Kindheit

Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft

Wie Kinder heranwachsen, ob sie in Geborgenheit ihre Welt erobern können oder aber ohne sichere Bindung und Urvertrauen lernen, Dingen und Menschen zu misstrauen und sich von Ihnen abzukoppeln, prägt ihr gesamtes Leben, hinterlässt tiefe Spuren bis weit ins Erwachsenenalter.

Inzwischen ist das längst eine allgemein akzeptierte, wissenschaftlich nicht mehr bezweifelte Einsicht in die Bedeutung der (frühen) Kindheit. Umso erstaunlicher, dass die notwendigen Konsequenzen aus diesem gesicherten Wissen in der politischen und gesellschaftlichen Umwelt nach wie vor umstritten sind und oft genug ignoriert und hinter anderen Zielen und Wunschvorstellungen zurückgestellt werden.

Einen umfassenden Überblick über diese widersprüchliche Situation, ihre historischen und gesellschaftlichen Gründe und die Ansätze für Lösungen in der Zukunft gibt in dem folgenden Beitrag die Psychoanalytikerin Agatha Israel. Ihr Schwerpunkt in Forschung und Publikationen ist die Psychologie von Frühgeborenen, Säuglingen und der Eltern-Kind-Beziehung. Ausgehend von den wechselnden historischen Bedingungen der Kindheit und von den Erfahrungen mit der staatlich gelenkten Kindererziehung in der DDR blickt sie auf die frühe Kindheit von innen her, da sie in diesem Staat lernte, studierte und die längste Zeit ihres Lebens arbeitete und als Frau, Mutter und Bürgerin lebte. In dieser Beitragsserie hinterfragt sie die möglichen Veränderungen der Persönlichkeits- und Charakterstruktur, die eine frühe Trennung von Eltern und Kind mit sich bringt und wie dies sich auf das Sozialklima der Gegenwart auswirkt.

Lesen Sie, was Kinder für ein glückliches Leben brauchen, was sie zu selbstbewussten, empathischen Mitmenschen macht oder was sie antreibt, egoistisch und aggressiv zu handeln und wie gesellschaftspolitische Maßnahmen es möglich machen könnten, dass Mütter und Väter ganz selbstverständlich und ohne Benachteiligungen und unnötige Opfer für ihr Kind, ihre Kinder, gleichberechtigt Verantwortung tragen können.

von Redaktion fürKinder

Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte

Sobald ein Mensch geboren wird und damit die körperliche Einheit mit seiner Mutter verliert, passt er sich – um zu überleben – mit allen Kräften, die ihm zur Verfügung stehen, an die Welt an. Weil die kindliche Welterfahrung sich anfangs noch sehr begrenzt auf seine unmittelbare Umwelt bezieht, richtet sich seine Anpassung auf deren wichtigste Repräsentanten: Mutter und Vater.

Die Anpassungsbemühungen des Kindes allein reichen jedoch nicht, um sein Überleben zu sichern, es braucht auch eine Umwelt, die sich dem Kind anpasst und auf seine Grundbedürfnisse ausreichend eingeht. Anfangs müssen sie ständig durch die Umwelt entlang der täglichen Versorgung und Pflege, Abwendung von Bedrohung oder Gefahr durch Krankheiten, ausreichende Ernährung und Schutz gestillt werden. Aber das alles reicht nicht aus, wenn die Liebe fehlt.

Es braucht Halt und Verstehen der Erwachsenen, ihre Fähigkeit zu fühlen und zu denken und angemessen zu handeln.

Das ist die Art von Liebe, auf die ein kleines Kind angewiesen ist, um sich entwickeln zu können. Sie wird ihm von den natürlichen Verantwortlichen seinen Eltern (und deren Vertretern) mehr oder weniger genügend gegeben und hat nichts zu tun mit Küsschen geben, erregenden Spielen, Training oder Herausputzen.

Elterliche Liebe zeigt sich in einer suchenden Haltung: Was erlebt und braucht unser Kind jetzt?

Die Erwachsenen müssen ihr Unwissen und ihre Unsicherheit, ein Leben in offenen Fragen aushalten, sich vornehmen: Das Kind und wir müssen die Welt gemeinsam noch einmal neu erschaffen. Das sind die notwendigen Bedingungen für ein Baby, um denken zu lernen. Davon weicht die verbreitete Vorstellung ab „Gute Mütter wissen immer und sofort, was ihre Kinder brauchen“ und „Gute Mütter sind deshalb selbstsicher, zufrieden und ausgeglichen“.

Vom Schmerz sich zu binden

Im Laufe der Menschheitsgeschichte stieg die Chance von Generation zu Generation als Neugeborenes zu überleben. Erst seit dem 20. Jahrhundert jedoch ist die Kindersterblichkeit so niedrig, dass es als Ausnahme gilt, wenn in Europa ein Kind nicht das erste Lebensjahr erreicht. Bis dahin schützten sich Eltern vor dem Schmerz, ihr Kind zu verlieren, indem sie sich an die Kinder weniger banden oder sie in den ersten Lebensjahren an Ammen und Pflegestellen weggaben oder sie ihnen noch keine Menschenwürde, kein menschliches Erleben und Fühlen zustanden, sie eher wie einen Haushaltsgegenstand betrachteten, den man abstoßen kann oder wie Tiere verkaufen kann. In der Antike war der Infantizid (Kindstötung) eine legitime Form, zu viele Kinder loszuwerden. Im römischen Kaiserreich nannte man Familia das Hab und Gut, dazu zählten Immobilien, Vermögen, ebenso Kinder, Tiere und Sklaven.

Das Bild vom Kind

Auch wandelte sich über die Jahrhunderte hinweg der Auftrag der Gesellschaft, den Kinder für Erwachsene zu erfüllen hatten. Im „Bild vom Kind“ transformierte jede Epoche ihr gesellschaftliches Unbewusstes – also das, was nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein dringen sollte – und begründete damit ihre Erziehungsziele und -methoden [1].

Zum Beispiel diente das Kind mit seinen Bedürfnissen im Mittelalter unbewusst als Projektionsort für das Böse in den Erwachsenen, wie Völlerei, Gelüste, Brutalität. Die Erziehungsaufgaben zielten darauf dem Kind „das Böse” auszutreiben und sich selbst dadurch auf diese Weise befreien zu wollen. Oder in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert bedeutete Erziehung, das „leere” Kind mit Wissen anzufüllen. Es ist noch gar nicht lange her, seit man Säuglingen und kleinen Kindern ein eigenes Erleben und Fühlen zubilligt. Dass erst so spät bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum Interesse für die Psyche und das Bindungsbedürfnis von Säuglingen und Kleinkindern bestand, sie kaum als fühlend-denkendes Gegenüber behandelt wurden, hatte mit der hohen Kindersterblichkeit bis zum Ende des 19. Jahrhundert zu tun. Denn der Schmerz, sein Baby zu verlieren ist geringer, wenn man nicht so gebunden ist und im Kind noch eher ein Tierchen oder Engelchen sieht. Das Bild vom Kind bezog sich auf seine „Assozialität” und seine „Sozialisierung durch Erziehung”.

Erst in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts erkannte man, wie Säuglinge auf einen lebendigen Austausch mit den pflegenden Erwachsenen – insbesondere seiner Mutter – angewiesen sind, um nicht zu verkümmern oder zu sterben, dass Säuglinge Beziehung brauchen, um zu überleben und dass Menschen vom Lebensanfang an ein seelisches und körperliches Schmerzempfinden haben [vgl. 2]. (Und dennoch erhielten erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Neugeborene, wenn man sie operieren musste, eine Narkose.) In der 12 Jahre währenden Nazizeit beherrschte das Bild vom „stählernen deutschen Kind” die Erziehung, die körperliche und seelische Schwachheit überwindet [vgl. 3].

Den politisch sowie pädagogisch Verantwortlichen ging es in erster Linie um das „Heranzüchten kerngesunder Körper“, um die Vorarbeit zu soldatischer Kampf- und Opferbereitschaft, dem alle anderen erzieherischen Aspekte untergeordnet waren. Um ein nützliches, tüchtiges und zugleich gut verwendbares Mitglied der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu werden, sollten die Kinder zu den typischen „deutschen (germanischen) Charaktereigenschaften” hin erzogen werden, wie: Anpassungsfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Gehorsam, Fleiß, Verträglichkeit, Ordnungsliebe und Disziplin, Sauberkeit, Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Fügsamkeit und Ehrfurcht gegenüber Autoritäten, Liebe zum Vaterland und seinem Führer, Sparsamkeit, Verzichtbarkeit, Opfersinn, Härte usw. [4]

Ich zitiere diese Erziehungsziele deshalb ausführlicher, weil in beiden deutschen Staaten noch Jahrzehnte später, aber besonders systematisch in der DDR die postulierten Erziehungsziele im Sprachduktus* fast gleich lauteten. Deshalb könnte man davon ausgehen, dass trotz der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in beiden Teilstaaten die Angst vor Bindung, Beziehung und Verletzlichkeit gesellschaftlich unbewusst bleiben sollte.

* Sprachduktus ist ein Ausdruck für die gesprochene oder geschriebene Sprache und bezeichnet den Sprachstil, das Charakteristische einer persönlichen Sprache, d. h. die Art zu sprechen, zu reden, zu schreiben.

Die Sensibilisierung für Bindung, Trennung und Abhängigkeit hat eine relativ junge Geschichte, die bereits wieder zu enden droht, denn der Zeitgeist Ende des 20. Jahrhunderts propagierte:

Alles ist machbar, alles ist ersetzbar, auch Beziehungen sind ersetzbar, austauschbar durch andere Personen oder Dinge. Nötig sind Flexibilität, Mobilität, Anpassung, überschussorientierte Produktivität und Konsum.

Konträr dazu standen die anwachsenden Erkenntnisse über die Beziehungsbedürfnisse vom Lebensanfang an, über die Einmaligkeit der frühen Eltern-Kind-Kommunikation, die das Kind lebenslang körperlich und seelisch prägen. Der gesellschaftliche Alltag machte es Müttern und Vätern schwer für ihre Berufung als Eltern da zu sein: ein individuelles Tempo zu finden, Zuwendung, Verstehen, Geduld, Einüben, also die individuelle Liebe zu geben.

In unserem Jahrhundert existiert ein Bild vom Kind, als einer Person, die Unterstützung braucht und deren vorhandene Anlagen Förderung brauchen. Davon ausgehend wurden Rechte des Kindes gefordert u. a. das Recht auf körperliche Unversehrtheit und besonders ein Recht auf Förderung und Bildung vom Lebensanfang an. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken werden nicht nur von Empathie getragen, sondern bedienen auch Projektionen der Erwachsenen: Im Kind wird die Angst, sich nicht selbst verwirklichen zu können, sich nicht voll entfalten zu können, deponiert. Aber auch die Umkehrung ist anzutreffen: Die existentielle Angst, abhängig zu sein vom Wohlwollen anderer und die Angst vor Nähe, vor Verbindung, Identitätsverlust sobald man sich nahekommt.

