewussten Motive und Einstellungen und auch unsere Beziehungen zu anderen. Diese basalen Erfahrungen stellen die Weichen, ob wir uns hoffnungsvoll oder resigniert, ständig bedroht, in Verteidigung oder aufgehoben-sicher fühlen, ob wir uns impulsiv oder überlegt-reflektierend verhalten können. Weil ein Kind diesen Anderen erkennen „will”, entwickeln sich aus dem laufenden Dialog mit ihm das Denken, Intelligenz, erste Arbeitsmodelle über den Anderen und sich selbst.
Eltern und Kind befinden sich in ihrem Austausch, wie in einem Übergangsraum oder zwischenmenschlichen Bedeutungsraum, in dem die Welt gemeinsam entdeckt und Gefühle, Handlungen, Absichten des Anderen intuitiv verstanden werden.
Wie bereits erwähnt, begründet jede Epoche mit ihrem jeweiligen Bild vom Kind die Erziehungspraktiken und Erziehungsziele. Über die gesellschaftlich favorisierten Erziehungspraktiken werden ausgewählte Erfahrungen weiter gegeben an die nächste Generation.
Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht
Wir bringen zwar genetisch verankerte körperliche Voraussetzungen mit, aber sie müssen erst durch den „individuellen Eltern-Kind-Dialog”, ebenso durch sanfte körperliche Berührungen aktiviert werden: Die „Spiegelneuronen”, die in Regionen der Hirnrinde angesiedelt sind, sind eine der wesentlichen körperlichen Voraussetzungen für unsere Empathiefähigkeit, des Weiteren das „zentrale Belohnungssystem”, genauer Motivationssystem, eine Verbindung verschiedener Hirnstrukturen (sogenanntes mesocortikolimbisches System), das aktiv wird, wenn wir etwas Erfreuliches vorausahnen [13]. Der Überträgerstoff ist das Dopamin und des Weiteren der Botenstoff Oxytocin (gebildet im Hypothalamus), der stressmindernd, vertrauensbildend wirkt, Einfühlungsvermögen und Anteilnahme erhöht. Das geschieht vermehrt unter der Geburt, beim Stillen und Nuckeln, durch sanftes Streicheln.
Indirekt senkt Oxytocin den Cortisolspiegel und bahnt dadurch den Weg für differenziertes Fühlen und Nachdenken.
Alles zusammen macht das (Einfühlungs-)Vermögen aus, intuitive Vorstellungen und „vertrauensbildende” Gewissheiten über die Gefühle und Absichten eines anderen Menschen zu gewinnen, also die Fähigkeit zu einer Theorie of Mind.
Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln
Neben der Frühtrennung und dem damit verbunden Mangel an individueller Zuwendung gilt zu beachten, dass es in der DDR-Krippe und im Erziehungsprogramm um Gleichschaltung und Anpassung ging.
Die Art der Erziehung nach dem Erziehungsprogramm beförderte Konkurrenzsituationen, die – wie wir jetzt wissen – das emotionale Lernen und die naturgegebene Fähigkeit zum Altruismus ausbremsen.
Kinder, die mit Süßigkeiten, Spielsachen, Belobigungspunkten oder Geld belohnt werden, lassen sich zu Leistungen anfeuern, aber sie sind anderen Kindern gegenüber weniger großzügig und distanzierter, weniger kreativ, bieten weniger Lösungen an.
Wenn aus Kindern Eltern werden
So beklagen viele Eltern, die in der DDR groß geworden sind, Langeweile, Leere auch fehlendes Verständnis für die Äußerungen ihres Kindes. Sie könnten sich „einfach nicht einfühlen, selbst wenn wir uns Mühe geben“. Sie sprechen von Gereiztheit, weil sie sich durch das kleine Kind „angegriffen oder tyrannisiert“ fühlen, können nicht verstehen: „Was es denn noch will“. Sie erwarten Rücksicht und setzen eine Einsichtsfähigkeit voraus – „Immer wieder erklären wir es ihm doch“, die Kleinstkinder einfach noch nicht haben können. Manche leiden darunter, manche beschweren sich, manche begründen damit, weshalb sie ihr Baby so früh als möglich in die Hände von Expert:innen geben.
Frühe Trennungen in der Kindheit – eine gesellschaftliche Norm
Obwohl die Phase noch nicht lange währt, in der sich Eltern um Bindung bemühen, sich intensiver auf das Erleben ihrer Kinder einlassen wollen, sie als Person und Gegenüber respektieren, haben sich in der Moderne die Elternliebe und die Gestaltung der ersten Lebensjahre erheblich verändert, weil die frühe institutionalisierte Erziehung und damit verbundene Frühtrennung der Kleinstkinder von ihren Eltern zur gesellschaftlichen Norm gehören.
Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern
Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern baute auf die primäre Bindung an die natürliche Autorität und Intuition der Eltern, also an diejenigen, die für das Kind verantwortlich sind, ohne dass wir darüber nachdachten. Er ist/war im wahrsten Sinne des Wortes eingewoben in unsere Vorstellungen über das Menschsein, existierte innerhalb unserer Kultur immer unsichtbar. Die „Notwendigkeit“ früher Fremdbetreuung, die zunehmend selbstverständlich als zum Aufwachsen gehörend angesehen wird, geht primär nicht von den Bedürfnissen der Kleinkinder aus.
Der kanadische Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher Gordon Neufeld betont, wenn wir in unserer postindustriellen Gesellschaft mit ihren Erziehungs- und Bildungsmodellen diesen Kontext nun verlassen, weil wir Säuglinge und Kleinstkinder vorzeitig von ihren primären Bezugspersonen trennen – egal ob sie gut oder böse waren, vollzieht sich unbemerkt ein Wandel, dessen Folgen wir noch nicht abschätzen können. Diesen Umstand sollten wir uns unbedingt vergegenwärtigen, um seine „Normalität“ angemessen beleuchten zu können.
Die Entscheidung, wie viel Zeit eine Gesellschaft den Kindern gewährt, sich so an ihre Eltern zu binden, dass sie im Dialog mit ihnen ein inneres primäres Objekt aufbauen, um sich selbst und die Welt kennen zu lernen, wird bestimmt durch die kulturellen Maßstäbe und den Lebensstandard.
Selbst wenn heutzutage deutlich günstigere und kindorientiertere Bedingungen den Krippenalltag prägen, müssen wir uns darüber klar sein, dass sich die Kinder aus der Bindung mit den „primären Bezugspersonen“ etwas zurückziehen müssen, also ihre Eltern dementsprechend weniger „besetzen“, um die neue Realität bewältigen zu können. In diesem Zusammenhang müssen wir annehmen, dass den „sekundären Bezugspersonen“ für die Entfaltung der inneren Welt ebenfalls eine prägende Rolle zukommt. Inwieweit das Kind seine primären Erfahrungen mit den Erzieher:innen fortführen und erweitern kann oder ob es zu Brüchen, zu äußerer Anpassung kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Der Bindungsforscher Richard Bowlby (Sohn von John Bowlby) meint:
Es „müssen sich Fachleute Sorgen machen, dass in vergleichbarer Weise, wenn auch weniger traumatisch und sehr viel schwerer nachweisbar, Säuglinge und Kleinkinder analoge Entwicklungsbeeinträchtigungen (wie Pflege- und Heimkinder) erleiden, weil sie an jedem Arbeitstag für viele Stunden in Gruppen Fremdbetreuung untergebracht sind. Diese Probleme scheinen besonders ausgeprägt für Kinder im Alter zwischen 6 und 30 Monaten zu sein, sobald sie von fremden Menschen anstatt von einer Bezugsperson, die sie gut kennen und der sie vertrauen, versorgt werden. Meine Überzeugung wächst, und wird von vielen im Gesundheitswesen geteilt, dass daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten vielleicht nur die Spitze eines Eisbergs sind, und dem Ganzen verbreitete, unterschwellige psychische Störungen zugrunde liegen, die die zukünftige emotionale Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und das spätere seelische Gleichgewicht von Kindern beeinflussen“ [14].
Der stille Kontextwandel der Erziehung
Dass frühe Fremdbetreuung zum „normalen“ Aufwachsen dazugehört, müssen wir als Ausdruck einer veränderten Auffassung über Elternschaft deuten, die zugleich im selbstverstärkenden Sinne das Elternsein verändert. Man könnte von einem Kontextwandel sprechen, der sich in der DDR bereits vollzogen hatte:
Für die Kindererziehung stehen primär nicht mehr natürliche Beziehungspersonen in der Verantwortung, sondern Institutionen und Experten.
2019 besuchten in Deutschland 35 % der Kinder unter drei Jahren eine Krippe, im ehemaligen Ostdeutschland waren es durchschnittlich 52 % und ginge es nach dem Wunsch der Eltern im ganzen Land, würden es 60 % gewesen sein [Statistisches Bundesamt Destatis 1.3.2019]. In Zahlen ausgedrückt wurden 829.200 Kinder (unter 3 Jahren) fremdbetreut. Gegenüber dem Vorjahr 2019 waren es im März 2020 bereits 10.700 Kinder mehr und der Trend ist steigend. Frühe Fremdbetreuung ist also weder ein Einzelfall, noch findet sie gegen den Willen der Eltern statt. Kinderkrippen können Kinder bereits ab drei Monaten in ihre Obhut nehmen. Lieber haben es die Erzieher jedoch, wenn frühestens ab einem halben Jahr das Kind in die Gruppe kommt.
