Erika Butzmann
Sicherheit im Erziehungshandeln
Die kindliche Entwicklung fördern in Zeiten von Unsicherheit und Modernisierungsdruck
Psychosozial-Verlag
ISBN: 978-3-8379-3418-2
250 Seiten
34,90 Euro
Warum frühkindliche Fremdbetreuung Kindern mehr schadet als nutzt, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin Erika Butzmann in ihrem neuen Buch „Sicherheit im Erziehungshandeln“. Bislang gebe es jedenfalls keinen Beweis für die Unbedenklichkeit der Krippe. Auch Ganztagsgrundschulen seien nicht förderlich, sondern überfordern die meisten Kinder.
Der Titel klingt zwar etwas spröde, trifft aber genau den Kern dessen, was Kinder wirklich brauchen. Dabei ist das Thema, das die promovierte Erziehungswissenschaftlerin Erika Butzmann auf über 200 Seiten verhandelt, alles andere als trocken, im Gegenteil, man kann es als hochbrisant bezeichnen. Die erfahrene Autorin legt den Finger in die Wunden, führt zielsicher und punktgenau die Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in unserer schnelllebigen und zunehmend durchdigitalisierten Gesellschaft auf und bietet – was nicht selbstverständlich und daher umso wertvoller ist – auch klare und umsetzbare Lösungen an, falls denn die ideologischen und sonstigen Scheuklappen der Verantwortlichen und Betroffenen abgesetzt würden.
Achtung, Krippe!
Mehr Verhaltensauffälligkeiten statt Bildung?
Der kritische Dreh- und Angelpunkt für das gesunde psychische und physische Gedeihen von Kindern ist für Butzmann die kindliche Fremdbetreuung. „In der Krippe soll Bildung von Anfang an stattfinden durch vielfältige Programme und Maßnahmen“, kritisiert sie. „Der Erfolg bleibt jedoch nach wie vor aus, es werden im Gegenteil immer häufiger Verhaltensauffälligkeiten festgestellt.“ Es gebe bisher auch „keine Bestätigung für die Unbedenklichkeit der frühen Krippenbetreuung“. Dennoch würden gesellschaftliche Kräfte ignorieren, dass Kinder in den ersten zwei bis drei Jahren keine Bildung von außen brauchen, sondern nur eine bindungssichere, zugewandte Umgebung, damit sich alle Fähigkeiten entwickeln können.
Irrweg: Mehr Synapsen, mehr Lernen?
Butzmann zitiert die renommierte Lernforscherin Elsbeth Stern, der zufolge es „zu den weitreichenden Irrtümern gehöre, die Zunahme der Synapsendichte in den ersten drei Jahren mit einer erhöhten Lernfähigkeit gleichzusetzen“. Die Veränderung in der Synapsendichte vollziehe sich vielmehr ohne großes Zutun von außen und gehe in einer Hütte in Afrika genauso vonstatten wie in einer Villa in Beverly Hills oder in einem Berliner Plattenbau. Die frühkindliche Entwicklung stelle offensichtlich keine besonderen Anforderungen an die Umgebung, aber sie reagiere empfindlich auf künstliche Eingriffe und Störungen. Hierzu gehört laut Butzmann vor allem „das Grundproblem der Kinder“ in der Krippe: die Trennung von den Eltern. Letzteren werde dieses Wissen jedoch vorenthalten. In den folgenden Kapiteln beschreibt die Autorin ausführlich den natürlichen psychosozialen und kognitiven Entwicklungsprozess in den ersten zwei bis drei Lebensjahren.
Trugschluss: Mehr Krippen, mehr Leistungsträger?
Ihr wenig erstaunliches Fazit: Um Kindern den besten Schutz für ein gutes Aufwachsen zu geben, sei die Familie der beste Raum, solange die Eltern in der Lage seien, angemessen mit ihren Kindern umzugehen. „Das gilt für die ersten zwei bis drei Lebensjahre uneingeschränkt“, konstatiert Butzmann.
Die Krippenideologie habe bislang zudem zwei große Hoffnungen nicht erfüllt: weder habe Krippenbetreuung zu mehr Kindern geführt noch seien positive Auswirkungen im Verhaltens- oder Bildungswesen spürbar, im Gegenteil: die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern nähmen in allen Gesellschaftsschichten zu.
Butzmann bezieht hier ausdrücklich auch ältere Kinder mit ein: nicht nur zu früh betreute Krippenkinder, sondern auch ganztags betreute Kinder bis ins zehnte Lebensjahr könnten sich „nicht mehr zu verantwortungsbewussten, psychisch stabilen Persönlichkeiten entwickeln“ und belasteten durch Auffälligkeiten die Sozialkassen statt die Rentenkassen zu stabilisieren. Die Zahl der Leistungsträger in unserer Gesellschaft werde dadurch schrumpfen, warnt Butzmann. Welch trüber Ausblick.
