Geborgen und frei - Foto i Stock © uschoolsSeit ich 14 Jahre alt bin, bin ich Vegetarierin. Zuerst viele Jahre „nur“, weil ich Fleisch einfach nicht mochte. Später kam dann auch eine gewisse Überzeugung hinzu. Als ich heiratete wurde mein Mann bemitleidet: „Bekommt der Arme denn zwischendurch auch mal ein Stück Fleisch?“ Und als ich Mama wurde, musste ich schon während der Schwangerschaft immer wieder die Frage nach der (vegetarischen?!) Ernährung beantworten. Für mich war damals schon klar, dass unsere Kinder sich ganz frei entscheiden können sollten, ob sie Vegetarier, von mir aus auch Veganer oder Frutarier oder was auch immer, sein wollen oder nicht. Dem gegenüber stand die Behauptung, dass Kinder sich beim Essen an der Mutter orientieren würden, und dass es, egal, was man sie lehren würde, darauf hinausliefe, dass sie sich so ernähren würden, wie die Mutter es vorlebt.

Und nun hatte ich schon fast 20 Jahre Zeit zu beobachten, ob diese Behauptung stimmt.

Gleich vorneweg: In unserer Familie bin ich nach wie vor die einzige Person, die sich vegetarisch ernährt. Bei uns hat sich diese Behauptung also nicht bewahrheitet. Ich glaube allerdings, das hat nicht so viel damit zu tun, was ich meine Kinder lehrte oder wieviel Fleisch ich gekocht habe. Vielmehr ist es wohl eine Frage der Bindung.

Bindung über Zugehörigkeit und Loyalität

Ja, es gab eine Zeit, da wollten vor allem meine Mädchen „gleich“ sein – eben wie ich. Und es gab eine Zeit, da hatten die Kinder, die einen mehr, die anderen weniger, manchmal einen Loyalitätskonflikt. Bratwurst oder (vegetarischer) Grillkäse? In dieser Phase war es wichtig, dass sie die Botschaft vermittelt bekamen: „Egal für was du dich entscheidest, ich bin auf deiner Seite, ich stehe zu dir!“ Denn dies ist die Botschaft der 3. Bindungswurzel von der Gordon Neufeld spricht, wenn es um die Stufen der Bindung geht.

Die Kinder spürten, dass sie wertgeschätzt und geliebt werden. Und hier entsteht Raum für die Entwicklung der Persönlichkeit. Hier darf man sich individuell entfalten, eigene Wege gehen und sich trotzdem der Liebe und Wertschätzung der Eltern sicher sein. Jetzt hatten sie die Freiheit, ganz für sich zu entscheiden, ob sie Fleisch mögen oder nicht, inklusive aller Zwischentöne. Ganz banal ausgedrückt können wir also sagen:

Unsere Kinder müssen sich sicher sein, dass wir sie auch mit einem Steak auf dem Teller lieben und wertschätzen. Aufgrund dieser Botschaft haben sie die wirkliche Freiheit sich zu entscheiden.

Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Ernährung oder den Fußball. Es gilt für die gesamte individuelle Persönlichkeitsentwicklung. Wenn Teenager sich dieser Botschaft sicher sind, ist damit die Basis gelegt, dass sich aus der Raupe ein wunderschöner, ganz individueller Schmetterling entwickeln wird!

Ihre Angela Indermaur

Ein Beitrag aus unserer Kolumne:

Menschen(s)kinder


Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?