Die Situation der Eltern
Die meisten Eltern geben ihre Kinder nach dem ersten Geburtstag in die Krippe. Dann endet das regulär bezahlte Elternjahr und vor allem die Mütter der Kleinen suchen neben dem finanziellen Aspekt der Erwerbstätigkeit wieder Anschluss im Berufsleben. Für viele Arbeitnehmer hieße eine dreijährige Pause einen Karriereknick oder nach der Rückkehr ins Arbeitsleben gleich die fristgemäße Kündigung zu erhalten. Unter diesem Blickwinkel streben viele Eltern wieder das Berufsleben an. Möglich ist dies oft nur durch einen Krippenplatz für das Jüngste.
Die Situation in den Krippen
Die einzigen zwei größer angelegten Studien, die es in den vergangenen Jahren über die Qualität in deutschen Kitas gibt, offenbarten alarmierende Missstände: Schon bevor der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab einem Jahr umgesetzt wurde, stellte die Nationale Untersuchung zur Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit [NUBBEK 2015] fest, dass lediglich 3,2 % der Kitas für unter 3-Jährige einen guten bis sehr guten Qualitätsstandard aufwiesen [15]. Die DKLK-Studien 2019 und 2020 bezeichneten die Personalsituation in deutschen Kitas als dramatisch, Mehr als 90 % mussten in den vergangenen 12 Monaten zumindest zeitweise mit einer bedenklichen Personalunterdeckung arbeiten, sodass die Aufsichtspflicht nicht mehr gewährleistet war [16].
Ein Großteil der Erzieher:innen arbeiteten an ihrer Belastungsgrenze [17]. In dieser Situation verbrachten und verbringen Babys und Kleinkinder viel Zeit – häufig acht Stunden und mehr – in zu großen Gruppen mit häufig wechselnden Erzieher:innen. Die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation bei unter 3-Jährigen in den letzten beiden Jahren war bei weit über 90 % schlechter als die wissenschaftlich geforderte Zielgröße von 1:3. Insgesamt verschärfte sich der Fachkräftemangel in der Frühpädagogik im letzten Jahr weiter [18]. Aber wissenschaftliche Studien zeigen:
Eine feinfühlige, verlässliche Beziehung zwischen Erzieher:in und Kind ist der zentrale Faktor für eine gute Betreuungsqualität.
Aus entwicklungspsychologischen Gründen ist es daher notwendig, dass die Fachkraft-Kind-Relation von 1:3 für Kinder unter 3 Jahren nicht überschritten und möglichst ohne Betreuerwechsel bei einer Gruppengröße von 6 höchstens 8 Kindern gewährleistet wird [19, 20, 21].
Die Situation der Erzieher:innen
Die grundsätzliche Problematik des Fachkräftemangels wurde in den letzten Jahren vor allem durch die rasche Erweiterung der Krippenplätze, aber auch durch vergleichsweise geringe Bezahlung und anhaltenden Stress am Arbeitsplatz verursacht. Der hohe Krankenstand, die große Fluktuation und das häufige Aufgeben des Berufs sprechen für sich.
Bisher gibt es keine verlässliche Perspektive für eine Lösung des massiven Mangels an Erzieher:innen.
Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit der TU Dortmund wird es bis 2025, selbst ohne Qualitätsverbesserungen, voraussichtlich eine Personallücke von insgesamt fast 330.000 Erzieher:innen geben. Wenn Qualitätsverbesserungen eingerechnet werden, wäre es sogar eine Personallücke von insgesamt ca. 600.000 ErzieherInnen. [22]
Wörtlich heißt es in der Studie: „(…) Es wären fast genauso viele, wie es heute schon gibt (…) eine Größenordnung, die unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht wirklich vorstellbar ist.” Die Wirkung des Gute-Kita-Gesetzes wird von den Kita-Leitungen als kritisch bewertet, weil oft falsche Prioritäten gesetzt würden. Für die Mehrheit ist das Gute-Kita-Gesetz nur „ein Tropfen auf den heißen Stein” [23]. Aufgrund des Personalmangels mussten u. a. 75 % der Befragten 2019 auf Fort- und Weiterbildung verzichten.
Eine gute Qualität in Krippen hängt hauptsächlich von einer verlässlichen, bedürfnisorientierten Begleitung der Kinder durch die Erzieher:innen ab. Unbenommen ihrer pädagogischen Kompetenz, wie der Fähigkeit zu Empathie, Geduld, Übersetzung der kindlichen Sprache, sind die Erzieher:innen auf Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen ermöglichen, sich sowohl auf einzelne Kinder als auch auf die Gruppe zu konzentrieren.
Sie müssen Zeit und Raum haben, die Kinder kennenzulernen und sich ihnen individuell zuwenden zu können. Nur so sind sie fähig, die Stress-Signale des Kindes zu erkennen und diese möglichst zeitnah und angemessen zu regulieren.
Dies ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kaum möglich.
Von außen ist die Qualität der pädagogischen Arbeit für Eltern nicht einfach zu beurteilen z. B. ob das Kind als Persönlichkeit wahrgenommen und individuell auf seine Bedürfnisse und Emotionen eingegangen wird.
Szenen aus dem Krippenalltag
Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen?