Frühe Kindheit: Was erleben und brauchen Kleinstkinder?

Die institutionalisierte Früherziehung in Kinderkrippen, die in der DDR bereits in der dritten Generation zur Tradition gehörte, wurde ab 2012 auch gesetzlich in der vereinten Bundesrepublik eingeführt und veränderte damit die Vorstellung und Praxis der Elternschaft erheblich.

Wir müssen uns fragen, wie ehrlich meint es die Gesellschaft mit dem Recht auf Förderung und Bildung mit der sie die Frühtrennung von den primären Beziehungspersonen rechtfertigt. Geht es wirklich um die Kinder oder geht es um das Schicksal der Eltern? Wie sieht die Unterstützung eines Kleinstkindes aus? Wie lernt ein Baby?

Vielleicht bedient die aktuelle Praxis der Frühbetreuung das gesellschaftliche Unbewusste, die kollektive Verdrängung der Sehnsüchte nach Halt, Geborgenheit und Verbindung? Wird deshalb die Frühtrennung von den Eltern praktiziert, die Verantwortung an Erziehungsexpert:innen abgegeben, das Kind in Gleichaltrigengruppen untergebracht? Selbstverständlich gibt es vordergründig eine plausible Erklärung: Beide Eltern wollen so rasch wie möglich wieder in ihren Beruf zurückkehren, das bisherige Leben wieder aufgreifen, den Lebensstandard halten. Noch nie gab es eine derartig umfangreiche „Kinderindustrie” wie heutzutage, also Lehr- und Sachbücher über Erziehung und Kinderpflege, Kurse, Anleitungen, die sicheres und schmerzarmes Gebären versprechen, technische Hilfsmittel zum Tragen, Beruhigen, Pflegemittel, Bekleidung, Ernährungsprodukte. Kinder sollen mit allen Mitteln zufrieden, glücklich, abgesättigt, schmerzfrei, ausgeglichen gemacht werden. Eltern gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ein Baby von ihnen erwartet, „bespielt” zu werden.

Selbstverständlich wollen Eltern, die sich all dieser Dinge bedienen, damit das Beste für ihr Kind bewirken. Aber zugleich spalten sie einen Teil der Realität ab, der unweigerlich zum Menschsein gehört:

Ständig schwingen wir zwischen unterschiedlichen Daseinszuständen: wie müde-wach, hungrig-satt, sicher-bedroht, schwach-stark, aktiv-passiv, lieben-hassen usw., so wie jede Körperzelle ebenfalls pulsiert zwischen Wachsen und Altern.

Das Bewusstsein fehlt, dass diese Polarisierungen unser Leben ausmachen. Wenn aber ein schmerzfreier Dauerzustand der Befriedigung als „normal” propagiert wird, dann darf es unsichere Eltern, unzufriedene Babys nicht geben, ebenso darf keine Ungewissheit darüber aufkommen: Was erlebt mein Kind?

Ratgeber und Experten mit ihren klaren Antworten, Minutenangaben, wie lange man ein Baby mindestens halten soll und ähnliches, scheinen besser befähigt. Eltern und Angehörige verlassen sich nicht oder wenig auf ihr Fühlen und Denken, auf ihre Intuitionen und vergessen ihre einmalig prägende Beziehung.

Erziehungskonzepte verstehen

Der Aufbau des Krippensystems in der DDR war eine der wirkmächtigsten sozialpolitischen Maßnahmen der DDR-Regierung, die eine radikale Veränderung der frühen Kindheit nach sich zog, die in erster Linie den Müttern zu Gute kommen sollte. Babys konnten nach Ablauf des Mutterschutzes, also anfangs nach der 6. dann 12. Lebenswoche und schließlich ab 1986 ab dem 12. Lebensmonat – für ein minimales Entgelt – in der Krippe betreut werden. Diese Möglichkeit nahmen immer mehr Eltern in Anspruch – 1989 wurden ca 80 % der Null- bis Dreijährigen in der Krippe betreut, weil sie nicht nur zur möglichst frühzeitigen Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit genötigt wurden, sondern viele es auch selbst wollten. An der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, was Haushalt und Kinderbetreuung anbelangte, änderte sich in diesem Zusammenhang wenig.

Krippenbetreuung und Frühtrennung gehörte zur Normalität der frühen Kindheit in der DDR. Aber die überwiegende Mehrheit der Eltern übergab ihre Kinder nicht mit der Überzeugung in die Institution, dass dies ein besserer Ort als die Familie sei, sondern weil sie meinten, es tun zu müssen und weil es so üblich war. Bei einer Arbeitszeit von 8 ¾ Std. ging es um tägliche Trennungszeiten bis zu 10 Std., abhängig vom Arbeitsweg. Das Erziehungsprogramm sollte „das theoretische Rüstzeug für die erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens schaffen“. Es wurde zwischen 1963 und 1967 unter der Federführung der Leiterin des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters der DDR, Eva Schmidt-Kolmer, ausgearbeitet. Das Institut unterstand direkt dem Ministerium für Gesundheitswesen. Das Erziehungsprogramm erfuhr zwischen 1970 und 1974 eine immer minutiösere Ausgestaltung, so dass man von einem zeitlich straff durchgeplanten Krippenalltag und einer programmierten Erziehung sprechen muss [5].

Die Gleichschaltung von Familie und Institution

Mittels Entwicklungsbögen wurden die Ergebnisse der Erziehungsarbeit – gegliedert nach Sachgebieten – genau kontrolliert. So wurde in einem „Merkblatt zum Beschäftigungsplan“ festgehalten, ob das Kind sein Wochenziel erreichte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Anwesenheit des Kindes überprüft, um sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendigen Übungen absolvierten.

In den Krippen lebten die Kleinstkinder in überfüllten Gruppen – das konnten zwanzig und mehr Kinder sein, vorgesehen waren Gruppengrößen von 8 bis 10 Kindern, weil es an Erzieherinnen mangelte. So gehörten unruhige oder weinende Kinder zum Krippenalltag. Entsprechend groß war der Druck zur Anpassung und Unterordnung [6]. Aber das Erziehunsgkonzept/-programm sah auch gar keine andere Entwicklung vor, denn das gesellschaftliche „Bild vom Kind” basierte auf den Vorstellungen:

Heranwachsende sind werdende Erwachsene. Sie sind nahezu grenzenlos formbare Rezipienten einer programmierten Erziehung. Sie sind zu füllen. Sie haben sich vor allem Fähigkeiten anzueignen, die die sozialistische Persönlichkeit ausmachen: mit rational-bewussten, gesellschaftsverpflichtenden, angepassten Verhalten.

Familie und Erziehungsinstitution sollten gleichsinnig funktionieren. Dafür wurde eine „einheitliche, geschlossene Erzieherfront“ geschaffen, die die „sozialistische Familienerziehung“ in eine politisch-ideologische Zielharmonie mit der gesellschaftlichen Erziehung bringen sollte [vgl. 7, 8, vgl. 9].

Entsprechend hatten sich die Eltern den Forderungen und dem Entwicklungstempo der Krippe unterzuordnen. Wünsche nach besonderer Zuwendung wurden als Extravaganzen: „Es will nur auf sich aufmerksam machen, aus der Reihe tanzen” abgelehnt.

Aus dem gesellschaftlich Bewussten wurde die Sehnsucht nach Individualität, Freiheit und Verbindung verdrängt oder abgespalten und den Kindern unterstellt, sie müssten dringend Einordnung, Gehorsam, Anpassung erlernen und dass eine Frühtrennung zum Leben dazugehört.

In den 70er-Jahren hatten die vorgegebenen Lebensstrukturen in der DDR ihr Höchstmaß an Konformität (Gleichschaltung) erreicht. Dazu gehörte auch die programmierte Früherziehung in den Kinderkrippen. Die Bedürfnisse des Einzelnen waren den Normen der Gruppe untergeordnet. Die Normen sollten die ideologisch erwünschten Erziehungsziele auch gegen die Interessen und Widerstände des Einzelnen durchsetzen. Merkmale der schwarzen Pädagogik sind hier nicht zu übersehen und setzten sich in der Schule, im Hort, den Massenverbänden der (jungen) Pioniere und Freien Deutschen Jugend u. Ä. im weiteren Lebensalter fort. So vollzog sich von frühester Kindheit bis in das Erwachsenenalter das Leben überwiegend in hierarchisch strukturierten Klein- und Großgruppen nach dem Modell: Führer – Geführter, Rede ohne Gegenrede.

Auch Feste, Feiern und kreative Gestaltungen lenkte und leitete die Erzieherin; Spontanität und Eigensinn hatten kaum einen Raum. Es wäre aber verfälschend, wenn nicht auch fröhliche und unbeschwerte Situationen genannt würden, wie Spaß beim freien Spielen und Toben, als sei die Krippe nur ein düsterer Ort gewesen.

Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils

Mit der Akzeptanz der vorgegebenen Bevormundungsstruktur entfernte sich die DDR-Gesellschaft in ihrem unbewussten Selbstverständnis immer weiter von ihrer ursprünglichen Abkehr von den totalitären Verhältnissen der Nazizeit, deren Untaten durch Schweigen, Wegsehen, Mitläufertum und Stumpfheit gegen das Schicksal der anderen, von den normalen Bürgern mitgetragen worden waren. Es eröffnete sich ein (unbewusster) Konflikt, den Einzelne fühlten, der jedoch kaum gedacht und selten öffentlich diskutiert werden konnte:

Die Erziehungspraxis mit autoritären Strategien und Methoden von früher Kindheit an Mündigkeit, Empathie, Verantwortung „anerziehen” zu wollen, behinderte die Entfaltung gerade dieser Fähigkeiten. Denn ein entmündigtes Kind entwickelt eher gegenteilige Eigenschaften, wie „Passivität, Duckmäusertum, Heuchelei, aber auch Aggressivität“. [10]

So beförderte die Erziehungs- und Sozialpolitik der DDR die unbewusst bleibende Wiederkehr des Verdrängten.

Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis:

  • Abrupte Trennung des Babys von seinen Eltern; in den 80er-Jahren dann stundenweise gestufte Eingewöhnung, aber „ohne” Mutter/Vater.
  • Trennungsschmerz und Trennungsangst, die daraus entstandene Verwirrung des Kindes, seine Unfähigkeit zu spielen, werden weitestgehend ignoriert, das Kind alleine gelassen: „Es wird schon”.
  • Zu große Gruppen Gleichaltriger, weil zu wenig Erwachsene für zu viele Kinder mit ihren gleichgerichtetem Interessen und Bedürfnissen zur Verfügung stehen, fehlt es dem einzelnen Kind an Hilfe und Aufmerksamkeit, dagegen Abfertigung in Eile beim Füttern oder An- und Ausziehen u. Ä., Kommandoton und harter Griff.
  • Gleiches Tempo für alle Kinder wird bei den alltäglichen Verrichtungen vorgegeben und ohne Rücksicht auf das individuelle Tempo erwartet.
  • Gruppennorm ist übergeordnet, Einordnung und Konformität werden belohnt, ein Dialog fehlt.
  • Programmierte Erziehung: Das Lernen wird vom Erwachsenen gelenkt, geleitet und kontrolliert.
  • Erziehung vermittelt Staatstreue: Verbreitung ideologischer Inhalte, Werte und Ängste im Freund-Feind-Bild.
  • Die familialen und institutionellen Erziehungsziele sind weitestgehend gleichgeschaltet. Die Familie unterstützt die gesellschaftlich erwünschten Charakterstrukturen hinsichtlich Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Respekt vor dem Erwachsenen, der immer Recht hat.

Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis:

Meines Erachtens war (und ist) die Verweigerung der Empathie der Eltern und Erwachsenen gegenüber dem Baby der einschneidende Eingriff in die Entwicklung der Kinder.

Der Säugling musste die tägliche Trennung von seinen Eltern erleben. Wenn den damit verbundenen Trennungsschmerzen, Trennungsängsten, Bedrohungserleben der Trost versagt bleibt, das Mitgefühl verweigert wird, wirkt es seelisch vernichtend: „was willst du denn, hab` Dich nicht so, da muss man durch”, insbesondere dann, wenn Eltern und Erzieher sich gleichermaßen verhalten.

Denn den Kindern wird nicht nur ihre Not und Ängste an die Erwachsenen zu übergeben verwehrt, sondern sie fühlen sich auch „falsch” in ihrem Erleben, ohne zu verstehen weshalb und das ist für sie verwirrend.

Weil sie so wie die Erwachsenen noch nicht nachdenken können, sind sie darauf angewiesen, dass diese ihm übersetzen, den Sinn für das kindliche Befinden zu suchen.

Geschieht dies nicht, verbleibt das Kind in seinen existentiellen Ängsten, wird überflutet von seinen rohen körperlichen und seelischen Zuständen und fühlt sich bedroht. Die bleiben nicht mentalisiert im Körperstress verankert, führen zu geschwächter Immunlage oder primitiven Reaktionen wie sogenannten „Impulsdurchbrüchen” [11].

Für weniger nachhaltig wirkend und schädlich halte ich die ideologischen Einwirkungen also Geschichten, Lieder und Gedichte vom Klassenfeind und der wehrhaften Armee, den guten Sowjetsoldaten, der fürsorglichen Regierung und Appelle zum Fleißig sein, weil davon die unmittelbare Erlebniswelt des Kindes kaum betroffen war, wenngleich nach der Wende dieser Aspekt der Früherziehung von westdeutschen Kleinkindpädagogen besonders unter die Lupe genommen wurde.

Gewiss hat aber eine weniger spektakuläre Praxis die Persönlichkeitsentfaltung beeinflusst: der Zwang zur Konformität, der fast den ganzen Krippentag der Kleinstkinder durchzog, besonders das tägliche Warten müssen beim Füttern, Windeln, Anziehen, das Schlange stehen und Stillhalten, das Gleichmaß.

Das „liebste” Kind war das brave, welches sich am besten anpasste. Das „böse” Kind wurde bestraft.

Windeln ins Gesicht schlagen, wenn es mit dem Toilettengang nicht klappte, in der Ecke stehen, wenn es nicht schlafen oder Zwang, wenn es nicht essen wollte, waren keine Seltenheit. Jenseits solcher deutlichen Auffälligkeiten fielen im körperlichen Ausdruck der Kitakinder in der DDR ihre Unruhe auf, wobei sie zugleich wenig ausholende Bewegungen ausübten; eher waren die Arme eng am Körper, die Schulter angezogen, der Kopf leicht geneigt, das Gesicht blass, vermutlich ein unbewusster kollektiver Ausdruck früher Ängste.

Prägende Kindheitserfahrungen

Die Erfahrungen in der frühen Kindheit wirken sich auf die nächste Generation aus, indem sie unbewusst weitergegeben werden.

Vor dem Hintergrund des Erziehungskonzeptes in der DDR müssen wir davon ausgehen, dass in ihrer frühen Kindheit für mindestens zwei, eher drei Generationen Familienzeit und individuelle Zuwendung gering waren, so dass wesentliche zwischenmenschliche Erfahrungsmöglichkeiten wenig oder kaum entstanden.

„Es bedarf spezifischer Kindheitserfahrungen, um spezifische Merkmale einer Kultur aufrechtzuerhalten; sobald die betreffenden Erfahrungen fehlen, verschwindet auch das entsprechend kulturelle Merkmal.” [12]

Es sind die basalen Erfahrungen, die das Kind mit einem verstehenden verantwortlichen Anderen macht, dem es sein Erleben übergeben kann, während seiner ständig wechselnden Befindlichkeit und Körperzuständen und den damit verbundenen Affekten und hormonellen Ausschüttungen.

Bis ein Kind selbst denken kann, muss ein Anderer sich einfühlen und übersetzen, fragen: „Was ist mit dem Kind?” und danach handeln.

Diese Erfahrungen bilden die unbewussten Phantasien oder anders gesagt, sie prägen die unbewussten Motive und Einstellungen und auch unsere Beziehungen zu anderen. Diese basalen Erfahrungen stellen die Weichen, ob wir uns hoffnungsvoll oder resigniert, ständig bedroht, in Verteidigung oder aufgehoben-sicher fühlen, ob wir uns impulsiv oder überlegt-reflektierend verhalten können. Weil ein Kind diesen Anderen erkennen „will”, entwickeln sich aus dem laufenden Dialog mit ihm das Denken, Intelligenz, erste Arbeitsmodelle über den Anderen und sich selbst.

Eltern und Kind befinden sich in ihrem Austausch, wie in einem Übergangsraum oder zwischenmenschlichen Bedeutungsraum, in dem die Welt gemeinsam entdeckt und Gefühle, Handlungen, Absichten des Anderen intuitiv verstanden werden.

Wie bereits erwähnt, begründet jede Epoche mit ihrem jeweiligen Bild vom Kind die Erziehungspraktiken und Erziehungsziele. Über die gesellschaftlich favorisierten Erziehungspraktiken werden ausgewählte Erfahrungen weiter gegeben an die nächste Generation.

Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht

Wir bringen zwar genetisch verankerte körperliche Voraussetzungen mit, aber sie müssen erst durch den „individuellen Eltern-Kind-Dialog”, ebenso durch sanfte körperliche Berührungen aktiviert werden: Die „Spiegelneuronen”, die in Regionen der Hirnrinde angesiedelt sind, sind eine der wesentlichen körperlichen Voraussetzungen für unsere Empathiefähigkeit, des Weiteren das „zentrale Belohnungssystem”, genauer Motivationssystem, eine Verbindung verschiedener Hirnstrukturen (sogenanntes mesocortikolimbisches System), das aktiv wird, wenn wir etwas Erfreuliches vorausahnen [13]. Der Überträgerstoff ist das Dopamin und des Weiteren der Botenstoff Oxytocin (gebildet im Hypothalamus), der stressmindernd, vertrauensbildend wirkt, Einfühlungsvermögen und Anteilnahme erhöht. Das geschieht vermehrt unter der Geburt, beim Stillen und Nuckeln, durch sanftes Streicheln.

Indirekt senkt Oxytocin den Cortisolspiegel und bahnt dadurch den Weg für differenziertes Fühlen und Nachdenken.

Alles zusammen macht das (Einfühlungs-)Vermögen aus, intuitive Vorstellungen und „vertrauensbildende” Gewissheiten über die Gefühle und Absichten eines anderen Menschen zu gewinnen, also die Fähigkeit zu einer Theorie of Mind.

Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln

Neben der Frühtrennung und dem damit verbunden Mangel an individueller Zuwendung gilt zu beachten, dass es in der DDR-Krippe und im Erziehungsprogramm um Gleichschaltung und Anpassung ging.

Die Art der Erziehung nach dem Erziehungsprogramm beförderte Konkurrenzsituationen, die – wie wir jetzt wissen – das emotionale Lernen und die naturgegebene Fähigkeit zum Altruismus ausbremsen.

Kinder, die mit Süßigkeiten, Spielsachen, Belobigungspunkten oder Geld belohnt werden, lassen sich zu Leistungen anfeuern, aber sie sind anderen Kindern gegenüber weniger großzügig und distanzierter, weniger kreativ, bieten weniger Lösungen an.

Wenn aus Kindern Eltern werden

So beklagen viele Eltern, die in der DDR groß geworden sind, Langeweile, Leere auch fehlendes Verständnis für die Äußerungen ihres Kindes. Sie könnten sich „einfach nicht einfühlen, selbst wenn wir uns Mühe geben“. Sie sprechen von Gereiztheit, weil sie sich durch das kleine Kind „angegriffen oder tyrannisiert“ fühlen, können nicht verstehen: „Was es denn noch will“. Sie erwarten Rücksicht und setzen eine Einsichtsfähigkeit voraus – „Immer wieder erklären wir es ihm doch“, die Kleinstkinder einfach noch nicht haben können. Manche leiden darunter, manche beschweren sich, manche begründen damit, weshalb sie ihr Baby so früh als möglich in die Hände von Expert:innen geben.

Frühe Trennungen in der Kindheit – eine gesellschaftliche Norm

Obwohl die Phase noch nicht lange währt, in der sich Eltern um Bindung bemühen, sich intensiver auf das Erleben ihrer Kinder einlassen wollen, sie als Person und Gegenüber respektieren, haben sich in der Moderne die Elternliebe und die Gestaltung der ersten Lebensjahre erheblich verändert, weil die frühe institutionalisierte Erziehung und damit verbundene Frühtrennung der Kleinstkinder von ihren Eltern zur gesellschaftlichen Norm gehören.

Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern

Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern baute auf die primäre Bindung an die natürliche Autorität und Intuition der Eltern, also an diejenigen, die für das Kind verantwortlich sind, ohne dass wir darüber nachdachten. Er ist/war im wahrsten Sinne des Wortes eingewoben in unsere Vorstellungen über das Menschsein, existierte innerhalb unserer Kultur immer unsichtbar. Die „Notwendigkeit“ früher Fremdbetreuung, die zunehmend selbstverständlich als zum Aufwachsen gehörend angesehen wird, geht primär nicht von den Bedürfnissen der Kleinkinder aus.

Der kanadische Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher Gordon Neufeld betont, wenn wir in unserer postindustriellen Gesellschaft mit ihren Erziehungs- und Bildungsmodellen diesen Kontext nun verlassen, weil wir Säuglinge und Kleinstkinder vorzeitig von ihren primären Bezugspersonen trennen – egal ob sie gut oder böse waren, vollzieht sich unbemerkt ein Wandel, dessen Folgen wir noch nicht abschätzen können. Diesen Umstand sollten wir uns unbedingt vergegenwärtigen, um seine „Normalität“ angemessen beleuchten zu können.

