Alarmierende Zustände in Krippen und Kitas - Foto AdobeStock@katalin balassa EyeEmZwei Studien weisen auf dramatische Mängel in deutschen Kitas hin. Danach bleibt jedes dritte Kind unter drei Jahren auf sich allein gestellt, der Personalschlüssel wird unterschritten, neu eingestelltes Personal erfüllt oft nicht die pädagogischen Anforderungen.
Doch besonders die leisen, sensiblen und schüchternen Kinder brauchen mehr und nicht weniger Zuwendung, um zu angstfreien und selbstbewussten Persönlichkeiten heranzuwachsen!

Aktuelle Studien zum „Wohlbefinden“ der Kita-Kinder

Studien, die sich auf das Wohlbefinden von Kleinstkindern in Fremdbetreuungseinrichtungen konzentrieren, sind rar gesät. Eine davon hat das Institut für angewandte Forschung Berlin (IFAF) 2016 bis 2018 durchgeführt, eine entsprechende Neuauflage ist gestartet. Die Ergebnisse dieser Neuauflage liegen noch nicht vor, stattdessen lohnt ein Blick auf die Vorgängerin.

Im Blick: kindliches Wohlbefinden

Sechs Wissenschaftlerinnen verantworteten das Projekt. Die Leitung übernahm zunächst Professorin Susanne Viernickel von der Alice Salomon Hochschule Berlin, ab März 2017 führte ihre Kollegin Professorin Rahel Dreyer von derselben Hochschule die Forscherinnengruppe an. Den „Begriff des kindlichen Wohlbefindens“ definierten die Autorinnen vorrangig über folgende drei Kriterien:

dass sich ein Kind darauf verlassen kann, getröstet zu werden, wenn es notwendig ist
dass es sprachlich und geistig Anregung erfährt
dass Spielmaterialien und Spielpartner zur Verfügung stehen, mit denen es Spaß hat und lernen kann

Keine Brennpunkt-Kitas

Sämtliche teilnehmende Einrichtungen befanden sich in Berlin. Insgesamt wurden die Daten von 140 Kindern in 35 verschiedenen Berliner Einrichtungen erhoben. Dass es sich hier nicht um Brennpunkt-Kitas handelte, lässt sich an der hohen Akademikerquote ablesen: immerhin 60 Prozent der Eltern hatten einen Hochschulabschluss. Ein Migrationshintergrund war eher selten: Bei 88 Prozent der Kinder war ein Elternteil in Deutschland geboren. Die Autorinnen betonten, dass von ihrer Stichprobe nicht auf das allgemeine Qualitätsniveau in Berliner Kitas geschlossen werden könne, da vermutlich nur jene Einrichtungen an der Studie teilgenommen hätten, die sich ohnehin stark für Qualitätswerte engagierten.

Lange Kita-Tage

Bezogen auf ihre Präsenzzeiten hatten die Ein- bis Dreijährigen einen durchaus strammen Kita-Alltag zu bewältigen: Über 90 Prozent wurden wöchentlich 35 oder mehr Stunden in der Kita betreut. Ein knappes Drittel der Kleininder verbrachte dort sogar 45 Stunden. Das heißt, bei einer Fünf-Tage-Woche verbrachten sie täglich zwischen sieben und neun Stunden in der Fremdbetreuung.

34 Prozent „unsicher gebunden“

Hinsichtlich des Bindungswertes – das heißt, inwieweit sich also eine Bindungsbeziehung zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft entwickelte – konnten 61 Prozent der Kinder als „sicher gebunden“ bezeichnet werden, 34 Prozent mussten als „unsicher gebunden“ eingestuft werden. Mit anderen Worten: jedes dritte Kind hatte keinen Bindungsbezug zu einer Person in einer Einrichtung, in der es täglich sieben bis neun Stunden verbringt. Eine Kommentierung der Studienautorinnen zu diesem himmelschreienden Manko? Fehlanzeige. Sie beschränken sich stattdessen auf die nüchterne, fast muss man schon sagen eiskalte Feststellung: „Dieses Ergebnis entspricht den Erwartungen aufgrund vorangegangener Untersuchungen anderer Forschergruppen.“

Cortisolmessung? Fehlanzeige!

Zu wünschen übrig ließ auch die interessanteste Komponente der Studie: die Messung des Cortisolspiegels. Eine Analyse des Stresshormons Cortisol im Speichel der Kinder zu verschiedenen Tageszeiten hätte zuverlässige Informationen hinsichtlich ihres Wohlbefindens geben können. Leider seien die Proben „fehleranfällig“ gewesen, „was zu einer hohen Ausfallrate führte“, entschuldigten die Autorinnen das Versagen. Nur für etwa die Hälfte der Kinder lagen auswertbare Tagesprofile vor.

Nachmittags mehr Stress?

