Situationsbedingte Übergänge selbstwirksam gestalten 1 - iStock © JuanmoninoWarum fällt es vielen jüngeren Kindern so schwer, bei situationsbedingten Übergängen sofort zu reagieren und warum sind sie nicht in der Lage aktiv mitzumachen? Häufig erleben Mütter und Väter dies beim Abholen in der Kita oder auf dem Spielplatz. Dort geht es dann turbulent zu:

Der kleine Paul wird gleich nach der Ankunft mitten in die Sandkiste gesetzt. Er protestiert lautstark und robbt zu seiner Mutter zurück. Mila, die neben ihrem Vater auf der Bank sitzt, schaut sich erstmal um. Dabei entdeckt sie die Rutsche auf der gerade kein Kind ist. Ihr Vater ermutigt sie, diese doch mal auszuprobieren. Mila zögert. Leon will noch nicht nach Hause gehen, aber seine Mutter sagt, es sei schon spät … Emily trödelt am Morgen, beim Zähneputzen, beim Anziehen; alles dauert ewig lange und oft sind sie in letzter Minute in der Kita. Als Mutter oder Vater wünschen wir uns, dass alles ein bisschen schneller geht, haben wir doch unsere Termine im Kopf und die Zeit im Nacken.

Die Erziehungswissenschaftlerin, Erika Butzmann, gibt nachfolgend Einblicke in die kindliche Entwicklung und den damit verbundenen problematischen Wechseln von Örtlichkeiten.

Wenn kleine Kinder bei Situationswechsel protestieren

Es ist zwar bekannt, dass vielen jüngeren Kindern der tägliche Eintritt in die Kita schwerfällt. Hier sind jedoch eher die Trennungs- und Verlassenheitsängste des Kindes der Hintergrund. Doch auch die Kinder, die solche Ängste nicht haben, reagieren mit großer Unruhe. Eltern und Erzieherinnen kennen das Verhalten der Kinder sehr gut, wenn eine bestimmte räumliche Veränderung ansteht. Am häufigsten zeigt sich das beim Abholen des Kindes bei Spielkameraden, Verwandten, aus dem Kindergarten oder bei anderen Betreuungspersonen. Die Kinder werden unruhig, manche schreien, werden aggressiv gegenüber anderen Kindern oder gehen über Tische und Bänke, d. h. ungerichtete Impulse bestimmen das Verhalten. Dabei ist es unerheblich, ob ein Kind über das Hinzukommen einer Person erfreut ist oder nicht. Auch in Spielsituationen protestieren zunächst fast alle Vorschulkinder, wenn ein weiteres Kind mitspielen will.

Es geht um Situationen, die räumlich mit bestimmten Gegenständen und Personen begrenzt und strukturiert sind. Das kann der Kindergarten in seiner Gesamtheit sein oder auch ein bestimmter Raum. Das Gleiche passiert beim Abholen bei der Oma oder bei Spielkameraden. Wenn eine weitere Person hinzukommt, reagieren viele der Kinder heftig darauf.

Die Unreife im Denken erschwert situationsbedingte Übergänge

Kinder empfinden in bestimmten zeitlich und räumlich strukturierten Situationen Schutz und Sicherheit – so etwa auch in einer Spielsituation mit der Mutter. Plötzlich klingelt jedoch das Telefon und die Mutter verstrickt sich in ein Gespräch; oder der Vater kommt unverhofft früher als erwartet; oder der längst erwartete Besuch trifft ein. Dann verhalten sich viele Kinder wie ausgewechselt, drehen auf und wirken auf Außenstehende wie ein „schlecht erzogenes Kind“. Doch das Kind hängt in der vorherigen Situation fest! Es kann sich nicht gleichzeitig auf zwei Personen konzentrieren und jede weitere Person führt beim Kind zur Unruhe.

Der vom Kind nicht selbst initiierte Wechsel von einer Situation in die andere fällt ihm offensichtlich schwer.

Das Verhalten der Kinder hat nur wenig mit der Störung einer Gewohnheit zu tun oder weil die Situation gerade so schön war, auch wenn das eine gewisse Rolle spielt. Ebenso wenig steckt eine Verweigerungshaltung dahinter. Es geht hier um eine Besonderheit im Denken der drei- bis fünfjährigen Kinder, die sie so handeln lässt. Alle Eltern werden sich erinnern:

Als während der Corona-Pandemie die Eltern beim Bringen und Abholen des Kindes von der Betreuung draußen bleiben mussten, gab es diese Probleme nicht. Was steckt also dahinter?

Der bekannte Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget kann dies erklären. Nach seinen umfassenden Forschungen haben Kinder in den ersten vier bis fünf Lebensjahren Probleme, zwischen zwei verschiedenen Standpunkten, Situationen oder Wahrnehmungen zu unterscheiden. Sie leben noch in der aktuellen Situation; je jünger sie sind, desto stärker hängen sie in einer Situation fest. Was über die augenblickliche Situation hinaus geht, können sie noch nicht bedenken.[1]

Mit vier Jahren wissen sie zwar, dass andere auch Gedanken im Kopf haben und die anders sind als die eigenen, sie können die beiden Sichtweisen aber nur nacheinander und nicht gleichzeitig bedenken. [2]

Für den Situationswechsel bedeutet dies, sie stecken in der einen Situation fest und können sich in eine mögliche andere nicht hineinversetzen, auch wenn diese andere Situation bekannt und vertraut ist. Dieser Gedankensprung ist den kleinen Kindern lange nicht möglich. Gibt es eine Veränderung durch das Hinzukommen einer neuen Person, sind sie irritiert und versuchen das einzuordnen – diese Neuorientierung braucht Zeit und wird von negativen Gefühlen begleitet.