Die Entscheidung, wie viel Zeit eine Gesellschaft den Kindern gewährt, sich so an ihre Eltern zu binden, dass sie im Dialog mit ihnen ein inneres primäres Objekt aufbauen, um sich selbst und die Welt kennen zu lernen, wird bestimmt durch die kulturellen Maßstäbe und den Lebensstandard.

Selbst wenn heutzutage deutlich günstigere und kindorientiertere Bedingungen den Krippenalltag prägen, müssen wir uns darüber klar sein, dass sich die Kinder aus der Bindung mit den „primären Bezugspersonen“ etwas zurückziehen müssen, also ihre Eltern dementsprechend weniger „besetzen“, um die neue Realität bewältigen zu können. In diesem Zusammenhang müssen wir annehmen, dass den „sekundären Bezugspersonen“ für die Entfaltung der inneren Welt ebenfalls eine prägende Rolle zukommt. Inwieweit das Kind seine primären Erfahrungen mit den Erzieher:innen fortführen und erweitern kann oder ob es zu Brüchen, zu äußerer Anpassung kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Der Bindungsforscher Richard Bowlby (Sohn von John Bowlby) meint:

Es „müssen sich Fachleute Sorgen machen, dass in vergleichbarer Weise, wenn auch weniger traumatisch und sehr viel schwerer nachweisbar, Säuglinge und Kleinkinder analoge Entwicklungsbeeinträchtigungen (wie Pflege- und Heimkinder) erleiden, weil sie an jedem Arbeitstag für viele Stunden in Gruppen Fremdbetreuung untergebracht sind. Diese Probleme scheinen besonders ausgeprägt für Kinder im Alter zwischen 6 und 30 Monaten zu sein, sobald sie von fremden Menschen anstatt von einer Bezugsperson, die sie gut kennen und der sie vertrauen, versorgt werden. Meine Überzeugung wächst, und wird von vielen im Gesundheitswesen geteilt, dass daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten vielleicht nur die Spitze eines Eisbergs sind, und dem Ganzen verbreitete, unterschwellige psychische Störungen zugrunde liegen, die die zukünftige emotionale Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und das spätere seelische Gleichgewicht von Kindern beeinflussen“ [14].

Der stille Kontextwandel der Erziehung

Dass frühe Fremdbetreuung zum „normalen“ Aufwachsen dazugehört, müssen wir als Ausdruck einer veränderten Auffassung über Elternschaft deuten, die zugleich im selbstverstärkenden Sinne das Elternsein verändert. Man könnte von einem Kontextwandel sprechen, der sich in der DDR bereits vollzogen hatte:

Für die Kindererziehung stehen primär nicht mehr natürliche Beziehungspersonen in der Verantwortung, sondern Institutionen und Experten.

2019 besuchten in Deutschland 35 % der Kinder unter drei Jahren eine Krippe, im ehemaligen Ostdeutschland waren es durchschnittlich 52 % und ginge es nach dem Wunsch der Eltern im ganzen Land, würden es 60 % gewesen sein [Statistisches Bundesamt Destatis 1.3.2019]. In Zahlen ausgedrückt wurden 829.200 Kinder (unter 3 Jahren) fremdbetreut. Gegenüber dem Vorjahr 2019 waren es im März 2020 bereits 10.700 Kinder mehr und der Trend ist steigend. Frühe Fremdbetreuung ist also weder ein Einzelfall, noch findet sie gegen den Willen der Eltern statt. Kinderkrippen können Kinder bereits ab drei Monaten in ihre Obhut nehmen. Lieber haben es die Erzieher jedoch, wenn frühestens ab einem halben Jahr das Kind in die Gruppe kommt.

Die Situation der Eltern

Die meisten Eltern geben ihre Kinder nach dem ersten Geburtstag in die Krippe. Dann endet das regulär bezahlte Elternjahr und vor allem die Mütter der Kleinen suchen neben dem finanziellen Aspekt der Erwerbstätigkeit wieder Anschluss im Berufsleben. Für viele Arbeitnehmer hieße eine dreijährige Pause einen Karriereknick oder nach der Rückkehr ins Arbeitsleben gleich die fristgemäße Kündigung zu erhalten. Unter diesem Blickwinkel streben viele Eltern wieder das Berufsleben an. Möglich ist dies oft nur durch einen Krippenplatz für das Jüngste.

Die Situation in den Krippen

Die einzigen zwei größer angelegten Studien, die es in den vergangenen Jahren über die Qualität in deutschen Kitas gibt, offenbarten alarmierende Missstände: Schon bevor der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab einem Jahr umgesetzt wurde, stellte die Nationale Untersuchung zur Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit [NUBBEK 2015] fest, dass lediglich 3,2 % der Kitas für unter 3-Jährige einen guten bis sehr guten Qualitätsstandard aufwiesen [15]. Die DKLK-Studien 2019 und 2020 bezeichneten die Personalsituation in deutschen Kitas als dramatisch, Mehr als 90 % mussten in den vergangenen 12 Monaten zumindest zeitweise mit einer bedenklichen Personalunterdeckung arbeiten, sodass die Aufsichtspflicht nicht mehr gewährleistet war [16].

Ein Großteil der Erzieher:innen arbeiteten an ihrer Belastungsgrenze [17]. In dieser Situation verbrachten und verbringen Babys und Kleinkinder viel Zeit – häufig acht Stunden und mehr – in zu großen Gruppen mit häufig wechselnden Erzieher:innen. Die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation bei unter 3-Jährigen in den letzten beiden Jahren war bei weit über 90 % schlechter als die wissenschaftlich geforderte Zielgröße von 1:3. Insgesamt verschärfte sich der Fachkräftemangel in der Frühpädagogik im letzten Jahr weiter [18]. Aber wissenschaftliche Studien zeigen:

Eine feinfühlige, verlässliche Beziehung zwischen Erzieher:in und Kind ist der zentrale Faktor für eine gute Betreuungsqualität.

Aus entwicklungspsychologischen Gründen ist es daher notwendig, dass die Fachkraft-Kind-Relation von 1:3 für Kinder unter 3 Jahren nicht überschritten und möglichst ohne Betreuerwechsel bei einer Gruppengröße von 6 höchstens 8 Kindern gewährleistet wird [19, 20, 21].

Die Situation der Erzieher:innen

Die grundsätzliche Problematik des Fachkräftemangels wurde in den letzten Jahren vor allem durch die rasche Erweiterung der Krippenplätze, aber auch durch vergleichsweise geringe Bezahlung und anhaltenden Stress am Arbeitsplatz verursacht. Der hohe Krankenstand, die große Fluktuation und das häufige Aufgeben des Berufs sprechen für sich.

Bisher gibt es keine verlässliche Perspektive für eine Lösung des massiven Mangels an Erzieher:innen.

Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit der TU Dortmund wird es bis 2025, selbst ohne Qualitätsverbesserungen, voraussichtlich eine Personallücke von insgesamt fast 330.000 Erzieher:innen geben. Wenn Qualitätsverbesserungen eingerechnet werden, wäre es sogar eine Personallücke von insgesamt ca. 600.000 ErzieherInnen. [22]

Wörtlich heißt es in der Studie: „(…) Es wären fast genauso viele, wie es heute schon gibt (…) eine Größenordnung, die unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht wirklich vorstellbar ist.” Die Wirkung des Gute-Kita-Gesetzes wird von den Kita-Leitungen als kritisch bewertet, weil oft falsche Prioritäten gesetzt würden. Für die Mehrheit ist das Gute-Kita-Gesetz nur „ein Tropfen auf den heißen Stein” [23]. Aufgrund des Personalmangels mussten u. a. 75 % der Befragten 2019 auf Fort- und Weiterbildung verzichten.

Eine gute Qualität in Krippen hängt hauptsächlich von einer verlässlichen, bedürfnisorientierten Begleitung der Kinder durch die Erzieher:innen ab. Unbenommen ihrer pädagogischen Kompetenz, wie der Fähigkeit zu Empathie, Geduld, Übersetzung der kindlichen Sprache, sind die Erzieher:innen auf Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen ermöglichen, sich sowohl auf einzelne Kinder als auch auf die Gruppe zu konzentrieren.

Sie müssen Zeit und Raum haben, die Kinder kennenzulernen und sich ihnen individuell zuwenden zu können. Nur so sind sie fähig, die Stress-Signale des Kindes zu erkennen und diese möglichst zeitnah und angemessen zu regulieren.

Dies ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kaum möglich.

Von außen ist die Qualität der pädagogischen Arbeit für Eltern nicht einfach zu beurteilen z. B. ob das Kind als Persönlichkeit wahrgenommen und individuell auf seine Bedürfnisse und Emotionen eingegangen wird.

Szenen aus dem Krippenalltag

Protokoll aus der einjährigen Kleinkindbeobachtung von Michael Poweleit:

Hermann verbingt den Tag in seiner Gruppe der Zwei- bis Dreijährigen. Er ist mit seinen 2 Jahren und einem Monat schon ein erfahrenes Krippenkind, da er seit dem 13. Lebensmonat die Krippe besucht und dennoch können wir miterleben, wie intensiv er die körperliche Nähe und Zuwendung seiner Erzieherin braucht.

10 Uhr: In der Gruppe herrscht großes Geschrei. Mehrere Kinder weinen bitterlich. Hermann befindet sich wie beim letzten Mal zwischen den Beinen von Frau B. (Erzieherin). Er hat den Schnuller im Mund. Es wird mit Kastanien und Pfeifenreinigern gebastelt. Drei oder vier Kinder sind um Frau B. herum, zeigen ihr „Sachen“, wollen Hilfe, sind sehr eifrig dabei. Hermann wirkt eher passiv. In dem kleinen Kreis ist es ruhig, während drum herum viel Lärm und eine weitere Erzieherin stark gefordert ist mit den weinenden und streitenden Kindern. Aber die Atmosphäre ist nicht besonders gespannt, da beide Erzieherinnen Ruhe ausstrahlen. Es ist so turbulent, dass ich Mühe habe, mich auf Hermann zu konzentrieren. Gleichzeitig spüre ich etwas Enttäuschung darüber, dass er wieder mit dem Schnuller im Schoß von Frau B. zu finden ist und denke an ihren „Kampf“ gegen den Schnuller vor einer Woche. Die weinende Gruppe begibt sich in den Toberaum und Ruhe kehrt ein. Frau B. wechselt den Platz. Zunächst reagiert Hermann überhaupt nicht merklich, dann geht er ihr langsam nach und erobert sich (wieder) „seinen“ Platz. Er ist ganz umfangen von Frau B., drückt sich mit dem Rücken an ihren Bauch. Ihre Arme, mit denen sie hantiert rahmen ihn ein. Frau B. ist sehr in Anspruch genommen, muss helfen und aufpassen. Hermann kann die Umarmung offenbar gut vertragen. Er schaut aufmerksam zu. Frau B. ist nicht eindeutig, man sieht, dass sie immer versucht Hermann in Abstand zu ihr zu beschäftigen, dass sie aber auch seinem Bedürfnis nach ihrer Nähe gerne nachgibt. Ich merke, dass ich den Anblick der beiden für sich genommen recht schön finde, aber in mir ist auch so etwas wie: Hier ist doch ein Kindergarten, da sollte doch etwas anderes sein. Für mich sieht es aus, als ob ein kombiniertes Wesen Hermann-Frau B. mit den Kindern bastelt. Als sie erneut den Platz wechselt, folgt ihr Hermann nach kurzem Zögern, als ob er für einen Moment probiert, wie es ist, allein zuzuschauen. Dann entscheidet er sich, wieder zu Frau B. zugehen um von ihr umfangen zu werden. Frau B. versucht ihn in die Bastelarbeit zu integrieren, aber für ihn scheint es das Wichtigste zu sein, zwischen ihren Beinen und Armen zu stehen.

