Erziehung ohne Beschämung - Foto epert © photocaseDie Diplompädagogin und Psychotherapeutin Gabriele Pohl, Mutter von fünf Kinder und Großmutter von 15 Enkeln, ist zornig. Nach 60 Jahren Bindungstheorie und unzähligen Veröffentlichungen zu den negativen Folgen einer Erziehung als Einpassung in vorgegebene gesellschaftliche Schemata beobachtet sie einen pädagogischen Mainstream, der genau diesen Ansprüchen folgt, der Kinder von Anfang an er-zieht, statt ihr je ganz eigenes Wachsen liebevoll zu begleiten. Hier ihr leidenschaftliches Plädoyer:

Die Würde des Kindes ist unantastbar

Das Grundgesetz ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Artikel 1 besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Kinderrechte sind Menschenrechte. Seit 1998 wacht die Kinderrechtskonvention der UN über die Einhaltung der Kinderrechte. Sie beinhalten als wesentlicher Bestandteil das Recht auf gewaltfreie Erziehung.

Freie Entfaltung der Persönlichkeit – von Anfang an

„Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“

Die Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe des Lebens eines Menschen und ist von seinen Lebensbedingungen abhängig. Das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst daher den Anspruch auf den Schutz der Entwicklungsbedingungen von Anfang an. Menschenrechte für Kinder umzusetzen bedeutet, die besonderen Bedingungen der Kinderzeit hervorzuheben und Rahmenbedingungen für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu schaffen.

Kinder zu schlagen, ist also verboten. Das gehört inzwischen – wenn auch nicht immer befolgt – zum erzieherischen Gemeingut.

Weniger im Bewusstsein ist, dass gewaltfreie Erziehung auch entwürdigende Maßnahmen und seelische Verletzungen einschließt. Tatsächlich belegen Zahlen, dass die körperliche Gewaltanwendung sowohl in den Familien als auch in den Institutionen deutlich abgenommen hat. Was aber, wenn andere, subtilere Erziehungsmaßnahmen, die seelische Verletzungen verursachen, eingesetzt werden?

Der Ruf nach Gehorsam

Erziehung ohne Beschämung - Foto Juanmonino © iStockEltern sind einem enormen Druck ausgesetzt, einerseits, weil sie selbst im Erwerbsleben „funktionieren“ sollen und das meist nicht nur acht Stunden am Tag, sondern auch darüber hinaus. Gleichzeitig sollen sie ihre Kinder erziehen, so dass diese in der Gesellschaft ebenso funktionieren.

Wenn ein Kind aus dem (von den jeweiligen Erwachsenen vorgegebenen) Rahmen fällt, ist man schnell bei der Hand, die Eltern in die Pflicht zu nehmen. Das geht bisweilen soweit, dass Diagnosen über Kinder gestellt (gerne auch von Nichtfachleuten) und die Eltern dazu verleitet werden, durch Medikamentengabe störende „Symptome“ bei ihren Kindern beseitigen zu lassen.

Irrwege der Verhaltenstherapie

Von Kindern wird heute eine hohe Anpassungsleistung erwartet. Deshalb probieren manche Eltern in ihrer Not fragwürdige Erziehungsmethoden aus, handeln dabei oft wider besseren Wissens oder gegen ihr eigenes Gefühl, weil ihnen von „Fachleuten“ suggeriert wird, dass Disziplin, Strenge, Belohnung und Bestrafung der einzige Weg sei, um aus scheinbar unbändigen Kindern brave Familienmitglieder, Schüler und Staatsbürger zu machen.

Gewisse zu Hause praktizierten häuslichen Erziehungsmethoden sind aus einer simplifizierten Form der Verhaltenstherapie entnommen:

Was sollen Eltern tun, wenn es Schwierigkeiten in der Erziehung gibt?
Die Empfehlungen heißen dann:

Verstärkerpläne aufstellen: Smileys oder Gummibärchen verteilen bei gutem Benehmen, Listen an die Küchentür hängen – mit „schwarzen Tagen“, an denen das Kind ins Bett gemacht hat und „gelben“, wenn das nicht der Fall war.
Belohnungssysteme einführen: zehnmal nicht ins Bett gepieselt, ergibt einmal Kino als Belohnung. Fünfmal freche Antworten gegeben, ergeben fünf traurige Smileys und einmal Fernsehverbot.

