Gehen, Sprechen, Denken - Natalie Rehm

Natalie Rehm
Gehen, Sprechen, Denken
Wie sich Babys aus eigener Kraft entwickeln
Kösel-Verlag, München
IBSN: 978-3-466-31156-9
300 Seiten
24,- Euro

Dieses Buch ist ein wahrhaft gutes und schönes Geschenk für werdende Eltern. Damit können sie sich unbefangen auf die neue Zeit mit ihrem Baby einlassen. Sie erfahren genau, was tagtäglich zu tun ist, um das Gehen, Sprechen und Denken beim Kind zur Entfaltung zu bringen. Die beim ersten Kind meist auftauchenden Sorgen, ob es sich gut entwickelt, werden sich als unnötig erweisen; denn Natalie Rehm zeigt sehr genau auf, wie das Baby aus eigener Kraft seinen Wachstumsprozess steuert und was Eltern tun können, um dem Kind diese Leistung zu ermöglichen.

Die Entwicklungsimpulse des Kindes zeigen, was es braucht

Nicht nur der Inhalt ist außergewöhnlich, sondern auch die Aufmachung des Buches mit der Textgestaltung und insbesondere mit den eindrucksvollen Fotos von Kindern im Selbstbildungsprozess. Der Autorin ist es gelungen, aus den vielen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren und den wichtigen Forschungen von Emmi Pikler ein Praxisbuch zu schreiben, mit dem sie Eltern zeigt, wie es gelingen kann, sich vom Baby einfach leiten zu lassen. Denn das Kind reagiert aus Entwicklungsimpulsen heraus, die Eltern nur wahrnehmen müssen, um das Kind unterstützen zu können.

Das Laufen und Sprechen wird weitgehend unbewusst gelernt

Sie bestätigt über ihre Praxiserfahrungen das, was die wissenschaftliche Forschung seit vielen Jahren zeigt, nämlich dass Kinder von Geburt an über die Fähigkeit zur Selbstbildung verfügen. Sie sind von Anfang an in der Lage, die eigene Entwicklung voranzutreiben. Das geschieht in den ersten zwei bis drei Jahren noch weitgehend unbewusst; sie wissen weder, was sich um sie herum ereignet, noch wer sie überhaupt sind. Sie haben noch kein bewusstes Denken. Das Laufen und Sprechen wird gelernt, ohne etwas davon verstanden zu haben (S. 25).

Für das Gehen lernen (Kap. 1) werden die vielen kleinen Stufen des Aufrichtungsprozesses beschrieben, aus denen hervorgeht, dass in die Bewegungsentwicklung nicht eingegriffen werden sollte. Am Anfang ist das Tragen des Babys in der Waagerechten wichtig, damit es sich frei bewegen kann. Ebenso kann es nur von der Rückenlage aus den monatelangen eigenständigen Aufrichtungsprozess starten, wobei das Tempo dieser Entwicklung naturgegeben sehr unterschiedlich bei den Kindern ist.

Über die schönen Fotos ist gut zu verstehen, was die Auge-Hand-Koordination für das Sehen und die senso-motorische Entwicklung bedeutet. Hier gilt es zu beachten, dass zu viele Gegenstände im Blickfeld des Babys die Ausbildung dieser Fähigkeiten stören. Das Greifen nach einem Spielzeug aus der Rückenlage heraus führt zu den Anstrengungen des Kindes, über die Seitenlage in die Bauchlage zu kommen. Damit beginnt der spannende Prozess der Vorwärtsbewegung über das Kriechen, Krabbeln und Robben, das bald zum Sitzen führt.

Mit dem Sitzen kann das Füttern am Tisch beginnen, wozu die Autorin viele hilfreiche Anregungen gibt. Bald danach versucht das Kind sich an den Möbeln hochzuziehen und irgendwann steht es strahlend auf seinen zwei Beinen.

Elterliche Geduld und Gelassenheit unterstützt den Selbstbildungsprozess

Doch diese anstrengende Arbeit verlangt zwischendurch immer wieder Pausen, wo die Entwicklung scheinbar nicht weitergeht. Natalie Rehm empfiehlt Eltern dann, geduldig zu sein und auf den Selbstbildungsprozess zu vertrauen (S. 160).

Der Prozess der Bewegungsentwicklung kann durch die Art und Weise unterstützt werden, wie Eltern alle Pflege- und Versorgungstätigkeiten ausführen, z. B. das Wickeln, Waschen, Anziehen und Füttern, bei denen das Baby schon bald bereit ist, mitzuarbeiten.

Natalie Rehm zeigt genau auf, woran Eltern das erkennen können. Und das große Wunder, das während dieser frühen Zeit des Miteinanders geschieht, ist die Entwicklung einer stabilen Bindungsbeziehung, die das Kind sein ganzes Leben lang trägt. Die Autorin beschreibt somit die praktische Umsetzung von dem, was die Entwicklungspsychologie als Feinfühligkeit bezeichnet. Die zahlreichen Erfahrungsberichte von Kursteilnehmerinnen, denen Natalie Rehm dieses Wissen vermittelt hat, bestätigen ihre wissenschaftlich untermauerten Aussagen auf eindrucksvolle Weise.

Das Baby schaut seine Eltern genau an

Das Sprechen lernen (Kap. 2) entsteht aus der Bewegungsentwicklung, denn das Sprechen ist auch eine motorische Aktivität, was Babys durch ihren ganzen Körper zeigen, wenn sie die ersten Töne produzieren. Ebenso wie beim Laufen und Erkunden der Umwelt spielt beim Sprechen lernen die Nachahmung eine bedeutende Rolle. Das Baby schaut die Eltern ganz genau an, wenn sie mit ihm sprechen und die Spiegelneuronen in seinem kleinen Köpfchen führen zur unwillkürlichen Nachahmung der Mundbewegungen und der Mimik. Zusammen mit dem Hören der Stimmen seiner Bindungspersonen kann es mit der Zeit die Wörter behalten, die bei den täglichen Ereignissen von den Eltern immer wiederholt werden. Das hilft dem Kind, sich an die Pflege- und Versorgungshandlungen anzupassen.