Forderung: Mut zum Umdenken
Die Autorin kombiniert ihre fachlich fundierte Recherche, zu der auch fortlaufend präzise Quellenangaben gehören, mit gesellschaftskritischen Statements. So fordert sie etwa „das Freischaffen von Zeit für die Kinder und eine bewusste Konzentration auf die Beziehung und die Erziehung“, nicht ohne auch einmal für die Eltern den späteren Ertrag ihres Bemühens vor Augen zu führen: „Darüber hinaus bereichert diese gemeinsam gelebte Zeit mit den Kindern auch nachhaltig das Leben der Eltern in der Phase, wenn die Kinder als Erwachsene das Elternhaus verlassen haben.“
Faktencheck: ADHS
Das Thema kindliche Überforderung bringt Butzmann in Verbindung mit der Diagnose ADHS. „Wenn sich laut Meldung des statistischen Bundesamtes von Anfang 2025 in Deutschland 64 % der Kinder über 45 Stunden in der Woche in Kitas aufhalten müssen, bleiben Überforderungen nicht aus. Die meisten Erwachsenen haben eine kürzere Arbeitszeit.“ ADHS-Symptome kämen bei früher Krippenbetreuung und auch später bei einer Ganztagsbetreuung stärker zum Vorschein als bei einer Betreuung in der Familie während der ersten drei Jahre und einer späteren Halbtagsbetreuung.
Wenn die Kita zu viel wird – Warum Auszeiten guttun
In jedem Fall sollte man derart überforderte Kinder vorübergehend aus der Krippe herausnehmen und zuhause lassen. Dabei sei es nicht notwendig, sich ständig mit dem Kind zu beschäftigen.
„Die Beteiligung an den normalen Alltagsaufgaben hilft dem Kind mehr. Es genießt die Nähe zu den Eltern und spürt die Entspannung, wenn diese sich um die notwendigen Alltagsarbeiten kümmern können und nicht mit ihm spielen müssen.“
Eine Auszeit aus der Kita sollte man den Kindern mit Überforderungssymptomen ab und an gönnen. „In jedem Fall sollte dem Kind keine Ganztagsbetreuung zugemutet werden, damit die Überforderungssymptome gänzlich zurückgehen“, rät die Pädagogin.
Frühe MINT-Bildung? Lieber spielen lassen!
Zur Frage der sogenannten „MINT-Bildung“ in der Kita vertritt sie ebenfalls eine klare Meinung:
„Besonders die jungen Krippenkinder werden durch eine frühe MINT-Bildung in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Frühes Üben von Zahlen in dieser Zeit verhindert das natürliche Erwerben des Zahlenbegriffs im freien Spiel.“
Auch hier spart die Fachfrau nicht mit der exakten Quellenangabe. Ihr Fazit zu diesem Thema:
„In erster Linie sollten sie (die Elementarpädagog:innen) dafür Sorge tragen, dass ausreichend Zeit für das entwicklungsfördernde freie Spiel vorhanden ist.“
Eine Forderung, die in jüngster Zeit immer wieder in Frage gestellt wird von vermeintlich fortschrittlichen, wohlmeinenden Kräften inklusive Medien.
Einzigartigkeit von Mutter und Vater
Der Rollenverteilung in der Familie und ihren modernen Verwirrungen und Verirrungen ist das letzte Kapitel gewidmet. Hier führt Butzmann anschaulich und hochinteressant vor, warum und wieso Vater und Mutter unterschiedlich agieren und warum Eltern in ihrer Gesamtheit für die Kinder so wertvoll sind. Zugleich wird deutlich, warum künstlich verdrehte Geschlechterrollen – Stichwort „Retraditionalisierung“ – wenig hilfreich, ja sogar schädlich sind. Auch lässt sich das unterschiedliche Konfliktverhalten von Männern und Frauen anhand biologischer Fakten erklären, wie die Autorin anschaulich ausführt.
Lesenswert für alle, die Kinder verstehen wollen
Dieses Buch, das von seiner Aufmachung her ein wenig arg nüchtern daherkommt, birgt also jede Menge wertvolles Lebenshilfe-Potenzial, das Eltern zu mehr Selbstbewusstsein gegenüber den Forderungen der schnelllebigen Gesellschaft verhilft und vermittelt zudem reichlich fundiertes „Hintergrundwissen“ zum Thema (früh)kindliche Entwicklung.
Wer dieses Buch gelesen hat, wird sich nicht mehr so leicht von den Kassandra-Rufen jener Propheten irritieren lassen, die Kleinkinder ohne Krippenbetreuung am liebsten für nicht überlebensfähig erklären würden.
PS: Wer neugierig geworden ist: Das vollständige Inhaltsverzeichnis ist auf der Webseite des Psychosozial-Verlags zu finden.

Über die Buchautorin: Dr. phil. paed., M.A. Erika Butzmann
Erika Butzmann ist seit 30 Jahren als Dozentin und Seminarleiterin in der Eltern- und Familienbildung und der Weiterbildung von ErzieherInnen tätig. Sie lehrte an einer Universität und führt Elternberatungen in einer großen Kinderarztpraxis durch.
Weitere Buchtitel:
Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung: Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik
Elternkompetenzen stärken: Bausteine für Elternkurse