Da die außerfamiliäre Betreuung so selbstverständlich geworden ist, wird nicht bedacht, dass die „Notwendigkeit” früher Fremdbetreuung nicht von den Kindern ausgeht.
Ebenso wenig wird gefragt, ob und wie die Fremdbetreuung als vereinheitlichender Teil der Frühsozialisation unserer Kinder, in ihnen (und künftigen Erwachsenen) einen kollektiven „Wandel einiger Persönlichkeitseigenschaften” nach sich ziehen könnte. Ich meine damit „Grundeigenschaften der Persönlichkeit”, die durch die mit dem Krippenalltag verbundenen Lebensbedingungen und Forderungen „unausweichlich” eingeschränkt oder gefördert werden.
Ich vermute, dass sich die „innere Fähigkeit mindert“, sich auf verbindliche Bezogenheit und Trennung mit allen damit verbundenen Gefühlen und Umständen einlassen zu können, ohne sich bedroht oder ohnmächtig zu fühlen, hoffnungsvoll zu bleiben, statt aggressiv zu agieren oder psychosomatische Symptome zu entwickeln.
Dagegen könnten die sozialen Anforderungen an die Kleinstkinder ihre „innere Motivation bestärken“, autark sein zu wollen, sich flexibel anzupassen, sich Gleichaltrigengruppen anzuschließen, sich letztlich weniger auf Menschen zu verlassen, als sich an materielle Dinge, an Besitz zu binden.
Solcherart Veränderungen fallen im Kleinkindalter nicht auf. Im Gegenteil, sie sind ein unbewusstes Rüstzeug sich als Erwachsener zu bewähren. Aber vermutlich können sie das soziale „Klima einer Gesellschaft“ verändern:
- „Verbindlichkeit von Beziehungen“, gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Bezogenheit weicht der Unverbindlichkeit, Austauschbarkeit sowohl in Partnerschaften, als in Sozialbeziehungen, als am Arbeitsplatz.
Die moderne Arbeitswelt verlangt vom Arbeitnehmer Flexibilität und Mobilität, sie vernachlässigt Routine und die Bedürfnisse von Familie und Kindern, die nicht beliebig mobil sein können, so dass nicht selten „familiäre oder persönliche Beziehungen zerstört“ werden. Beschäftigte müssen sich hin und her schieben lassen, z. B. in Zeitverträgen. Verantwortung, Treue, Selbstgestaltung sind wenig gefragt, dagegen eine möglichst „widerspruchslose Anpassung“.
- Das „Gewahr werden von Alleinsein, Getrenntsein“ und damit verbundener Sehnsucht nach einem intimen Kontakt und Austausch wird ausgelöscht durch materielle Dinge ersetzt, deren Verfügbarkeit sich absolut kontrollieren lässt.
Virtuelle Beziehungen im Internet, Dauertelefonate, online sein etc. dienen der Abwehr wahrzunehmen und zu erkennen, dass Alleinsein zwar aushaltbar, schwer erträglich ist, ohne in Aggression oder Ohnmachtsgefühle zu verfallen ist.
- Selbstregulations-/Affektregulations- und Kommunikationsfähigkeit sind jedoch basale Voraussetzungen für das emotionale und intellektuelle Lernen. Frühe Förder- und Bildungsprogramme sind angewiesen auf diese basalen Fähigkeiten. Sie entfalten sich im ko-konstruktiven Wechselspiel mit der Mutter (und dem Vater) entlang von Interaktionszyklen. Man kann es nicht oft genug betonen: Für diese Entwicklung brauchen Kinder und Eltern ausreichend Zeit besonders in den ersten Lebensjahren. Ein Aufenthalt in der Kinderkrippe kann diese überwiegend dyadischen* Lernerfahrungen nicht bieten.* Dyade bezeichnet eine intensive soziale Beziehung zweier Personen.
- Der sekundäre Narzissmus, also der (unbewusste) Wunsch nach Bestätigung, großen Effekten, Bewunderung nimmt zu, da es an früher affektiver Spiegelung mangelte und der primäre Narzissmus (echte Selbstliebe) nicht ausreichend befriedigt wurde. Weil echte Selbstliebe Fürsorge, Mitgefühl und Besorgnis für andere impliziert, müssen wir mit einer abnehmenden Bereitschaft rechnen, sich anderen rücksichtsvoll zuzuwenden. Es wird kälter zwischen den Menschen.
- Angesichts der zunehmend vorgegebenen, vereinheitlichenden Lebensformen nimmt die „Vielfalt möglicher Lebensformen” ab. Die Toleranz gegenüber der Vielfalt besteht nur scheinbar, weil es sich eher um Gleichgültigkeit, Desinteresse handelt.