Aus der zweijährigen Kleinkindbeobachtung von Margarete Pardo-Puhlmann:

Ella, 2 Jahre und einen Monat alt, kam mit einem Jahr in die Krippe. So ist ihr diese Umwelt jetzt wohl bekannt.

Ella schlendert mit einer Babypuppe auf dem Arm allein und langsam vor sich hin. Im Gewusel der anderen Kinder wirkt ihr langsames Schlendern wie eine Entschleunigung, ein Ruhemoment im Gegensatz zu der sie umgebenden Lautstärke und Schnelligkeit. Sie hält die Puppe liebevoll und sicher im Arm, wie man auch ein Baby tragen würde, denke ich. Der eine Arm hält die Puppe am Po und unterem Rücken fest, die andere Hand stabilisiert den Nacken und das Köpfchen, was ganz sanft an ihrer Schulter ruht. Sie schaut den anderen Kindergruppen beim Vorbeischlendern zu, wie sie am Tisch sitzen und etwas malen, in der Bauecke sitzen und etwas bauen. Eine Verbundenheit ist mit dem Baby auf dem Arm vorhanden, ansonsten wirkt sie im Raum allein und auch etwas verloren dabei. Ihr Blick ist schon auch suchend nach Anbindung, aber gleichzeitig hat er etwas Resigniertes, drückt er auch eine Art Gewissheit der Unverbundenheit aus, er wirkt ganz und gar nicht gelassen, fröhlich oder leicht. Mit der Puppe auf dem Arm geht sie dann zur Erzieherin Berit, die mit anderen Kindern an einem Tisch sitzt. Ella fragt sie, was sie machen. Berit antwortet, dass sie Ketten machen und fragt, ob sie auch eine machen möchte, was Ella verneint. Sie schuckelt dabei etwas mit ihrem Körper, als wolle sie sagen, ich bin ja beschäftigt mit meinem Baby hier, ich frage nicht, weil ich eine Beschäftigung suche oder brauche. Auf Ellas Nein herrscht Stille. Für Berit hat sich das Gespräch damit erledigt. Ella steht noch einen ganzen Moment da und schaut Berit an, die gleich nach dem Nein wieder still auf ihr Band schaut, auf das sie selber Perlen aufzieht.

Ella dreht sich dann nach einer gefühlten Minute um und geht in die Puppenecke. Sie legt sich da auf das Sofa und holt sich alle umher liegenden Puppen heran, so dass sie letztlich fünf Puppen an ihre beiden Seiten liebevoll hinlegt und sich dann zwischen sie legt. Sie schaut aus dieser Ecke in den Raum und beobachtet immer abwechselnd beide Erzieherinnen. Ella sieht einsam und wie verlassen aus, es ist kein freudiger, aktiver Blick sondern eher traurig beobachtend, resigniert. Sie liegt sehr sehr lange, sicher über 20 wenn nicht sogar 30 Minuten so da. Ab und zu dreht sie sich auch ganz nah an den Kopf von einer der Puppen und schaut sie ganz lange an. Ich habe den Gedanken, die Phantasie, dass es so aussieht, als sehe sie ein echtes Baby an und prüfe, ob es atmet, ihr Blick wirkt dabei so angespannt und irgendwie besorgt horchend. Sie redet dann auch ab und zu in diesen Momenten mit dem Baby, aber in einer Als-Ob-Manier. Ihre Gesichtszüge sind spielerisch verzogen, sie klappt ihre Augen betont zu, ihre Mimik ist sehr betont, so als sage sie etwas Belehrendes, als sei sie die Erwachsene. Ich höre ihre Worte nicht, aber es ist wie eine Art Gesäusel von ihren Lippen abzulesen. Diese Zeit fühlt sich für mich unendlich an.

Nach dieser ganzen Weile hat sie die andere Erzieherin Linda wieder im Visier, sie nimmt sich eine Puppe und eine Puppenjacke aus der Sofaecke und geht zu dieser Erzieherin. Diese sitzt an einem anderen Tisch und hilft den Kindern mit Bauklötzen Garagen für Autos zu bauen, sie sitzt da und gibt verbale Hilfestellungen, wie es geht. Ella geht direkt zu ihr hin, sie behält sie während des ganzen Weges im Blick und fragt, als sie bei ihr ankommt, ob sie helfen kann, die Jacke anzuziehen. Die Erzieherin atmet deutlich, ein wenig genervt anmutend aus, fängt sich scheinbar wieder und zieht der Puppe wortlos die Jacke an. Ella steht daneben und schaut sie dabei an. Der Blick wirkt schüchtern, nicht mehr erwartungsvoll, ich habe das Gefühl sie erlebt sich nun selber als Störenfried mit ihrem Anliegen. Als die Jacke fertig angezogen ist, übergibt die Erzieherin die Puppe an Ella und dreht sich weiterhin wortlos bleibend um 90 Grad wieder in Richtung Tisch, weg aus Ellas Gesichtsfeld. Ella geht zurück auf ihr Sofa, setzt sich und starrt leer in den Raum. Während sie sich setzt, zieht sie wie mechanisch der Puppe die Jacke wieder aus, ohne auch nur hinzusehen.

Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen?

Da die außerfamiliäre Betreuung so selbstverständlich geworden ist, wird nicht bedacht, dass die „Notwendigkeit” früher Fremdbetreuung nicht von den Kindern ausgeht.

Ebenso wenig wird gefragt, ob und wie die Fremdbetreuung als vereinheitlichender Teil der Frühsozialisation unserer Kinder, in ihnen (und künftigen Erwachsenen) einen kollektiven „Wandel einiger Persönlichkeitseigenschaften” nach sich ziehen könnte. Ich meine damit „Grundeigenschaften der Persönlichkeit”, die durch die mit dem Krippenalltag verbundenen Lebensbedingungen und Forderungen „unausweichlich” eingeschränkt oder gefördert werden.

Ich vermute, dass sich die „innere Fähigkeit mindert“, sich auf verbindliche Bezogenheit und Trennung mit allen damit verbundenen Gefühlen und Umständen einlassen zu können, ohne sich bedroht oder ohnmächtig zu fühlen, hoffnungsvoll zu bleiben, statt aggressiv zu agieren oder psychosomatische Symptome zu entwickeln.

Dagegen könnten die sozialen Anforderungen an die Kleinstkinder ihre „innere Motivation bestärken“, autark sein zu wollen, sich flexibel anzupassen, sich Gleichaltrigengruppen anzuschließen, sich letztlich weniger auf Menschen zu verlassen, als sich an materielle Dinge, an Besitz zu binden.

Solcherart Veränderungen fallen im Kleinkindalter nicht auf. Im Gegenteil, sie sind ein unbewusstes Rüstzeug sich als Erwachsener zu bewähren. Aber vermutlich können sie das soziale „Klima einer Gesellschaft“ verändern:

  • „Verbindlichkeit von Beziehungen“, gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Bezogenheit weicht der Unverbindlichkeit, Austauschbarkeit sowohl in Partnerschaften, als in Sozialbeziehungen, als am Arbeitsplatz.

Die moderne Arbeitswelt verlangt vom Arbeitnehmer Flexibilität und Mobilität, sie vernachlässigt Routine und die Bedürfnisse von Familie und Kindern, die nicht beliebig mobil sein können, so dass nicht selten „familiäre oder persönliche Beziehungen zerstört“ werden. Beschäftigte müssen sich hin und her schieben lassen, z. B. in Zeitverträgen. Verantwortung, Treue, Selbstgestaltung sind wenig gefragt, dagegen eine möglichst „widerspruchslose Anpassung“.

  • Das „Gewahr werden von Alleinsein, Getrenntsein“ und damit verbundener Sehnsucht nach einem intimen Kontakt und Austausch wird ausgelöscht durch materielle Dinge ersetzt, deren Verfügbarkeit sich absolut kontrollieren lässt.

Virtuelle Beziehungen im Internet, Dauertelefonate, online sein etc. dienen der Abwehr wahrzunehmen und zu erkennen, dass Alleinsein zwar aushaltbar, schwer erträglich ist, ohne in Aggression oder Ohnmachtsgefühle zu verfallen ist.

  • Selbstregulations-/Affektregulations- und Kommunikationsfähigkeit sind jedoch basale Voraussetzungen für das emotionale und intellektuelle Lernen. Frühe Förder- und Bildungsprogramme sind angewiesen auf diese basalen Fähigkeiten. Sie entfalten sich im ko-konstruktiven Wechselspiel mit der Mutter (und dem Vater) entlang von Interaktionszyklen. Man kann es nicht oft genug betonen: Für diese Entwicklung brauchen Kinder und Eltern ausreichend Zeit besonders in den ersten Lebensjahren. Ein Aufenthalt in der Kinderkrippe kann diese überwiegend dyadischen* Lernerfahrungen nicht bieten.* Dyade bezeichnet eine intensive soziale Beziehung zweier Personen.
  • Der sekundäre Narzissmus, also der (unbewusste) Wunsch nach Bestätigung, großen Effekten, Bewunderung nimmt zu, da es an früher affektiver Spiegelung mangelte und der primäre Narzissmus (echte Selbstliebe) nicht ausreichend befriedigt wurde. Weil echte Selbstliebe Fürsorge, Mitgefühl und Besorgnis für andere impliziert, müssen wir mit einer abnehmenden Bereitschaft rechnen, sich anderen rücksichtsvoll zuzuwenden. Es wird kälter zwischen den Menschen.
  • Angesichts der zunehmend vorgegebenen, vereinheitlichenden Lebensformen nimmt die „Vielfalt möglicher Lebensformen” ab. Die Toleranz gegenüber der Vielfalt besteht nur scheinbar, weil es sich eher um Gleichgültigkeit, Desinteresse handelt.

Wir treffen auch auf „augenfällige Störungen”, also emotionale und soziale Auffälligkeiten und Pathologien, auf die auch verschiedene Langzeit-Studien hinweisen [24, 25, 27]. Ich denke an Impulsdurchbrüche, Vorherrschen von Bedrohungsgefühlen (sich angegriffen – verfolgt fühlen) und daraus entstehende primitive Ängste und Affekte wie Wut, Panik in Stresssituationen oder bei Konflikten sowie an aggressive Gespanntheit. Ich denke an motorische Unruhe und mangelnde Zentrierung in Anforderungssituationen, wie sie die Schule bietet.