Das ist harmlos gegen manch andere Empfehlung: Wenn Sie unter dem Begriff „kidhacking“ im Internet nachschauen, finden Sie ausgeklügelte Systeme, die jede, wirklich jede Handlung des Kindes, vom Zähneputzen, Pipi machen, Teller abräumen, ohne Jammern laufen, selbst anziehen usw. mit Coins belohnen. Diese wiederum sind dann auszutauschen gegen: eine Serie gucken (4 Coins) einen ganzen Film schauen (10 Coins) – praktiziert bei einem dreijährigen oder einem fünfjährigen Kind!

Auf Pump Vergünstigungen kaufen, soll man besser lassen, rät der Autor, „die Kinder rutschen sonst voll in die Schuldenfalle“. Mit diesem System können sich die Kinder Belohnungen „freischalten“. „Damit hast du ein wunderbares Werkzeug, um deine Kinder liebevoll zu formen!“ [1]

Wachs in der Hand des Erwachsenen?

So zieht der Kapitalismus fröhlich in die Kinderstube ein. Kinder werden zu dem gemacht, was sich der Erwachsene vorstellt: Willige Ausführungsorgane für den, der das Sagen hat – wer immer das im späteren Leben sein wird.

Erziehung zur Freiheit? Erziehung zu Einsicht und Selbständigkeit? Darum geht’s hier nicht!

Eltern, die solche Methoden ausprobiert haben, geht in der Regel spätestens nach vier Wochen die Luft aus. Erstaunt – und vielleicht auch etwas erleichtert – stellen sie dann fest, dass das schöne Programm so leider gar nicht funktioniert und versuchen lieber wieder, für ein heiteres, ungezwungeneres und harmonisches Familienleben zu sorgen. Das wirkt dann auch nachhaltig.

Es wird jedoch – bei allen Bemühungen der meisten Eltern um einen liebevollen Umgang mit ihren Kindern – kälter in der Erziehungslandschaft. Woher der kalte Wind der Pädagogik weht und wer den Zeitgeist bestimmt, sehen wir an den Medien. Nicht nur an Büchern mit Titeln wie: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (Michael Winterhoff), sondern auch daran, wie Pädagogik und Therapie von unerwünschtem Verhalten im öffentlichen Raum präsentiert werden.

Dokumentarfilm: Elternschule

Die schlimmsten Auswüchse einer menschenverachtenden Haltung Kindern gegenüber sind abzulesen an dem Dokumentarfilm: „Elternschule“. Er lief eine Weile im Kino und war vor kurzem im Fernsehen zu sehen. Gezeigt wird eine Gelsenkirchener psychosomatische Klinik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, verzweifelten Eltern zu helfen, die mit ihrem Latein am Ende sind, weil deren Kinder nicht schlafen wollen, nicht essen, aggressiv sind oder auf andere Weise aus dem Rahmen fallen.

Der Film, der zeigt, wie dabei vorgegangen wird, wurde von der Presse hochgelobt : “Ein Muss für alle Eltern“. Therapeuten wurden zu „Kinderflüsterern“ hochstilisiert.

In der Klinik werden Kinder bewusst Stress ausgesetzt z.B. indem sie übergangslos von ihren Müttern getrennt werden, allein ungetröstet in stockdunklen Räumen schlafen sollen oder zum Essen gezwungen werden. Das soll Stressreduktion herbeiführen. In den Medien darf man diese Kinder dann als „durchgeknallte Heulsusen“ bezeichnen.

Trotz aller Kritik und Empörung von Seiten des Kinderschutzbundes und vieler Eltern, Pädagogen und Ärzte wurde der Film kommentarlos im Fernsehen gezeigt und damit den Eltern suggeriert: So müsst ihr es machen, wenn eure Kinder keine „kleinen Tyrannen“ werden sollen.