Wir treffen auch auf „augenfällige Störungen”, also emotionale und soziale Auffälligkeiten und Pathologien, auf die auch verschiedene Langzeit-Studien hinweisen [24, 25, 27]. Ich denke an Impulsdurchbrüche, Vorherrschen von Bedrohungsgefühlen (sich angegriffen – verfolgt fühlen) und daraus entstehende primitive Ängste und Affekte wie Wut, Panik in Stresssituationen oder bei Konflikten sowie an aggressive Gespanntheit. Ich denke an motorische Unruhe und mangelnde Zentrierung in Anforderungssituationen, wie sie die Schule bietet.
Allen diesen Auffälligkeiten ist gemeinsam, dass sie an eine primitive körperliche Ebene gebunden sind und nicht „gedacht“ werden können. Anders gesagt, die Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein lösungsorientiertes Stressmanagement sind geschwächt.
Im Zusammenhang mit dem Kontextwandel, wäre eine weitere Frage zu stellen: Was treibt die Promotoren der frühen institutionellen Fremdbetreuung an und was erhoffen sich die Eltern davon, trotz vieler Zweifel, so früh ihr Kind fremden Einflüssen zu überlassen? Diese Frage sollte uns unabhängig davon, wie schlecht oder gut die Qualität der frühen Fremdbetreuung ist, beschäftigen. Denn derzeit können wir angesichts des katastrophalen Personalmangels nur sagen: Was tun wir den Kindern an? Wieso beschädigen wir derartig die nachfolgende Generation, die in Zukunft die Verantwortung für uns und die Welt tragen wird?
Stimmen der Eltern
Eltern äußern sich nicht gleichgültig, hart oder kalt. Aber sind sie wirklich davon überzeugt, wofür sie sich entschieden haben und was sie tun?
Die Paradoxie der Erziehung
„Die Familien” befinden sich in einer paradoxen Situation. Einerseits gewähren Mütter und Väter den Kindern in den ersten 12 Lebensmonaten weitestgehend, was sie brauchen. Gleichzeitig sehnen sich viele Eltern regelrecht nach der Krippenaufnahme, weil sie die Abhängigkeit und Kleinheit des Kindes als bedrohlichen Zustand erleben. Andererseits wollen sie die Bedürfnisse des Kindes bis zur Selbstverleugnung befriedigen, nicht zuletzt, weil sie die frühe Elternschaft mit ihren eigenen, inneren, unbewussten Säuglingserfahrungen in Kontakt bringt.
So reagieren bei der Geburt ihrer eigenen Kinder ehemalige Krippenkinder häufiger und schwerer als in der Fachliteratur angegeben, mit psychischen, psychosomatischen und somatischen Störungen. Dadurch war es ihnen dann auch schwerer möglich, sich empathisch auf ihr Baby einzulassen. [28]
Mit der frühen Fremdbetreuung entziehen sich die Eltern weitgehend ihrer natürlichen Bedeutung ab dem 12. Lebensmonat. Man könnte auch sagen, sie verlieren ihre Autorität, da sie sich aus der Betreuung ihrer Kinder zurückziehen.
Gesellschaftliche Widersprüche
„Die Gesellschaft” befindet sich ebenfalls in der paradoxen Situation, da einerseits so viel wie noch nie Wissen über die menschliche Entwicklung und die basalen Anforderungen für eine gute Entwicklung bekannt ist: dank bildgebenden Verfahren in der Medizin und biochemischer Untersuchungen, dank erleichterter visueller-auditiver Dokumentation von Beobachtungen und experimentellen Situationen, dank sorgfältiger teilnehmender Beobachtungen, dank elektronischer Verarbeitung der Daten.
Wir wissen, dass sich im Zeitfenster der ersten Lebensjahre das limbische System entwickelt und wesentliche Reaktionsmuster geprägt werden, die die Fähigkeit zur Theorie of Mind, Reflexion, Empathie, Altruismus, psychischer Stressbewältigung ausmachen.
Wir müssen davon ausgehen, wenn die erste Zeit des intensiven Zusammenlebens zu kurz ist, führt die frühe öffentliche Erziehung zu einem „Mangel an Spiegelungen” d. h. emotionaler Zustände und damit zu unzureichender Aktivierung der Spiegelneuronen, die für unser Empathievermögen Voraussetzung sind.
Ebenso wird die „Denkfähigkeit”, die ausgelöst und angeregt wird durch den Versuch einen anderen zu erkennen, unzureichend angeregt, wenn kein anderer da ist, den man entlang eines ständigen Hin und Her im Austausch erkennen kann.
So bleiben die „inneren Arbeitsmodelle” vom Anderen und damit von sich selbst „instabil, schwach” und wenig hoffnungsvoll.
Ein Kind, das zu wenig Fähigkeiten hat, sein Ungleichgewicht zu regulieren, ob ausgelöst durch innere Vorgänge oder von außen, fühlt sich schnell bedroht, angegriffen, verfolgt und reagiert deshalb schnell aggressiv. [29]
Kinder sind von Natur aus altruistisch und unser Körpersystem ist entsprechend ausgerüstet, intrinsisch, also dass wir aus eigenem Impuls heraus altruistisch sein können:
Spiegelneuronen, Belohnungszentrum, Oxytocin sind drei wesentliche angeborene Helfer, die jedoch erst durch die freundliche zwischenmenschliche Erfahrungen aktiviert werden müssen.
