Hilfe, mein Kind lügt - iStock © YunYuliaImmer wieder suchen Eltern Beratung, weil sie feststellen, dass sie von ihrem Kind „hinters Licht geführt wurden". Lügende Kinder rufen in uns Eltern eine Kaskade heftiger Gefühle ab. In diesem Beitrag möchte ich Sie einladen, einen Blick hinter die Kulisse des Lügens zu werfen und dieses emotionale Thema ganz sachlich anzuschauen.

Das Alter spielt eine entscheidende Rolle

Wenn wir über Kinder sprechen, die lügen, müssen wir zuerst auf das Alter der Kinder schauen. Es macht einen enormen Unterschied, ob wir ein 4-jähriges oder ein 12-jähriges Kind des Lügens bezichtigen.

Was bedeutet Lügen überhaupt?

Lügen bedeutet, bewusst die Unwahrheit zu sagen, um jemanden zu täuschen.

In dieser Definition liegen zwei ganz wichtige Punkte:

  • Um die Unwahrheit zu sagen, muss man die Wahrheit, bzw. den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit kennen.
  • Um bewusst jemanden zu täuschen, muss man die Position des anderen und die Wahrheit gleichzeitig vor Augen haben können.

Ein Beispiel aus dem Alltag

Niks Mama fragt: „Hast du die Hände gewaschen, als du auf der Toilette warst?"

Um zu lügen müsste Nik nun bewusst sein, dass er nicht die Hände gewaschen hat und dass das die Wahrheit wäre. Und er müsste sich bewusst sein, dass seine Mutter nicht wissen kann, ob er die Hände gewaschen hat, weil sie in der Küche war. Somit hätte er die Wahl zwischen der Wahrheit (Nein, ich habe die Hände nicht gewaschen.) und der Lüge (Ja, ich habe die Hände gewaschen.).

Wenn Nik 12 Jahre alt wäre

und er sich für die Aussage „Ja, ich habe die Hände gewaschen" entscheiden würde, könnten wir davon ausgehen, dass er bewusst gelogen hat, da er beide Optionen erkennt und deren Konsequenzen abwägen kann.

Wenn Nik 3 oder 4 Jahre alt wäre

und er sich ebenfalls für die Aussage „Ja, ich habe die Hände gewaschen" entschieden hätte, können wir davon ausgehen, dass er in diesem Alter noch keine gemischten Gefühle hat. Das bedeutet, dass er noch nicht zwei Dinge gleichzeitig sehen und einbeziehen kann. In diesem Alter würde Nik erst gerade lernen, was „Wahrheit" eigentlich ist und wo die Grenzen der Wahrheit liegen. In diesem Alter möchten Kinder es ihren Eltern gerne „recht machen", sie sind unglaublich loyal und wollen wertgeschätzt werden. So kann es passieren, dass Nik genau weiß, dass es richtig wäre und die Mama es gut findet, wenn man die Hände wäscht. Vielleicht weiß er auch, dass die Mama ihn loben wird, wenn er sagt, dass er die Hände gewaschen hat. Und dann steht er vor seiner Mama und versichert ihr mit großen Augen, er habe die Hände gewaschen. Weil er es ihr doch recht machen wollte, auf jeden Fall wollte er das! Dass er die Hände nicht gewaschen hat, steht in diesem Moment auf einem anderen Blatt, welches gerade nicht präsent ist.

Warum das Schimpfen hier fehl am Platz ist

Was passiert, wenn wir nun mit Nik schimpfen und ihn der Lüge bezichtigen, ihm vielleicht sagen, dass das etwas sehr Schlimmes ist und uns traurig macht, das können wir uns selbst ausmalen.

Kinder unter sieben Jahren entwickeln Schritt für Schritt ein Gefühl für die Wahrheit und auch für die Unterscheidung von Realität und Fantasie. Und während dieser Entwicklungsphase können sich da und dort noch Fehler einschleichen. Und zu allem Übel machen wir Erwachsenen es ihnen ja nicht gerade einfach:

  • Wir erzählen auch nicht immer nur die Wahrheit. Wir erzählen zum Beispiel von einem Typen auf Rentierschlitten der Geschenke bringt.
  • Wir machen Witze, erzählen also kleine Geschichten, die nicht wahr sind und finden das lustig.
  • An einem Tag im Jahr erzählen wir einander eine Menge Quatsch und finden es lustig, wenn andere den Quatsch glauben.
  • Wir versprechen Dinge, die wir nicht einhalten.
  • Wir sagen, es wird nicht wehtun, und dann tut es doch weh …
  • Wir sagen, es schmeckt fein, und dann ist es doch eklig …

Wie können Eltern unterstützen?

Dies und noch viel mehr einzuordnen und zu lernen, was in welchem Moment angebracht ist und was nicht, das ist gar nicht so einfach und braucht Zeit und Begleitung. Deshalb empfehle ich Eltern, deren Kinder unter sieben Jahren „lügen", dass sie ihre Kinder in diesem Thema „an die Hand nehmen" und ihnen Stück für Stück diesen Teil der Welt erklären. Und wenn ich wünschen dürfte, würde ich mir wünschen, dass wir gerade bei Kindern unter sieben Jahren noch nicht von Lügen sprechen. Lügen ist ein hartes Wort, das eigentlich nicht dazu passt, dass es ein Kind einfach noch nicht besser kann und erst lernen und vor allem reifen muss.

Spielregeln für die „Flunkerphase"

Und wenn die Kleinen das Schummeln, Flunkern und Witze erzählen gerade so richtig entdecken und jeder zweite Satz im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich ist, dann macht es manchmal Sinn, ein paar Spielregeln aufzustellen. Beim Sams gab es einen Gegenteil-Tag, vielleicht gibt es in Ihrer Familie einen Witze- oder Quatsch-Erzähltag? (oder -Abend, oder -Stunde) Oder Sie führen das „Familien-Ehrenwort" bei Ihnen ein, sozusagen als Gütesiegel für die Wahrheit …

Alles hat seine Zeit

So oder so geht die Phase vorüber und sie werden lernen und reifen – mit Ihrer liebevollen Begleitung und Geduld.

von Angela Indermaur

Erstveröffentlichung: Ankerplatz

Links zum Thema

Was macht das kindliche Lügen mit dem Selbstwertgefühl?

Geschichten für Kinder

Kang Lee et al., Can Classic Moral Stories Promote Honesty in Children? Psychological Science, 13. Juni 2014, vorab online veröffentlicht