„Gelobt sei, was hart macht!“ Hatten wir das nicht schon einmal in unserer Geschichte?

Wir wissen doch längst aus der Bindungstheorie, dass Trennungsängste niemals durch gewaltsame Trennung verschwinden. Nur durch eine starke und sichere Bindung wird dem Kind allmählich Loslösung möglich. Sollten Sie sich den Film zumuten, beachten Sie die leeren Blicke derjenigen Kinder, die am Ende „erfolgreich“ das Training absolviert haben. Diese Kinder haben resigniert, sind gebrochen.

Was passiert mit Kindern, deren Entwicklung durch herabwürdigende Maßnahmen behindert wurde?

Sie werden nicht selten zurückschlagen, sich an scheinbar Schwächeren rächen für das, was ihnen zugefügt wurde.

Sehen wir nun mal von der ganzen Pädagogik und den fragwürdigen Therapieverfahren ab, und schauen wir uns nur mal den Umgang von Erwachsenen mit Kindern an, wie er uns in den Medien in seinen fragwürdigsten Formen gezeigt wird:

Der ganz alltägliche Missbrauch

Auf YouTube gibt es ca. 35.000 Videos von Kindern, die auf die eine oder andere Weise vorgeführt, beschämt, herabgewürdigt werden. Extreme, wie die „Scharfe-Soßen-Mutter“ [2], die aufnimmt, wie sie ihren siebenjährigen Sohn bestraft, indem sie ihm Tabasco-Soße in den Mund schüttet und ihm kalte Duschen verabreicht, rufen wohl mehrheitlich Entsetzen hervor und werden definitiv als Kindesmisshandlung gewertet (und das hatte in diesem Fall glücklicherweise eine polizeiliche Ermittlung zur Folge).

Aber wie steht es denn mit weitaus „harmloseren“ Fällen?

Schauen Sie – wenn sie es aushalten – nur mal Videos, wie die folgenden an – in Amerika nennt man es „public shaming“. Der Komiker Jimmy Kimmel fordert in seiner TVShow Eltern auf, ihre Kinder zu täuschen, sie zu belügen und sie dabei zu filmen.

Ein Video, das zeigt, wie ein Vater seinem Kind erzählt, er habe alle Halloween-Süßigkeiten des Kindes aufgegessen – und die fassungslose, enttäuschte Reaktion des weinenden Kindes darüber, bekommt 1.400.000 Klicks. Die überwiegenden Reaktionen darauf sind positiv (Lacher). Kimmel ruft Eltern dazu auf, ihren Kindern zu Weihnachten Müll zu schenken und ihre Enttäuschung zu filmen. Das wird auch immer gern gesehen, rund 52.000.000 Mal!

Ein beliebtes Thema, bei dem gern gefilmt wird: Kinder, die ausrasten, weil sie beim Computerspiel verlieren, bekommen Millionen von Aufrufen. Tausende Filme, die Kinder bei Missgeschicken zeigen, Aufnahmen von Kindern, die von Erwachsenen reingelegt werden, in denen Kinder der Lächerlichkeit preisgegeben werden, werden tausendfach ins Netz gestellt. Kinder werden an den virtuellen Pranger gestellt.

Das anzuschauen amüsiert erwachsene Menschen! Schadenfreude ist auch hier die schönste Freude?

„The Ellen Show“ präsentiert Fotos von Kindern in Situationen, in denen sie irgendetwas anstellen, das den Eltern nicht behagt. Eltern schicken diese Fotos zu Ellen, die von der Showmasterin „humorvoll“ kommentiert werden: „Why I don´t have kids.“

Eine Werbesendung zeigt ein Kind, das schreit, weil es etwas haben möchte. Die Sendung empfiehlt: „Use condoms!“.

