Wie du will ich sein - Foto iStock©Laoshi

„Schau mal, wie läuft denn unsere Kleine?“ „Sie ahmt wohl Onkel Walter nach …“ So ungefähr der Wortwechsel meiner Eltern vor vielen Jahren. Onkel Walter war einige Tage bei uns zu Besuch und ich, etwa 2,5 Jahre alt, mochte ihn sehr. Er nahm sich Zeit, um mit mir zu spielen und Bilderbücher vorzulesen, was mir natürlich sehr gefiel. Als er bereits wieder abgereist war, ahmte ich seine besondere Gangart nach. Aufgrund einer Kriegsverletzung hatte Onkel Walter ein Holzbein und dementsprechend einseitig steif war sein Gang. Es muss ziemlich drollig ausgesehen haben, wie ich als kleiner Wicht die Gangart des alten Mannes nachahmte, immerhin erzählte man sich noch viele Jahre davon.

Dass kleine Kinder Erwachsene aus ihrem Umfeld nachahmen, können wir alle beobachten. Sie schlüpfen in Papas Arbeitsstiefel, wollen dasselbe Eis essen wie Mama und sie ahmen unsere Mimik und Gestik nach. Und wer hat nicht schon mit Erstaunen, manchmal auch Erschrecken oder gar Entsetzen beobachtet, wie Kinder uns im Spiel einen Spiegel vorhalten? Die Puppenmama, die ihre Puppenkinder liebevoll im Tragetuch trägt, oder sie am Tisch versammelt und mit Worten maßregelt, die uns nur zu bekannt vorkommen?

Was wir da beobachten, ist eine Bindungswurzel, jene der Gleichheit. Es ist eine von mehreren Möglichkeiten für unsere Kleinen, sich jene nahe zu halten, die sie lieben und die für sie sorgen. Hier findet aber auch ein Stück Sozialisierung statt. Ganz ohne Unterricht lernen die Kleinen eine Menge über das Leben. Übrigens hat auch der Spracherwerb ganz viel hiermit zu tun. Nicht umsonst sprechen wir ja auch von der »Muttersprache«.

Diese Wurzel bleibt uns ein Leben lang erhalten. Ich denke da an Teenager, die alle die gleichen Markenkleider und -schuhe tragen, aber auch an eine Begebenheit, die wir immer wieder im Urlaub erleben: Da steht man irgendwo, weit von zuhause entfernt in einer Warteschlange, und hört hinter sich jemand »schwiizerdütsch« sprechen. Man dreht sich um und gibt sich ebenfalls als Schweizer zu erkennen. Aufgrund der gleichen Sprache, weit weg von Zuhause, fühlt man sich sofort verbunden und nahe.

Wenn wir die Augen offen halten, finden wir diese Bindungswurzel überall. Und was gibt es Schöneres, wenn unsere Kinder gutes Verhalten von sich aus nachahmen, ganz ohne Druck und Belehrung? Einfach weil sie sich mit uns verbunden fühlen?

Und wenn es uns gelingt, Raum und Vertrauen zu schaffen, dass das Kind uns seine Gedanken, Ideen und manchmal auch Fragen über das Leben mitteilt, ist das etwas unendlich Wertvolles.

Ihre Angela Indermaur

Ein Beitrag aus unserer Kolumne:

Menschen(s)kinder


Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?