Wir wissen, dass sich die Darm-Hirn-Achse, die das „Darmhirn” und das „Kopfhirn” miteinander verbindet, in den ersten Lebensjahren aufgebaut wird [29].
Wir wissen von der entwicklungshemmenden Wirkung des Stresshormons Cortisol auf die höhere Nerventätigkeit. Wenn wir den „natürlichen” Gruppenstress in der Kita einbeziehen, dann ist nicht verwunderlich, dass die Kleinkinder das Stresshormon Cortisol vermehrt bilden.
Cortisol hemmt die Immunabwehr des Körpers und es hemmt den Ausbau der neuronalen Verbindung zwischen dem Mittelhirn und der Großhirnrinde, so dass die bewusste, gedachte Selbstwahrnehmung behindert wird: Was ist mit mir los? Was muss ich tun? Stattdessen kommt es zu primitiven Angstreaktionen, Explosionen, Körpersensationen u. Ä.
Wir wissen, dass die Krippenbetreuung unabhängig von welcher Qualität, die körpereigene Produktion von Cortisol erhöht bzw. nach anhaltendem Stress die Cortisolbildung erheblich senkt.
Wir wissen um den lebhaften Dialog der Babys, selbst der Frühgeborenen mit dem pflegenden Anderen, über ihre feinen Reaktionen, ihre Streben nach Verbindung von Anfang an.
Wir wissen um die Einzigartigkeit der Primärbeziehungen.
Internationale Studien weisen auf erhebliche Veränderungen in den Verhaltensmustern, Erkrankungsneigungen, sozialen Störungen etc. hin, wenn die Trennung von den primären Bezugspersonen zu früh, also in den ersten 24 Monaten geschieht.
Die amerikanische NICHD Studie weist auf negative Veränderungen der Mutter-Kleinkind-Beziehung im Zusammenhang mit einer frühen Krippenbetreuung hin. Kinder und Mütter ziehen sich voneinander zurück. [27]
Eine Studie über Auswirkungen außerfamiliärer frühkindlicher Betreuung (AFB) auf die Entwicklung psychischer Verhaltensauffälligkeiten, Risikoverhalten, Schulleistung im Vergleich zur elterlichen Betreuung kommt zu dem Ergebnis, dass ein frühes Eintrittsalter in die Krippe unter 12 Monaten unter anderem mit signifikant höheren psychischen Auffälligkeiten im Jugendalter korreliert [30].
Dagegen wird emotionales Lernen entlang von Bindung und Verbindung im intersubjektiven* Beziehungsraum, ja die Gesetzmäßigkeit des Lernens überhaupt – über die wir nunmehr wirklich viel wissen, ignoriert oder klein geredet. Wie in der DDR wird frühen Beziehungen und Verbindung wenig Bedeutung für die Entwicklung beigemessen.
* von mehreren Personen in gleicher Weise nachvollziehbares Geschehen
Kinder brauchen in erster Linie Zeit und Geduld. Ganz zu schweigen davon, dass wir unbedingt das
„Recht auf Bindung von Geburt an als ein Menschenrecht” ansehen müssen.
Bindung und Verbindung sind in den Augen der Konsumantreiber eine gefährliche Quelle, weil sie nicht kontrollierbar sind und sich nicht zum Konsum und Geldausgeben eignen.
Andererseits hält man seit 2012 in der Bundesrepublik Deutschland am Ausbau der Krippen und dem Recht auf einen Krippenplatz ab dem 13. Lebensmonat sowie einer Propaganda und Versprechen fest, die Krippe sei der beste/bessere Entwicklungsort sogar unter den katastrophalen personellen Bedingungen, die 330.000 fehlende Erzieher:innen bieten.
So werden den Kleinkindern wesentliche Lernmöglichkeiten vorenthalten. Hierin unterscheidet sich die DDR-Politik nicht von der in unserer jetzigen BRD – auch, wenn die Erziehungspraxis jetzt deutlich kindzentrierter ausgerichtet ist.
Es ist für ein Kleinstkind einfach nichts Gutes an einer Frühaufnahme in die Krippe bevor es ausreichend sprechen kann, sicher laufen kann, selbstständig essen kann und sich selbst beruhigen kann – den Erwachsenen als Bezugsobjekt weniger als Gleichaltrige braucht.
- Sich täglich zu trennen und wieder zusammen zu kommen, sind für ein Kleinstkind innerlich bewegende Übergänge, in denen es auf das Engagement (und die Fähigkeit) seiner Eltern und Erzieher angewiesen ist, dass sie liebevoll und geduldig zwischen den unterschiedlichen Erfahrungswelten eine „Brücke“ schlagen, damit sich das Kind verbinden und entbinden kann.
