„Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes Leben hindurch die kalte Welt aushalten.“, schrieb Jean Paul um 1800 – vor gut 200 Jahren (Levana, § 126).
Auch heutige Kinder brauchen die Liebe ihrer Eltern je mehr sie durch ihre Umgebung verunsichert werden und je mehr ihnen unsere schnelllebige Zeit zusetzt. Doch wie lernen Kinder sich sicher zu fühlen, Resilienz zu erlangen und sich zu prosozialen Persönlichkeiten zu entwickeln, die unsere Gesellschaft und Demokratie mittragen?
Sven Fuchs, Gewaltforscher, Psychohistoriker und Autor des Buches: Die Kindheit ist politisch! geht in seinem Buch destruktiven Kindheitserfahrungen und ihren gesellschaftlichen Folgen nach. So hat er Verantwortung tragende Persönlichkeiten wie etwa Wladimir Putin, Bill Clinton, Boris Johnson oder auch Horst Seehofer näher beleuchtet.
Wie sich erlebte Angst in der frühen Kindheit noch weit bis ins Erwachsenenalter auswirkt, mag folgendes Beispiel aufzeigen: Erinnern Sie sich, wie ungehobelt Horst Seehofer sich gegenüber der Bundeskanzlerin von Deutschland, Angela Merkel, im November 2015 benahm? Hier nochmal zum Nachschauen ein Video auf Youtube.
In einem früheren Interview sagte Horst Seehofer über seine Kindheit u.a.: „Ich hatte strenge Eltern (…). Einmal die Woche gab es eine Ohrfeige und in der Schule auf die Pratzn. Die Mutter hat gesagt, wenn du nicht brav bist, liegt einer unterm Bett.“ Summa summarum machen das in einem Jahr 52 elterliche Ohrfeigen. Disziplin und Gehorsam sind die Werte, die im Elternhaus der Familie Seehofer zählten.
In unserem Interview gibt Sven Fuchs Antworten, warum wir Kindern mit Liebe, Vertrauen und Geborgenheit begegnen sollten und wie wir als Gesellschaft der Gewaltspirale entkommen können.
fürKinder: Was hat Sie persönlich bewegt sich diesem Thema: „Der Gewalt in den Eltern-Kind-Beziehungen“ zuzuwenden?
Sven Fuchs: Es gibt nicht DEN auslösenden Moment für mein Interesse an der Gewalt in Eltern-Kind-Beziehungen. Vielmehr ergab sich mein Interesse aus einem Gemisch von persönlichen Beobachtungen und Begegnungen im privaten und beruflichen Umfeld mit Menschen, die (schwere) Gewalt und/oder Vernachlässigung als Kind erlitten hatten und die Wahrnehmung der Folgen daraus. Sehr prägend war ergänzend auf jeden Fall meine Zivildienstzeit in einer Hamburger Drogentherapieeinrichtung. Die Menschen dort hatten sehr oft unfassbare Kindheitsschicksale hinter sich; ein „Klient“ ist über Nacht abgehauen und hat sich dann durch eine Überdosis umgebracht. Solche Erlebnisse graben sich tief ein.
Alle Lichter gingen bei mir schließlich an, als ich Bücher von Alice Miller (vor allem „Am Anfang war Erziehung“) und Arno Gruen (vor allem „Der Fremde in uns“) gelesen hatte. Danach kam ich nicht mehr von dem Thema los.
fürKinder: Haben Sie aus Ihren Kindheitstagen besondere Erinnerungen, die Sie noch heute „wärmen“?
Sven Fuchs: Ja. Meine Eltern waren leidenschaftliche Segler. In meiner Kindheit habe ich gefühlt fast alle Häfen Dänemarks kennengelernt. Noch heute liebe ich es, wenn jemand dänisch spricht. Diese Freiheit auf See, das freie Spielen in neuen Häfen, die man entdecken konnte, in einer anderen Welt, das Vertrauen meiner Eltern, dass ich mich schon sicher in neuen Gegenden zurechtfinden werde, das hat mich tief geprägt
fürKinder: Was sollten wir Kindern auf dem Weg ins Leben mitgeben, damit sie sich zu einer prosozialen Persönlichkeit entwickeln?
Sven Fuchs: Das Gefühl angenommen und „richtig“ zu sein. Das Gefühl, dass man selbst als Kind kompetent ist und seine Wege gehen wird. Das Gefühl, dass es im eigenen Zuhause sicher ist und man nicht verletzt wird. Und: Es braucht Eltern, die zwischen „Ich“ und „Du“ unterscheiden können. Eltern, die mitfühlen und sich flexibel auf den jeweiligen Menschen einstellen können, der da in die Familie geboren wird. Eltern, die mit ihren Kindern immer im Gespräch bleiben und sich interessieren. Und Eltern, die wissen, dass sie Fehler haben und machen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Unser Interviewpartner: Sven Fuchs
geb. 1977, Vater von zwei Kindern, selbstständiger Kaufmann, studierte an der Universität Hamburg Soziologie, Politik und Psychologie und beschäftigt sich in seinem Blog (seit 2008) „Kriegsursachen, Destruktive Politik und Kindheit“ mit der weltweiten Gewalt gegen Kinder als zentralen Aspekt in der Kriegsursachen-Forschung. Er ist Mitglied der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP) Eine frühe Fassung seiner Thesen: „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an: Plädoyer für einen offenen Blick auf die Kindheitsursprünge von Kriegen, Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Außenpolitik 4/2012
Links zum Thema
„Der Aufreger“, Süddeutsche Zeitung (Nr. 132), 12. Juni 2018 Interview mit Horst Seehofer von Constanze von Bullion
„Die Kindheit ist politisch“, Sven Fuchs
„Gewalt gegen Kinder“, Sven Fuchs
„Erziehung prägt“, Dr. Herbert Renz-Polster
„Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“, Regisseur Michael Haneke, Haneke über den Film: „Ideologie ist eine verabsolutierte Idee. Überall, wo es Unterdrückung, Demütigung, Unglück und Leid gibt, ist der Boden bereitet für jede Art von Ideologie. Deshalb ist ‚Das weiße Band‘ auch nicht als Film über den deutschen Faschismus zu verstehen. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht. Das ist die Grundidee.“
Rechtlich gesehen haben alle Kinder, die in Deutschland aufwachsen, seit der Einführung des Gesetzes im Jahr 2000 mit dem § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung das ausdrückliche „Recht auf gewaltfreie Erziehung“.
Niemals Gewalt (Never Violence), David Aufdembrinke, DAGO Kinderlobby e.V., 16.09.2009
Eine Geschichte über die Unsinnigkeit von Gewalt in der Erziehung, die auf der Rede von Astrid Lindgren 1978 anlässlich des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels basiert. „Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang“, Astrid Lindgren.
Dem Filmemacher David Aufdembrinke war es besonders wichtig, den Blickwinkel des Kindes einzufangen, um den Zuschauern ins Gedächtnis zu rufen, wie Gewalt als Erziehungsmittel von Kindern wahrgenommen wird und dass diese mit ihrer Empfindung genau richtig liegen. „Wie Lindgren so richtig sagte, hängt unsere Zukunft von dem ab, was unsere Kinder heute erfahren. Wenn ein Kind Gewalt erlebt, nimmt es diese als Normalität hin, und wird sie deshalb auch weitergeben. Die Zukunft liegt in den Händen unserer Kinder. Erst wenn sie Gewalt als etwas Fremdes erleben, können wir auf eine friedvolle Zukunft hoffen“, erklärt der Regisseur sein Engagement.