Was sich aber in jedem Fall zeigte: neben dem wünschenswerten, da üblichen Tagesprofil „absinkende Kurve“ gab es zwei weitere Profile, bei denen der Cortisolgehalt im Blut nicht sank, sondern stieg, und zwar nachmittags. Unklar blieb, ob dies auf erhöhten Stress der Kinder am Nachmittag aufgrund der langen Kita-Tage zurückzuführen war oder ob der Anstieg mit dem Mittagsschlaf zusammenhing. In jedem Fall war es schade, dass gerade die Cortisolmessung in der Studie nur zu geringer Aussagekraft gelangte.

„Mehrzahl der Kinder geht es gut“

Auch wenn es „Anzeichen“ dafür gegeben habe, „dass ein Teil der untersuchten Kinder Erfahrungen macht, die ihr Wohlbefinden einschränken und das Risiko dauerhaften Stresserlebens und negativer Entwicklungsverläufe bergen“, zogen die Studienautorinnen die Bilanz, „dass es der Mehrzahl der Kinder in den untersuchten Berliner Kitas gut geht“. Sie hätten „ein entspanntes emotionales Ausdrucksverhalten“ gezeigt, seien „in vielfältigen sozialen Konstellationen aktiv“ gewesen und hätten „in den pädagogischen Fachkräften Bezugspersonen“ gefunden, „zu denen sie eine Sicherheit gebende Beziehung eingehen konnten“. Dass allerdings ein Drittel der Kinder davon ausgeschlossen blieb, obwohl es sich hier schon um Kitas mit guter Ausstattung und weitgehend akademisch geprägter elterlicher Klientel handelte, war den Autorinnen kein weiteres Wort wert.

„Dramatischer Personalmangel“

Dass sich dieses Defizit in den Kitas nicht gerade verbessert haben dürfte, kann man derweil an der „DKLK-Studie 2021“ ablesen. Hierbei handelt es sich um eine jährliche Befragung von Kita-Leitungen, an der sich in diesem Jahr nach Angaben der Verantwortlichen von Fleet Education Events, dem Verband Bildung und Wissenschaft (VBE) und der Hochschule Koblenz 4460 Personen und damit so viele wie nie beteiligt haben (Vorjahr: 2795). Das erschütterndste Ergebnis: Der Personalmangel sei derart „dramatisch“, dass „viele Kitas nicht einmal mehr über die Zahl an Mitarbeitenden verfügen, die eine Aufsicht nach gesetzlichen Vorgaben sicherstellt“. Über 4000 Kitas in Deutschland würden damit mehr als die Hälfte des Jahres „in aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckung“ gearbeitet haben“.

Miserables Betreuungsverhältnis

Konkret: Über 40 Prozent der befragten Kitaleitungen gaben an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten „in mehr als 20 Prozent der Zeit in Personalunterdeckung gearbeitet hätten, also mit weniger Personal, als es die Vorgaben, etwa zur Aufsichtspflicht, verlangen“. 80 Prozent der Befragten schätzten die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation in der eigenen Einrichtung schlechter ein, als es die wissenschaftlichen Empfehlungen für das Betreuungsverhältnis vorgeben (U-3-Bereich: 1:3; Ü-3-Bereich: 1:7,5).

„Personal passt nicht“

Ebenfalls bedenklich: Jede zweite Kitaleitung berichtete, wenn auch aus subjektiver Wahrnehmung, dass „der Träger heute Personal einstellt, welches vor Jahren wegen mangelnder Passgenauigkeit nicht eingestellt worden wäre“. Mit anderen Worten: die wenigen Kandidaten, die sich auf dem freien Kita-Job-Markt überhaupt noch bewerben, eignen sich in Wirklichkeit nicht besonders gut für die pädagogische Zusammenarbeit mit Kleinstkindern.

Was bringt die neue Studie?

Beide Faktoren – die dramatische Personalknappheit und das nicht nur fehlende, sondern auch noch oft ungeeignete Personal – dürfte das Wohlbefinden der Kleinsten in den Kitas nicht gerade verbessert haben. Es bleibt zu hoffen, dass die Neuauflage der Stimts-Studie hier zu aussagekräftigeren Ergebnissen gelangt und die Autorinnen zudem den Mut besitzen, die bestehenden Defizite in den Kitas auch klar zu benennen.

Neues Kita-Gesetz verschlimmbessert

Dass höhere Qualitätsansprüche in Kitas auf die Schnelle ohnehin nicht erfüllt werden können, zeigt das Beispiel Niedersachsen: dort gilt seit August ein neues Kita-Gesetz, das dem Thema Qualität mehr Bedeutung beimisst. Demnach soll eine Gruppe – auch zu Randzeiten morgens oder abends und egal wie groß oder klein sie ist – stets von zwei Fachkräften betreut werden. Das führt gerade in ländlichen Regionen jedoch zu der Situation, dass die Gruppen ganz geschlossen werden müssen, weil gar kein Personal da ist.

„Ich glaube, die Politik muss sich ehrlicher machen; wir werden dieses Problem nicht lösen können, wenn wir den Leuten suggerieren, dass es mit den höchsten Standards geht“, zitiert eine Lokalzeitung Marco Mensen vom Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund. Das wäre zwar wünschenswert, aber dafür fehle es sowohl an Menschen wie auch an Geld.