Allen diesen Auffälligkeiten ist gemeinsam, dass sie an eine primitive körperliche Ebene gebunden sind und nicht „gedacht“ werden können. Anders gesagt, die Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein lösungsorientiertes Stressmanagement sind geschwächt.

Im Zusammenhang mit dem Kontextwandel, wäre eine weitere Frage zu stellen: Was treibt die Promotoren der frühen institutionellen Fremdbetreuung an und was erhoffen sich die Eltern davon, trotz vieler Zweifel, so früh ihr Kind fremden Einflüssen zu überlassen? Diese Frage sollte uns unabhängig davon, wie schlecht oder gut die Qualität der frühen Fremdbetreuung ist, beschäftigen. Denn derzeit können wir angesichts des katastrophalen Personalmangels nur sagen: Was tun wir den Kindern an? Wieso beschädigen wir derartig die nachfolgende Generation, die in Zukunft die Verantwortung für uns und die Welt tragen wird?

Stimmen der Eltern

Eltern äußern sich nicht gleichgültig, hart oder kalt. Aber sind sie wirklich davon überzeugt, wofür sie sich entschieden haben und was sie tun?

Die hochschwangere Frau P. ist verzweifelt. So lange habe sie sich gegen das Schwangersein gewehrt. Endlich fühle sie sich mit ihrem Baby verbunden, da müsse sie sich schon wieder trennen. Ich frage sie: „Wieso das?“. Sie antwortet: „Heute habe ich den Krippenplatz für unsere C. angemeldet, das muss man so früh machen, sonst hat man keine Chance.“

Frau Z. ist selbst mit 6 Wochen in die Krippe gekommen, weil ihre alleinerziehende Mutter ihre berufliche Hochschulkarriere nicht unterbrechen wollte. Darunter hat Frau Z. als Kleinkind sehr gelitten. Jetzt meint sie: „Zehn Monate zu Hause reichen mir, obwohl mir die Kleine leidtut.“

Frau P. will nach dem 12. Lebensmonat wieder in den Beruf einsteigen: „Ich fühlte mich heute so schrecklich wertlos. Als ich mich am Montag im Konzern zurückgemeldet habe und wegen des zweiten Kindes nur noch 30 Stunden arbeiten wollte, hat man mir gesagt, meine Stelle sei gestrichen worden. Ich sei entlassen. Aber heute habe ich im Internet die Ausschreibung meiner Stelle gesehen.“

Herr W. spricht über seinen 12 Monate alten Sohn: „Ich gebe ihn morgens ab, da weint er nicht so sehr wie bei seiner Mama. Vielleicht weil ich etwas gefasster bin.“

Herr O. meint mit Blick auf die anstehende Krippenaufnahme: „Zeitlich bedeutet das schon eine große Umstellung für das Kind, aber wir müssen eben zusehen, wie wir unseren Lebensstandard halten.“

Herr D. verschiebt die schwere Trennung auf das Krippenpersonal: „Ich hatte mir von der Eingewöhnungszeit mehr erwartet, schließlich werden die Erzieherinnen doch dafür bezahlt, dem Kind die Krippe schmackhaft zu machen.“

Frau Y. hat ein schlechtes Gewissen: „Mir blutet das Herz, ihn weggeben zu müssen. Aber ich muss es tun, sonst verdienen wir nicht genug. Als ich das meiner Psychotherapeutin sagte, antwortete sie mir: ‚Seien sie nicht so undankbar. Sie haben doch eine Krippe gefunden, die ihnen gefällt.‘ Dass ich mir Vorwürfe mache, wollte sie nicht hören.“

Frau B. gehört zu den wenigen Eltern, die es wagen ihre Zweifel offen zu zeigen. Sie spricht von ihrem Bauchgefühl, das sie zögern lässt ihre kleine Tochter – sie ist ihr drittes Kind – mit 1,5 Jahren in die Kita zu geben. „Zwar ist alles dort wunderbar gestaltet mit viel Holz, didaktischem Spielzeug, netten Erzieherinnen und mein Kind ist freundlich auf Erwachsene und Kinder zugegangen. Aber in einer Gruppe, meinte sie, seien 2 Erwachsene mit 8 Kindern unter zwei Jahren, da käme es schon vor, dass sie nicht gleich helfen könnten oder alle im Blick hätten.“

Frau B. fühlt sich mit ihrer Frage alleine gelassen: „Wann ist mein Kind reif genug für die Kita, einen Alltag ohne meine Anwesenheit?“ Denn ihre gesamte Umgebung wundere sich, dass das Kind nicht mit 12 Monaten in die Krippe gekommen sei. Kinder brauchten den Aufenthalt dort, um soziale Kompetenz zu erlernen. Das zweifele sie nicht an, aber ab wann ist das Ich des Kindes stark genug, um die Anforderungen nicht durch Anpassung lösen zu müssen und den Stress körperlich auszubaden?

Wieder andere Eltern suchen nach einem dritten Weg, so Eltern C.: „Zum Glück können wir auf die Großeltern zurückgreifen, bis wir den Platz bei der Tagesmutter haben, auch wenn es uns unangenehm ist, wieder von ihnen abhängig zu sein.“

Frau K. spricht über eine überraschende Wendung:Ich dachte, nach 6 Monaten gehe ich wieder arbeiten, aber beziehungstechnisch muss ich nun umpolen, weil ich nicht erwartet habe, dass ich so an ihr hänge.“

Sie berichtet, dass es nun unglaublich schwer sei, dem Arbeitgeber ihre Sinnesänderung beizubringen. Auch das Erziehungsgeld könne nicht einfach auf 12 Monate verlängert und ihr Krippenplatz nicht freigehalten werden.

Viele suchen nach einer „kindzentrierten“ Begründung, ihr Baby mit 12 Monaten in die Krippe zu geben, die ähnlich lauten könnte wie die des

Elternpaars C.: „Wir Eltern können der Kleinen nicht so viel Anregungen bieten wie die Krippe.“

Oder Elternpaar M.: „Man kann die Kinder nicht früh genug daran gewöhnen, sozial kompetent zu werden und sich an die Realität anzupassen.“

Die Paradoxie der Erziehung

„Die Familien” befinden sich in einer paradoxen Situation. Einerseits gewähren Mütter und Väter den Kindern in den ersten 12 Lebensmonaten weitestgehend, was sie brauchen. Gleichzeitig sehnen sich viele Eltern regelrecht nach der Krippenaufnahme, weil sie die Abhängigkeit und Kleinheit des Kindes als bedrohlichen Zustand erleben. Andererseits wollen sie die Bedürfnisse des Kindes bis zur Selbstverleugnung befriedigen, nicht zuletzt, weil sie die frühe Elternschaft mit ihren eigenen, inneren, unbewussten Säuglingserfahrungen in Kontakt bringt.

So reagieren bei der Geburt ihrer eigenen Kinder ehemalige Krippenkinder häufiger und schwerer als in der Fachliteratur angegeben, mit psychischen, psychosomatischen und somatischen Störungen. Dadurch war es ihnen dann auch schwerer möglich, sich empathisch auf ihr Baby einzulassen. [28]

Mit der frühen Fremdbetreuung entziehen sich die Eltern weitgehend ihrer natürlichen Bedeutung ab dem 12. Lebensmonat. Man könnte auch sagen, sie verlieren ihre Autorität, da sie sich aus der Betreuung ihrer Kinder zurückziehen.

Gesellschaftliche Widersprüche

„Die Gesellschaft” befindet sich ebenfalls in der paradoxen Situation, da einerseits so viel wie noch nie Wissen über die menschliche Entwicklung und die basalen Anforderungen für eine gute Entwicklung bekannt ist: dank bildgebenden Verfahren in der Medizin und biochemischer Untersuchungen, dank erleichterter visueller-auditiver Dokumentation von Beobachtungen und experimentellen Situationen, dank sorgfältiger teilnehmender Beobachtungen, dank elektronischer Verarbeitung der Daten.

Wir wissen, dass sich im Zeitfenster der ersten Lebensjahre das limbische System entwickelt und wesentliche Reaktionsmuster geprägt werden, die die Fähigkeit zur Theorie of Mind, Reflexion, Empathie, Altruismus, psychischer Stressbewältigung ausmachen.

Wir müssen davon ausgehen, wenn die erste Zeit des intensiven Zusammenlebens zu kurz ist, führt die frühe öffentliche Erziehung zu einem „Mangel an Spiegelungen” d. h. emotionaler Zustände und damit zu unzureichender Aktivierung der Spiegelneuronen, die für unser Empathievermögen Voraussetzung sind.

Ebenso wird die „Denkfähigkeit”, die ausgelöst und angeregt wird durch den Versuch einen anderen zu erkennen, unzureichend angeregt, wenn kein anderer da ist, den man entlang eines ständigen Hin und Her im Austausch erkennen kann.

So bleiben die „inneren Arbeitsmodelle” vom Anderen und damit von sich selbst „instabil, schwach” und wenig hoffnungsvoll.

Ein Kind, das zu wenig Fähigkeiten hat, sein Ungleichgewicht zu regulieren, ob ausgelöst durch innere Vorgänge oder von außen, fühlt sich schnell bedroht, angegriffen, verfolgt und reagiert deshalb schnell aggressiv. [29]

Kinder sind von Natur aus altruistisch und unser Körpersystem ist entsprechend ausgerüstet, intrinsisch, also dass wir aus eigenem Impuls heraus altruistisch sein können:

Spiegelneuronen, Belohnungszentrum, Oxytocin sind drei wesentliche angeborene Helfer, die jedoch erst durch die freundliche zwischenmenschliche Erfahrungen aktiviert werden müssen.

Wir wissen, dass sich die Darm-Hirn-Achse, die das „Darmhirn” und das „Kopfhirn” miteinander verbindet, in den ersten Lebensjahren aufgebaut wird [29].

Wir wissen von der entwicklungshemmenden Wirkung des Stresshormons Cortisol auf die höhere Nerventätigkeit. Wenn wir den „natürlichen” Gruppenstress in der Kita einbeziehen, dann ist nicht verwunderlich, dass die Kleinkinder das Stresshormon Cortisol vermehrt bilden.

Cortisol hemmt die Immunabwehr des Körpers und es hemmt den Ausbau der neuronalen Verbindung zwischen dem Mittelhirn und der Großhirnrinde, so dass die bewusste, gedachte Selbstwahrnehmung behindert wird: Was ist mit mir los? Was muss ich tun? Stattdessen kommt es zu primitiven Angstreaktionen, Explosionen, Körpersensationen u. Ä.

Wir wissen, dass die Krippenbetreuung unabhängig von welcher Qualität, die körpereigene Produktion von Cortisol erhöht bzw. nach anhaltendem Stress die Cortisolbildung erheblich senkt.

Wir wissen um den lebhaften Dialog der Babys, selbst der Frühgeborenen mit dem pflegenden Anderen, über ihre feinen Reaktionen, ihre Streben nach Verbindung von Anfang an.