Bei Tätigkeiten, die in derselben Art regelmäßig wiederkehren, helfen Wiederholungen, um Sprache zu lernen

In den ersten zehn Monaten der Sprachvorbereitung ist das immer gleiche Vorgehen bei allen routinemäßigen Handlungsabläufen und Versorgungstätigkeiten für das Sprechen lernen wichtig, wie Natalie Rehm aufzeigt. Wie auch bei der Beschreibung der Bewegungsentwicklung fasst die Autorin hier das Wichtigste für Eltern am Ende eines jeden Abschnitts zusammen.

Eltern finden viele Anregungen, die helfen können, die Sprachentwicklung der Kinder zu fördern. Die Mehrsprachigkeit ist ebenso behandelt wie die vielen kleinen Dinge, die die Sprachentwicklung voranbringen. Dazu gehören insbesondere kleine Lieder, Reime und Berührungsspiele, die die Autorin über mehrere Seiten darstellt. Sie klärt auch detailliert darüber auf, wie der Gebrauch digitaler Medien in den ersten Jahren nicht nur die Sprachentwicklung behindert, sondern auch die Entwicklung des Denkens. Da sich durch die frühe Beschäftigung kleiner Kinder mit digitalen Medien auch die Interaktion mit den Eltern verringert, wird zusätzlich die Bindungsentwicklung erschwert.

Für die Entwicklung des Denkens ist das kindliche Spiel ganz besonders wichtig

Während der Zeit der Bewegungsentwicklung und der Sprachentwicklung entstehen die Anfänge des Denkens. Mit Kapitel 3 beschreibt Natalie Rehm den langen Weg zum bewussten Denken. Mit Hilfe ihrer Sinne und Bewegungen sammeln die Kinder in den ersten zwei Jahren viele Erfahrungen über sich und die anderen, können diese Wahrnehmungen jedoch noch nicht miteinander verbinden, also noch nicht bewusst denken. Die vielen kleinen Begebenheiten, die zeigen, wie sich das Denken daraus entwickelt, stellt die Autorin mit allen Facetten dar. Ein wahrlich spannender Prozess! Das kindliche Spiel ist nicht nur ein Antrieb für die Bewegungs- und Sprachentwicklung, sondern ganz besonders für das Denken. Wie das im Einzelnen abläuft, welche Spielmaterialen geeignet sind und wie und wann Eltern mit dem Kind spielen sollten, ist mit vielen Anregungen beschrieben. Es wird klar, ab wann Babys Spielzeug brauchen, wie viel und welches Spielzeug am besten geeignet ist. Vorschläge zur Herstellung geeigneter Spielsachen sind über schöne Bilder gut nachzuvollziehen.

Das freie, selbstvergessene Spiel macht Kinder klug

Mit Gleichaltrigen spielen die Kinder erst in der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres zusammen. Dann beginnt nach und nach das soziale Verstehen, was die Denkentwicklung stark vorantreibt. Natalie Rehm beschreibt eindringlich, wie wichtig das freie Spiel von Beginn an für die Denkentwicklung des Kindes ist. Das freie, selbstvergessene Spiel würde Kinder klug machen und wäre besser als jede Frühförderung, denn Kinder beschäftigen sich dann genau mit den Themen, die für ihre Entwicklung gerade relevant sind (S. 222).

Über die Nachahmung zum „Ich auch“

Zum Umgang mit Regeln, die die Eltern von Beginn an setzen müssten, gibt es ebenfalls viele Anregungen, insbesondere für die erste Zeit, wo die Kinder die Regeln noch nicht verstehen. Die Gestaltung des Alltags mit einer lebendigen Tagesstruktur hilft dem Kind, seine Umwelt zu verstehen, wobei Regelmäßigkeit und Rituale den sich entwickelnden Denkprozess unterstützen. Das Lernen durch Nachahmung und Vorbild ist ebenso beschrieben, wie das Nebeneinander zu einem Miteinander wird, wenn die Kleinen sagen „ich auch“ und bei den Aktivitäten der Großen mitmachen wollen.

Das Vertrauen auf den Selbstbildungsprozess des Kindes birgt viele Überraschungen

Mit ihrem Schlusswort weist Natalie Rehm darauf hin, dass die kleinen Menschen auf Erwachsene angewiesen sind, die ihren angeborenen Selbstbildungspotenzialen vertrauen. Eltern lernen dabei selbst sehr viel, wenn sie sich in Geduld üben und Anteil nehmen an dem, was Babys und Kleinkinder bewegt. Die Beachtung der im Buch beschriebenen Einzelheiten lässt keine Langeweile im Alltag aufkommen, denn dieser frühe Entwicklungsprozess steckt voller Überraschungen.

von Erika Butzmann

Natalie Rehm © berli berlinski

Über die Buchautorin: Natalie Rehm

Zertifizierte Erziehungsbegleiterin mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit, SAFE®-Mentorenausbildung bei Prof. Karl Heinz Brisch (Sichere Ausbildung für Eltern). Seit 2011 arbeitet sie selbstständig als Kurs- und Gruppenleiterin für werdende Eltern sowie Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern. Darüber hinaus bietet sie Erziehungsberatung für junge Familien sowie Vorträge und Fortbildungen für Eltern und pädagogisches und medizinisches Fachpersonal an. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich – www.natalierehm.de