Auf dem Rücken der Kleinstkinder

Wenigstens einer gibt zu, dass gute Kinderbetreuung enorm viel kostet und die Ressourcen weder finanziell noch personell zu stemmen sind. Dass der Mangel vor allem auf dem Rücken der Kleinstkinder ausgetragen wird, haben die beiden oben genannten Studien gezeigt. Der Preis, den die Leidtragenden dafür langfristig zahlen werden, wird in jedem Fall viel zu hoch sein.

Was alle Kinder von klein auf brauchen, um von psychischen Auffälligkeiten, vor allem Angst-Störungen, verschont zu werden, beschreibt W. Thomas Boyce in seinem Buch „Orchidee oder Löwenzahn? – Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können“. Der emeritierte Professor für Pediatrie und Psychiatrie an der University of California hat in jahrzehntelangen Studien das Zusammenwirken von neurobiologischen und psychosozialen Entwicklungsprozessen bei Kindern erforscht. Im Gegensatz zu den obigen Studien konnte er mit differenziertem Blick zeigen, wie psychischer Stress die körperliche Verfassung von Kindern mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beeinträchtigt.

Alarmierende Zustände in Krippen und Kitas - Foto monika-rams@unsplashObwohl diese Erkenntnisse längst vorliegen, lassen wir es immer noch zu, dass auch diese Kinder, die „Orchideen“, in den Krippen täglich viel zu lange, in der Regel sieben, aber auch bis zu neuen Stunden oder gar über Nacht betreut werden, ohne von oft überforderten Erziehern und Erzieherinnen ausreichend Zuwendung, Trost und Ermunterung zu erhalten. Wir begnügen uns damit, dass die Wissenschaftlerinnen uns bescheinigen, „dass es der Mehrzahl der Kinder in den untersuchten Berliner Kitas gut geht.“ Wir nehmen billigend in Kauf, dass bis zu einem Drittel der Kinder, eben die „Orchideen“, wie sie Boyce nennt, dahinwelken, sich zurückziehen und abschotten. Die Explorationsfreude und Neugier der besonders sensiblen, phantasievollen Kinder kann sich unter solchen Bedingungen nicht in dem Maße entfalten, wie wir als Wissensgesellschaft es dringend bräuchten. Eine Gesellschaft wie die unsere ist zunehmend auf Innovation und damit auf Neugier, Kreativität und Mut zum Abenteuer angewiesen, um die Herausfordeungen der Zukunft zu meistern.

Es wäre gut jetzt innezuhalten und diese Kinder ihren Familien zurückzugeben. Dort werden sie naturgemäß geliebt. Und wenn diese Liebe, Geborgenheit und bedingungslose Annahme nur in einem eingeschränkten Maße zur Verfügung steht, sollten wir gesellschaftliche Verhältnisse schaffen, die es Eltern ermöglicht ihren elterlichen Aufgaben entsprechend nachzukommen, ohne die eigenen Lebenschancen zu gefährden.

von Birgitta vom Lehn

Quellenangaben

STIMTS – Stimulation oder Stress? Wohlbefinden von Kindern im zweiten und dritten Lebensjahr in Kindertageseinrichtungen, 01.04.2016 – 31.03.2018, IFAF-Institut für angewandte Forschung Berlin e.V., www.ifaf-berlin.de/projekte/stimts, Projektleitung: Prof. Dr. Rahel Dreyer, Prof. Dr. Susanne Viernickel, Download

DKLK-Studie,2021, Kita-Leitungen: Besondere Herausforderungen in Pandemiezeiten, Wissenschaftliche Begleitung: Dr. Andy Schieler, Prof. Dr. Ralf Haderlein, Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften, Download

Links zum Thema

Sensible Kinder brauchen mehr Zuwendung

Orchidee oder Löwenzahn? – Warum Menschen so unterschiedlich sind und wie sich alle gut entwickeln können, W. Thomas Boyce, Droemer Knaur Verlagsgruppe, 2019

RiLLL-Studie: Entwicklung frühkindlicher Bildungsbedarfe in Berlin: Vom Platzmangel zu Bildungschancen, Dieter Dohmen, Elena Karrmann, Tamara Bayreuther, Oktober 2021

FiBS – Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie, Berlin schreibt dazu in der Pressemitteilung vom 27. Oktober 2021: Platzmangel in Kitas führt zur Ausgrenzung von Kindern mit Migrationshintergrund

Verletzendes Verhalten im Kita-Alltag, Prof. Dr. Regina Remsperger, nifbe – Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung e.V., Oktober 2021

„Wilder Löwenzahn, fragile Orchidee“ Von wegen trauriges Sensibelchen: Feinfühlige Kinder blühen stärker auf als ihre robuste Altersgenossen – wenn das soziale Umfeld stimmt, Hubertus Breuer, Süddeutsche Zeitung GmbH, 29. Dezember 2010

Differential susceptibility 2.0: Are the same children affected by different experiences and exposures?, Jay Belsky, Xiaoya Zhang and Kristina Sayler, Cambridge University of 26 February 2021,pdf