Wir wissen um die Einzigartigkeit der Primärbeziehungen.

Internationale Studien weisen auf erhebliche Veränderungen in den Verhaltensmustern, Erkrankungsneigungen, sozialen Störungen etc. hin, wenn die Trennung von den primären Bezugspersonen zu früh, also in den ersten 24 Monaten geschieht.

Die amerikanische NICHD Studie weist auf negative Veränderungen der Mutter-Kleinkind-Beziehung im Zusammenhang mit einer frühen Krippenbetreuung hin. Kinder und Mütter ziehen sich voneinander zurück. [27]

Eine Studie über Auswirkungen außerfamiliärer frühkindlicher Betreuung (AFB) auf die Entwicklung psychischer Verhaltensauffälligkeiten, Risikoverhalten, Schulleistung im Vergleich zur elterlichen Betreuung kommt zu dem Ergebnis, dass ein frühes Eintrittsalter in die Krippe unter 12 Monaten unter anderem mit signifikant höheren psychischen Auffälligkeiten im Jugendalter korreliert [30].

Dagegen wird emotionales Lernen entlang von Bindung und Verbindung im intersubjektiven* Beziehungsraum, ja die Gesetzmäßigkeit des Lernens überhaupt – über die wir nunmehr wirklich viel wissen, ignoriert oder klein geredet. Wie in der DDR wird frühen Beziehungen und Verbindung wenig Bedeutung für die Entwicklung beigemessen.

* von mehreren Personen in gleicher Weise nachvollziehbares Geschehen

Kinder brauchen in erster Linie Zeit und Geduld. Ganz zu schweigen davon, dass wir unbedingt das

„Recht auf Bindung von Geburt an als ein Menschenrecht” ansehen müssen.

Bindung und Verbindung sind in den Augen der Konsumantreiber eine gefährliche Quelle, weil sie nicht kontrollierbar sind und sich nicht zum Konsum und Geldausgeben eignen.

Andererseits hält man seit 2012 in der Bundesrepublik Deutschland am Ausbau der Krippen und dem Recht auf einen Krippenplatz ab dem 13. Lebensmonat sowie einer Propaganda und Versprechen fest, die Krippe sei der beste/bessere Entwicklungsort sogar unter den katastrophalen personellen Bedingungen, die 330.000 fehlende Erzieher:innen bieten.

So werden den Kleinkindern wesentliche Lernmöglichkeiten vorenthalten. Hierin unterscheidet sich die DDR-Politik nicht von der in unserer jetzigen BRD – auch, wenn die Erziehungspraxis jetzt deutlich kindzentrierter ausgerichtet ist.

Es ist für ein Kleinstkind einfach nichts Gutes an einer Frühaufnahme in die Krippe bevor es ausreichend sprechen kann, sicher laufen kann, selbstständig essen kann und sich selbst beruhigen kann – den Erwachsenen als Bezugsobjekt weniger als Gleichaltrige braucht.

  • Sich täglich zu trennen und wieder zusammen zu kommen, sind für ein Kleinstkind innerlich bewegende Übergänge, in denen es auf das Engagement (und die Fähigkeit) seiner Eltern und Erzieher angewiesen ist, dass sie liebevoll und geduldig zwischen den unterschiedlichen Erfahrungswelten eine „Brücke“ schlagen, damit sich das Kind verbinden und entbinden kann.

Darüber hinaus braucht es seine Eltern, um seinen anstrengenden „Arbeitstag“ – mag die Betreuung noch so gut gewesen sein – emotional zu verdauen. Es braucht ihre nachdenkliche Empfindsamkeit, um Missmut, „Jammrigsein“, Unlust oder Wut, deren Ursache es selbst noch nicht versteht, bei ihnen loszuwerden.

Wenn die Eltern sich in ihr Kind hineinversetzen und dann eine passende Lösung finden, fühlt es sich nicht nur erleichtert, sondern es wächst auch seine innere Überzeugung: „Meine Eltern können mir wirklich helfen“.

Alles spricht dafür, dass eine Krippenaufnahme nicht vor dem 24. Lebensmonat erfolgen sollte. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass ca. 25 % der Eltern schon sehr früh eine Unterstützung im Elternsein brauchen, weil sie psychisch oder körperlich krank sind, in prekären Verhältnisse leben, beide berufstätig sein müssen oder als Alleinerziehende ohne Betreuungshilfe leben.

Für diese 25 % müsste die Betreuung exzellent – so haben es Studien ergeben – sein, um die Defizite im Familiensystem ausgleichen zu können.

Aktuelle Erziehungstrends

Der Trend zur frühen institutionellen Erziehung ist m. E. unumkehrbar. Wir müssen uns ernsthaft fragen, wieso werden Kleinstkinder in die völlig unzureichend ausgestattete Kinderkrippe gegeben, obwohl wir wissen, dass diese Umstände sie zumindest behindern, wenn nicht sogar beschädigen. Wir müssen nach dem unbewussten Motiv für diesen Widerstand suchen.

Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand

Der Widerstand hat mit den „inneren Voraussetzungen” in den Eltern zu tun, nämlich mit ihrer Bereitschaft und Fähigkeit sich auf das abhängige Kind einzulassen, seine Bedürfnisse zu erkennen, ohne sich in ihnen zu verlieren oder angeödet zu sein, sich zu langweilen.

Und er hat mit den „äußeren Bedingungen” der Gesellschaft zu tun, auf die ich im Folgenden eingehen möchte:

  • Dem Fehlen einer echten Wahlmöglichkeit in den ersten Lebensjahren zwischen Erziehungsarbeit und Berufstätigkeit.
  • Sozialer Wohlstand und die Umverteilungssysteme der sozialen Marktwirtschaft ersetzen schrittweise die ehemaligen überlebenswichtigen Funktionen der Familie: Wesentliche Aufgaben an Dienstleistungen werden outgesourct. So etwa in der Altenpflege, Kinderpflege, unter der Geburt … und befreien den Einzelnen von familiären Bindungen.
  • Der gesellschaftliche Stellenwert der Frauen misst sich an ihrer „Arbeitsplatzverwertbarkeit” für die Volkswirtschaft [vgl. 31].
  • Fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Familienarbeit, einseitige Anerkennung der Berufstätigkeit und mangelnder Respekt vor jungen Familien.
  • Ausbleibende Förderung der Männer und einer grundlegenden Änderung der Elternschaft: leben zu dritt. Letzteres ist vermutlich der größte Mangel.

Woher kommen die Widerstände?

Ich möchte an dieser Stelle das „gesellschaftliche Unbewusste“ einbeziehen, weil es m. E. wesentlich den „Widerstand“ gegen Befunde und Studien erklärt, die die Risiken der Frühtrennung und institutionalisierten Frühbetreuung und die katastrophalen personellen Umstände unter denen Kleinstkinder versorgt werden, deutlich machen.

Das Bild vom Kind in der Gegenwart geht davon aus, dass ein Kind für seine Entwicklung Unterstützung braucht. Dieses Bild spricht von Einfühlung und Respekt gegenüber allem was im Kind vor sich geht, was es braucht.

Aber es gibt eine starke gesellschaftspolitische Tendenz, den Begriff „Unterstützung”, umzudeuten in „dem Kind von Geburt an frühzeitig etwas beibringen zu müssen”, wie Sprachen, Musik, Turnen, motorische Fertigkeiten, Selbstständigkeit, es frühzeitig sozial zu trainieren, es leistungsfähig zu machen, denn das Kind habe ein Recht auf Bildung! Nach der Devise „fördern und fordern”. Das können am besten Experten für Kinder. Dazu passt die Krippenbetreuung sehr gut. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken und Bedingungen werden nicht nur von einer gewachsenen Empathie für kindliche Bedürfnisse getragen. Sie transportieren auch einen „unbewussten Aspekt des Bildes vom Kind”, der gesellschaftlich Unbewusstes also Tabuisiertes enthält [1], dass aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verdrängt werden muss:

  • Die Gesellschaft und ihre Mitglieder sind einer vorgegebenen Organisation ihres Lebens unterworfen, die hauptsächlich dem Konsum, der Sicherheit und dem Wohlstand dient. Die Bürger:innen sind „Organisationsmenschen”, die sich ständig ihre Zeit einteilen müssen, die flexibel und mobil sein sollen. Sie machen sich vor, sie hätten damit die Lage im Griff [vgl. 32].
  • Die Bürger:innen sollen ihre „Angst vor Einsamkeit und Beziehungslosigkeit” nicht wahrnehmen, ihre Bedürfnisse nach individueller Zuwendung und Bezogenheit verleugnen. Es handelt sich um die seelischen Bewegungen, die der Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit menschlicher Beziehungen ebenso der geforderten Flexibilität und Mobilität der modernen Leistungsgesellschaft im Wege stehen.
  • Unsicherheit und Ungewissheit werden abgewehrt, denn im „Zeitalter der Information” sind das die am wenigsten tolerierten Geisteszustände. Coolness, Sicherheit, Kontrolle sind die Leitwerte der Informationsgesellschaft.
  • Die Einzelnen unterwerfen sich der Mehrheit – auch, wenn sie anders denken, weil sie fürchten, geächtet und innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft isoliert zu werden: „Mit 12 Monaten in die Krippe. Es geht nicht anders, auch wenn es mir das Herz zerreißt.”
  • Der weibliche-mütterliche Part im Mann soll nicht wirksam werden. Männer sollen die patriarchalischen* Machtverhältnisse erhalten und als ökonomische Außenvertretung der Familie verbleiben. Auf primitive feministische/sexistische Weise wird ihnen unterstellt, dass sie die Pflege und Erziehungsarbeit nicht leisten wollen und können.

* männlich dominierenden

Vielleicht bietet aus diesen verschiedenen Gründen, die unbewusst bleiben sollen, die Politik den Eltern keine echten Wahlmöglichkeiten zwischen Familienbetreuung oder Fremdbetreuung an.

Zukunftsgedanken

Wenn ich in die Zukunft sehe, so hätte ich für die ersten Lebensjahre vor Augen, dass in den Familien ein „gleichgewichtetes Dreieck” entsteht zwischen Mutter-Vater-Kind. Väter und Mütter werden ganz selbstverständlich gleichberechtigt Verantwortung tragen und die Gesellschaft die familiäre Triade schützen.

Ich frage mich, wie es gelingen kann, in den ersten Lebensjahren die Frühtrennung, die Fremdbetreuung und den Rückzug der Eltern zu vermeiden?

Ich denke, der gesellschaftliche Beitrag könnte darin bestehen, dass sich „flächendeckend” die Krippen für die jungen Familien öffnen. Sie sollten eine respektvolle, freundliche Atmosphäre bieten. Dort könnte man täglich für einige Stunden gemeinsam den Alltag teilen in der Gemeinschaft mit anderen Familien. Man könnte gemeinsam spielen, denken, sprechen, essen, beobachten, voneinander etwas abschauen, auch Hinweise erhalten. Eine Kita für die ganze Familie. Raus aus der Isolation hinein in die Großgemeinschaft, die Anregung, Schutz und Hilfe bietet.