Das Gleiche gilt für die von den Erwachsenen geforderten räumlichen Veränderungen. Der Kinderpsychiater Schulte-Markwort berichtet von einem Vierjährigen, der diesen Zustand so beschreibt: „Es ist wie eine Maus in meinem Bauch, die läuft so wild; da kann ich nichts dagegen machen.“[3]

Eine Mutter schildert die Abholsituationen am Mittag besonders dramatisch: „Ich erlebe meistens ein bockiges, trotziges, trödeliges Kind. Jeden Tag lerne ich eine andere Tieflage kennen, die die Tonleiter kindlicher Emotionen zu bieten hat. Und in jedem Fall betrete ich ganz, ganz dünnes Eis, sobald ich durch die Tür zur Kita gehe. Der Dreijährige war laut Erzieherin eben noch der reinste Sonnenschein und mutiert plötzlich zur nervtötenden Zerreissprobe.“ „Hat er sich denn gar nicht auf mich gefreut?“, frage ich die Erzieherin. „Doch, das hat er“, antwortet sie.

In den Abholsituationen ist es egal, ob es die abholenden Eltern sind oder eine fremde Person – die Reaktionen sind die gleichen.

Nur die Kinder, die auf das Abholen fixiert sind, kommen sofort zu den Eltern. Das heißt, sie sind die ganze Zeit in Gedanken schon bei der Abholsituation.

Die Irritation der betroffenen Kinder bleibt bestehen, bis sie ganz aus der Situation (der Kita, dem Haus, dem Spielplatz) raus und auf der Straße oder im Auto sind. Gespräche zwischen Tür und Angel mit der befreundeten Mutter / dem Vater oder einer Erzieherin können dann gar nicht vertragen werden und machen dem Kind richtig Stress, weil der schwierige Übergang von einer zur anderen Situation zu lange anhält. Deshalb stören die Kinder solche Gespräche. Da helfen auch alle Erklärungen der Erwachsenen nicht. Die Kinder brauchen für den Übergang eine Hilfe. Die Hilfe besteht im „Kurzhalten des Übergangs“.

Situationsbedingte Übergänge selbstwirksam gestalten

Situationsbedingte Übergänge selbstwirksam gestalten 2a - iStock © TsujiWenn der Vater nach Hause kommt (oder die Mutter) und die Kinder mit Mutter oder Vater spielen, sollte der Nachhauskommende nur kurz Hallo sagen und dann den Raum wieder verlassen. Die Kinder registrieren das nach einer Weile und werden dann zu ihm laufen. Die Freude ist dann größer als wenn Vater/Mutter in der Situation verbleiben und auf eine positive Reaktion der Kinder warten.

Beim Abholen aus einer Spielverabredung hilft es auch, das spielende Kind kurz zu begrüßen und den Raum mit den Worten wieder zu verlassen, dass Sie draußen warten und es kommen soll. Kommt das Kind dann von sich aus zu Ihnen, sollten Sie sich auch gleich auf den Weg machen. So halten Sie den stressreichen Übergang für das Kind kurz.

Da Drei- bis Vierjährige in der Anziehsituation noch Unterstützung brauchen und ältere Kinder dabei häufig noch gutes Zureden benötigen, sollte bei der Betreuung durch die Oma diese das machen und in der Kita die Erzieherin, weil sie zu der ursprünglichen Situation gehören.

Wenn diese Zeit des Situationswechsels kurz ist und sich das Kind auf das Anziehen konzentrieren kann, gelingt es ihm vielleicht, die negativen Gefühle gering zu halten oder zu überwinden. Dann schaffen es die meisten Kinder, den gedanklichen Sprung in die zu erwartende Situation zu leisten und können dann zu den Eltern laufen. Mit zunehmender Reife und häufiger positiver Erfahrung der Selbstwirksamkeit („Ich entscheide, mich zu trennen und in eine neue Situation zu begeben.“), gelingt es dem Kind in Zukunft besser, diese Übergänge zu meistern.

von Erika Butzmann

Literaturverzeichnis

[1] Selman, Robert: Sozial-kognitives Verständnis, in: Dieter Geulen (Hg), Perspektiveübernahme und soziales Handeln, Frankfurt: Suhrkamp. 1982, S. 223-256.

[2] Piaget, J.: Urteil und Denkprozess beim Kind, Frankfurt: Ullstein, 1981, S. 234 f.

[3] Ungebremste Gefühle: die affektive Dysregulation, Hamburger Abenblatt, 27.11.2012

Links zum Thema

Krippenstart – Tränen und Stress

Das Selbstwertgefühl von Kindern stärken, CHILD & FAMILY BLOG

Kinder denken einfach anders – 20 wegweisende Erkenntnisse der psychologischen Forschung, die das Familienleben leichter machen, Elisabeth Rose, Kösel-Verlag