Darüber hinaus braucht es seine Eltern, um seinen anstrengenden „Arbeitstag“ – mag die Betreuung noch so gut gewesen sein – emotional zu verdauen. Es braucht ihre nachdenkliche Empfindsamkeit, um Missmut, „Jammrigsein“, Unlust oder Wut, deren Ursache es selbst noch nicht versteht, bei ihnen loszuwerden.
Wenn die Eltern sich in ihr Kind hineinversetzen und dann eine passende Lösung finden, fühlt es sich nicht nur erleichtert, sondern es wächst auch seine innere Überzeugung: „Meine Eltern können mir wirklich helfen“.
Alles spricht dafür, dass eine Krippenaufnahme nicht vor dem 24. Lebensmonat erfolgen sollte. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass ca. 25 % der Eltern schon sehr früh eine Unterstützung im Elternsein brauchen, weil sie psychisch oder körperlich krank sind, in prekären Verhältnisse leben, beide berufstätig sein müssen oder als Alleinerziehende ohne Betreuungshilfe leben.
Für diese 25 % müsste die Betreuung exzellent – so haben es Studien ergeben – sein, um die Defizite im Familiensystem ausgleichen zu können.
Aktuelle Erziehungstrends
Der Trend zur frühen institutionellen Erziehung ist m. E. unumkehrbar. Wir müssen uns ernsthaft fragen, wieso werden Kleinstkinder in die völlig unzureichend ausgestattete Kinderkrippe gegeben, obwohl wir wissen, dass diese Umstände sie zumindest behindern, wenn nicht sogar beschädigen. Wir müssen nach dem unbewussten Motiv für diesen Widerstand suchen.
Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand
Der Widerstand hat mit den „inneren Voraussetzungen” in den Eltern zu tun, nämlich mit ihrer Bereitschaft und Fähigkeit sich auf das abhängige Kind einzulassen, seine Bedürfnisse zu erkennen, ohne sich in ihnen zu verlieren oder angeödet zu sein, sich zu langweilen.
Und er hat mit den „äußeren Bedingungen” der Gesellschaft zu tun, auf die ich im Folgenden eingehen möchte:
- Dem Fehlen einer echten Wahlmöglichkeit in den ersten Lebensjahren zwischen Erziehungsarbeit und Berufstätigkeit.
- Sozialer Wohlstand und die Umverteilungssysteme der sozialen Marktwirtschaft ersetzen schrittweise die ehemaligen überlebenswichtigen Funktionen der Familie: Wesentliche Aufgaben an Dienstleistungen werden outgesourct. So etwa in der Altenpflege, Kinderpflege, unter der Geburt … und befreien den Einzelnen von familiären Bindungen.
- Der gesellschaftliche Stellenwert der Frauen misst sich an ihrer „Arbeitsplatzverwertbarkeit” für die Volkswirtschaft [vgl. 31].
- Fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Familienarbeit, einseitige Anerkennung der Berufstätigkeit und mangelnder Respekt vor jungen Familien.
- Ausbleibende Förderung der Männer und einer grundlegenden Änderung der Elternschaft: leben zu dritt. Letzteres ist vermutlich der größte Mangel.
Woher kommen die Widerstände?
Ich möchte an dieser Stelle das „gesellschaftliche Unbewusste“ einbeziehen, weil es m. E. wesentlich den „Widerstand“ gegen Befunde und Studien erklärt, die die Risiken der Frühtrennung und institutionalisierten Frühbetreuung und die katastrophalen personellen Umstände unter denen Kleinstkinder versorgt werden, deutlich machen.
Das Bild vom Kind in der Gegenwart geht davon aus, dass ein Kind für seine Entwicklung Unterstützung braucht. Dieses Bild spricht von Einfühlung und Respekt gegenüber allem was im Kind vor sich geht, was es braucht.
Aber es gibt eine starke gesellschaftspolitische Tendenz, den Begriff „Unterstützung”, umzudeuten in „dem Kind von Geburt an frühzeitig etwas beibringen zu müssen”, wie Sprachen, Musik, Turnen, motorische Fertigkeiten, Selbstständigkeit, es frühzeitig sozial zu trainieren, es leistungsfähig zu machen, denn das Kind habe ein Recht auf Bildung! Nach der Devise „fördern und fordern”. Das können am besten Experten für Kinder. Dazu passt die Krippenbetreuung sehr gut. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken und Bedingungen werden nicht nur von einer gewachsenen Empathie für kindliche Bedürfnisse getragen. Sie transportieren auch einen „unbewussten Aspekt des Bildes vom Kind”, der gesellschaftlich Unbewusstes also Tabuisiertes enthält [1], dass aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verdrängt werden muss:
- Die Gesellschaft und ihre Mitglieder sind einer vorgegebenen Organisation ihres Lebens unterworfen, die hauptsächlich dem Konsum, der Sicherheit und dem Wohlstand dient. Die Bürger:innen sind „Organisationsmenschen”, die sich ständig ihre Zeit einteilen müssen, die flexibel und mobil sein sollen. Sie machen sich vor, sie hätten damit die Lage im Griff [vgl. 32].