Ich denke daran, dass sich die Eltern „neue Werkzeuge” erschaffen müssen, die in erster Linie in der Fähigkeit bestehen, den Anderen unverzerrt wahrzunehmen. Dazu ist in der Regel die Hilfe von Dritten nötig, die diese Perspektive bestärken. In den ersten Lebensjahren ihrer Kinder sollten die Eltern unterstützt werden, sich zu üben im Nachdenken über ihre Kinder und sich selbst im Umgang mit ihren Kindern zu beobachten. Damit sie so wenig wie möglich an eigenen Ängsten und Erwartungen in die Kinder projizieren müssen und offen für das sind, was ihnen die Kinder entgegenbringen. Dann verschwinden Langeweile und Leere – besonders für Eltern mit eigenen frühen institutionellen Trennungserfahrungen.

Die Erzieherinnen im späteren Kindergarten sollten dies ebenso können: mit den Eltern gemeinsam nachdenken über das Kind, offen und fähig im gegenseitigen Austausch, Worte finden für das Erleben und Verhalten des Kindes.

Ich denke auch daran, dass die Berufstätigkeit in den ersten Lebensjahren der Kinder für beide Eltern gleichermaßen erhalten bleiben könnte, durch verkürzte Arbeitszeiten, Homeoffice, Epochalzeiten. Vorausgesetzt, dass ein auf mindestens 24 Monate verlängertes Elterngeld die Einkommenslücke schließt.

Ich denke daran, dass Kindergärten für Kinder ab drei Jahren Orte sind, an denen ihnen genügend verständnisvolle Erwachsene zur Verfügung stehen sollten.

Wir registrieren den Kontextwandel für das Großziehen von Kindern. Wir leben in Mitteleuropa nicht in einer Weltregion, in der es um das nackte Überleben geht. Wir können uns eine empathische Reaktion auf (früh)kindliche Bedürfnisse leisten.

von Agathe Israel

[1] Als Begriff taucht das Unbewusste häufig im Alltagsgeschehen auf. Wir meinem damit das persönliche Unbewusste, und es wird nicht selten mit einem Augenzwinkern dafür verantwortlich gemacht, wenn wir uns unerwartet anders verhalten, einen Fehler gemacht, etwas unterlassen haben. Das gesellschaftliche Unbewusste enthält Gefühle, Themen und Umstände innerhalb einer Gesellschaft, die verdrängt werden und nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft dringen dürfen, weil sie die bestehenden Kräfte, Werte, Moral aushebeln, stören könnten oder mit Zielen des bestehenden Macht- und Wirtschaftssystems kollidieren. Ein solches tabuisiertes Thema ist der Zweifel an der Notwendigkeit der frühen Fremdbetreuung für die frühkindliche Entwicklung in den ersten 24-36 Lebensmonaten.

[2] René Spitz 1995: Bilder über „Vom Säugling zum Kleinkind: Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1996.

[3] Schleißinger, Alexander (o.J.): Der Kindergarten und die Nationalsozialisten – Auswirkungen der NS-Ideologie auf die öffentliche Kleinkindbetreuung in den Jahren 1933- 1945, http://www.kindergartenpaedagogik.de/1735.html (18.1.2016).

[4] Berger, Manfred: „Heil Hitler Dir! Du bist und bleibst der beste Freund von mir“. Zur Kindergartenpädagogik im Nazi-Deutschland (1933-1945) – unter besonderer Berücksichtigung der Fachzeitschrift Kindergarten (1933-1942) www. Kindergartenpaedagogik.de/fachartikel geschichte-der-kinderbetreuung, 2021.

[5] Schmidt-Kolmer, E. (Hrsg): Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweisen der Krippen, VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1968, S. 19.

[6] Israel, A., Kerz-Rühling, I.: Krippenkinder in der DDR, Brandes&Apsel, FF.a.M., 2008.

[7] Schmidt, H.-D.: Erziehungsbedingungen in der DDR. In: Trommsdorf, G. (Hrsg): Sozialisation und Entwicklung von Kindern vor und nach der Vereinigung. Leske und Budrich, Opladen 1996, S.37 ff.

[8] Bunke, Florian: Wir lernen und lehren im Geiste Lenins … – Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR, Eine Schriftenreihe der Arbeitsstelle „DEFA-Filme als Quellen zur Politik und Kultur der DDR“ und des Bibliotheks- und Informationssystems der Universität Oldenburg, Band 5, Oldenburg 2005, 97 ff.

[9] Familiengesetzbuch der DDR, Verlag Volk und Wissen, Berlin, 1965, Teil 3, § 2, § 3, Abs. 1, § 42.

[10] Schmidt, Hans-Dieter: Das Bild des Kindes – seine Norm und Wirkung, Z. Neue deutsche Literatur, 30. JG, Heft 10, 1982, S. 71-81.

[11] Filmtipp: Systemsprenger, Sozialdrama – Egal ob Pflegefamilie, Wohngruppe oder Schule, Benni fliegt sofort wieder raus: zu laut, wild und unberechenbar. Die Neunjährige ist, was man im Jugendamt einen „Systemsprenger“ nennt. Verfügbarkeit:ZDF bis 10.02.2022 im Handel: www.systemsprenger-film.de

[12] De Mouse, L.: The History of Childhood, Psychohistory Press, New York, dt. Hört ihr die Kinder weinen – eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Suhrkamp, FF.a.M., 1994, S. 15.

[13] Bauer, J.: Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München/Zürich 2004.

[14] Bowlby, R.: Babies and toddlers in non-parental daycare can avoid stress and anxiety if they develop a lasting secondary attachment bond with one carer who is consistently accessible to them. Z. Attachment & Human Development, 2008 ,9/4, S. 307-19.

[15] NUBBEK-Studie: Nationale Untersuchung zur Bildung und Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Fragestellung und Ergebnisse im Überblick. Hrsg.: Titze, W., Becker-Stoll, F., Bensel, J., Haug-Schnabel, G., Verlag das Netz, Kiliansroda, 2012.

[16] Israel, A., Geist, G.: Zur Wende in der Frühbetreuung von Kindern. Forum der Psychoanalyse, Bd.36, Heft4, 2020, S.425-432, https://gute-erste-kinderjahre.de/qualitaet-in-kitas/.

[17] Fast 70 % bezeichnen die Arbeitsbelastung als akut gesundheitsgefährdend, Studie des Deutschen Kitaleitungskongresses (DKLK), 2020.

[18] In der Praxisrealität wird häufig der Begriff „Personalschlüssel“ verwendet. Dieser aber lässt außer >Acht, dass mind. 1/3 der Arbeitszeit der Erzieher:innen nicht der unmittelbaren Beschäftigung mit dem Kind zu Gute kommt, sondern sich aufgrund von Krankheitszeiten, Urlaub, Fortbildungen, Elterngesprächen, Verwaltungsaufgaben, Dokumentation, Vor- und Nachbereitung, Teambesprechungen, Übergabe und Anleitung von Mitarbeiter:innen deutlich verringert. Daher bildet die Zahl auf dem Papier nicht die Wirklichkeit der realen Fachkraft-Kind-Relation ab.

[19] Böhm, R.: Stress-das unterschätzte Problem frühkindlicher Betreuung. In: Bildung braucht Bindung. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, 2013, Heft 83, S 27-32.

[20] Beckh, K., et al: Ergebnisse der NUBBEK-Studie zur Qualitätsdimension in der Kindertagesbetreuung.Z. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 2/2015, S. 183-201.

[21] Brisch, et al: Verantwortung für Kinder unter drei Jahren. Empfehlung der GAIMH zur Betreuung und Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern in Krippen. GAIMH, Zürich 2009.

[22] DJI-Studie (2017) Studie des Deutschen Jugend-Instituts (DJI) mit der TU Dortmund, Autorschaft: Dr. Matthias Schilling, Dr. Christiane Meiner-Teubner, ISBN 978-3-9818832-1-3.

[23] Studie des Deutschen Kitaleitungskongresses (DKLK), 2020.

[24] Belsky, J., Vandell, D., L., Burchinal, M., Clarke- Stewart, K., A., McCartney, K., Owen, M., T.: Are the long-term effects of early child care? Z.: Child Development, 2007, 78, Page 681-701

[25] Averdijk, M., Besemer Sytske, Eisner, M., Bijleveld, C., Ribeaud, Denis: The relationship between quantity, type, and timing of external childcare and child problem behaviour in Switzerland, EUROPEAN JOURNAL OF DEVELOPMENTAL PSYCHOLOGY 2011, 8 (6), 637–660, Zürich, University of Cambridge, University Amsterdam.

[26] Nicole Strüber, 2019, Risiko Kindheit, S. 47 ff.

[27] NICHD Early Child Care Research Network: The Effects of Infant Child Care on Infant-Mother attachment Security: Results of the NICHD Study of Early Child Care. Child Development 1997, 68, S. 860-879

[28] Härtl, K., Müller, M., Friese, K.: Wochenbettdepression, Z. Die Gynäkologie, 2006, 39, 10, S.813-819.

[29] Egle, U. T., Hardt, J., Nickel, R., Kappis, B., Hoffmann, S. O. (2002): Früher Stress und Langzeitfolgen für die Gesundheit – Wissenschaftlicher Erkenntnisstand und Forschungsdesiderate. Z Psychosom. Med. Psychotherapie 48.

[30] Schulz, W., Bothe,T., Hahlweg, K.: Auswirkungen außerfamiliärer früher Betreuung auf die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten, Risikoverhalten und schulischer Leistungen im Jugendalter, Z. Kindheit und Entwicklung, 2020, 29 (2), S. 101-112.

[31] Ederer, G.: Die Arbeitsplatzverwertbarkeit der Frau, Die Verstaatlichung der Familie-Essay, Teil 1., 17.8.2015, online Tagebuch der Mitglieder des publizistischen Netzwerks, Die Achse des Guten,

[32] Fromm, E.: Psychoanalytiker und Philosoph spricht vom „Organisationsmenschen”, den die moderne Gesellschaft braucht, der nicht merkt, dass er der Organisation gehorcht, der lediglich glaubt, gut zu funktionieren, sich nach dem zu richten, was praktisch und vernünftig ist, und sich als schlau empfindet, weil er rational zu handeln, 1962.

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Krippenkinder in der DDR Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel

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Beitrag
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern

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Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft

Studie
Findings for Children up to Age 4 1/2 Years, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form

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Entwicklung der Bindungsbeziehung nach Mary Ainsworth, Entwicklungspsychologin, Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München

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Kleine Kinder im Alter von 17 Monaten bis 2 Jahre und 5 Monate in kurzer Fremdbetreuung,Young children in brief separation, Robertson Films

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Sendung im NDR Nordtour: Den Norden erleben vom 15.04.2023, 4 Min, verfügbar bis 15.04.2025