- Die Bürger:innen sollen ihre „Angst vor Einsamkeit und Beziehungslosigkeit” nicht wahrnehmen, ihre Bedürfnisse nach individueller Zuwendung und Bezogenheit verleugnen. Es handelt sich um die seelischen Bewegungen, die der Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit menschlicher Beziehungen ebenso der geforderten Flexibilität und Mobilität der modernen Leistungsgesellschaft im Wege stehen.
- Unsicherheit und Ungewissheit werden abgewehrt, denn im „Zeitalter der Information” sind das die am wenigsten tolerierten Geisteszustände. Coolness, Sicherheit, Kontrolle sind die Leitwerte der Informationsgesellschaft.
- Die Einzelnen unterwerfen sich der Mehrheit – auch, wenn sie anders denken, weil sie fürchten, geächtet und innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft isoliert zu werden: „Mit 12 Monaten in die Krippe. Es geht nicht anders, auch wenn es mir das Herz zerreißt.”
- Der weibliche-mütterliche Part im Mann soll nicht wirksam werden. Männer sollen die patriarchalischen* Machtverhältnisse erhalten und als ökonomische Außenvertretung der Familie verbleiben. Auf primitive feministische/sexistische Weise wird ihnen unterstellt, dass sie die Pflege und Erziehungsarbeit nicht leisten wollen und können.
* männlich dominierenden
Vielleicht bietet aus diesen verschiedenen Gründen, die unbewusst bleiben sollen, die Politik den Eltern keine echten Wahlmöglichkeiten zwischen Familienbetreuung oder Fremdbetreuung an.
Zukunftsgedanken
Wenn ich in die Zukunft sehe, so hätte ich für die ersten Lebensjahre vor Augen, dass in den Familien ein „gleichgewichtetes Dreieck” entsteht zwischen Mutter-Vater-Kind. Väter und Mütter werden ganz selbstverständlich gleichberechtigt Verantwortung tragen und die Gesellschaft die familiäre Triade schützen.
Ich frage mich, wie es gelingen kann, in den ersten Lebensjahren die Frühtrennung, die Fremdbetreuung und den Rückzug der Eltern zu vermeiden?
Ich denke, der gesellschaftliche Beitrag könnte darin bestehen, dass sich „flächendeckend” die Krippen für die jungen Familien öffnen. Sie sollten eine respektvolle, freundliche Atmosphäre bieten. Dort könnte man täglich für einige Stunden gemeinsam den Alltag teilen in der Gemeinschaft mit anderen Familien. Man könnte gemeinsam spielen, denken, sprechen, essen, beobachten, voneinander etwas abschauen, auch Hinweise erhalten. Eine Kita für die ganze Familie. Raus aus der Isolation hinein in die Großgemeinschaft, die Anregung, Schutz und Hilfe bietet.
Ich denke daran, dass sich die Eltern „neue Werkzeuge” erschaffen müssen, die in erster Linie in der Fähigkeit bestehen, den Anderen unverzerrt wahrzunehmen. Dazu ist in der Regel die Hilfe von Dritten nötig, die diese Perspektive bestärken. In den ersten Lebensjahren ihrer Kinder sollten die Eltern unterstützt werden, sich zu üben im Nachdenken über ihre Kinder und sich selbst im Umgang mit ihren Kindern zu beobachten. Damit sie so wenig wie möglich an eigenen Ängsten und Erwartungen in die Kinder projizieren müssen und offen für das sind, was ihnen die Kinder entgegenbringen. Dann verschwinden Langeweile und Leere – besonders für Eltern mit eigenen frühen institutionellen Trennungserfahrungen.
Die Erzieherinnen im späteren Kindergarten sollten dies ebenso können: mit den Eltern gemeinsam nachdenken über das Kind, offen und fähig im gegenseitigen Austausch, Worte finden für das Erleben und Verhalten des Kindes.
Ich denke auch daran, dass die Berufstätigkeit in den ersten Lebensjahren der Kinder für beide Eltern gleichermaßen erhalten bleiben könnte, durch verkürzte Arbeitszeiten, Homeoffice, Epochalzeiten. Vorausgesetzt, dass ein auf mindestens 24 Monate verlängertes Elterngeld die Einkommenslücke schließt.
Ich denke daran, dass Kindergärten für Kinder ab drei Jahren Orte sind, an denen ihnen genügend verständnisvolle Erwachsene zur Verfügung stehen sollten.
Wir registrieren den Kontextwandel für das Großziehen von Kindern. Wir leben in Mitteleuropa nicht in einer Weltregion, in der es um das nackte Überleben geht. Wir können uns eine empathische Reaktion auf (früh)kindliche Bedürfnisse leisten.
von Agathe Israel