Erziehung ohne Beschämung - Foto iStock © Debbie LundWenn Kinder solche Dinge – jetzt oder Jahre später – zu sehen bekommen, obwohl es sie ja nur indirekt betrifft, werden sie sich dann nicht fragen, was Kindsein eigentlich wert ist? Ist Kindsein an sich schon ein Zustand, für den man sich schämen sollte? Was werden die Kinder über sich denken, deren Mütter öffentlich verlauten lassen, wie sehr sie die Mutterschaft bedauern: „Es ist der Albtraum meines Lebens!“? #Regrettingmotherhood oder „Die Mutterglücklüge“?

Was macht wohl ein schüchterner Jugendlicher, dessen Eltern eine damals als harmlos und süß empfundene Situation in einem Video festgehalten und bei YouTube veröffentlicht haben. Ein Video, das ihn als Kind in einer speziellen Situation vorführt? Seine Mitschüler haben es irgendwann entdeckt und freuen sich jetzt diebisch, überall im Netz herumschicken zu können, wie der kleine Leon sein vollgemachtes Töpfchen vorzeigt. Dem großen Leon wird das Lachen vergehen.

Und was macht das mit den Kindern?

Wer beschämt wird, findet nicht die Beschämer doof, sondern vor allem sich selbst. Wer immer klein gehalten wird, hält sich selbst für unwert und schreibt das Unvermögen sich selbst zu.

Erst im Erwachsenenalter kann das reflektiert und eingeordnet werden. Aber selbst dann haften die Beschämungen oft so fest am Beschämten, dass es schwer ist, ein positives Selbstbild herzustellen. Im Zweifelsfall wird er/sie – selbst wenn jemand nur gutmütig über ihn/sie lacht – angetriggert, reagiert mit übermäßigem Beschämtsein und fühlt sich wieder klein und ausgeliefert.

Vielleicht scheinen Ihnen diese Zustandsbilder pessimistisch, übertrieben, absolute Ausnahmen, die mit Ihrer Wirklichkeit nichts zu tun haben. Möglich, ja, wahrscheinlich sogar. Es bildet nicht die gelebte Realität der heutigen Kinder in den meisten Familien ab. Aber es zeigt eine Tendenz, die bedenklich ist und deshalb ins Bewusstsein gerückt werden muss.

Immerhin berichten 70 Prozent aller Schulkinder, dass sie Beschämung bei anderen erlebt haben oder sogar von ihr betroffen waren.

Gewalt, Verachtung, Rückzug als Schamabwehr

Um sich ein positives Selbstbild zu erhalten, muss die Scham abgewehrt werden, indem andere Menschen klein gehalten und verachtet werden. Eine Studie zum Rechtsextremismus berichtet von „traumatischen Entwertungserfahrungen in den Biographien rechtsextremistischer Gewalttäter“ durch jahrelange Kränkungen und Misshandlungen. Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Buch: „Erziehung prägt Gesinnung“ (Herbert Renz-Polster).

Oft ziehen sich die Gedemütigten einfach aus sozialen Zusammenhängen zurück, verharren im Schweigen und geben möglichst wenig von sich preis, weil sie bei sich wenig Liebenswertes entdecken können.

Wer sich nicht selbst wertschätzt, kann auch das Positive bei anderen kaum sehen. Die Verachtung, die man für sich selbst empfindet, wird auf andere projiziert. Was im Extremfall als Reaktion zur Schamabwehr bleibt, sind Arroganz, Größenfantasien, Verachtung … und erzeugt letztendlich dissoziales Verhalten.

Wir Eltern, Pädagogen und Therapeuten haben die Aufgabe, die Kinderseelen zu schützen, wir müssen daher wachsam bleiben und dürfen Demütigungen und Verletzungen der Menschenwürde nicht dulden.

von Gabriele Pohl


[1] Inspirationspartikel, Stefan Denk, 3.10.2019

[2] Hot Sauce Mom, Jessica Beagley auf You Tube

Links zum Thema

Rechtsextremismus und Jugendgewalt im Kontext psychologisch fundierter Biografieforschung, Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 9, No. 2, Art. 8 – Mai 2008

Terror von Links – Kindheit von Hans-Joachim Klein, Sven Fuchs, 18. September 2019

Präventivpädagogische Gruppe – Der präventive Ansatz versucht Kinder und Jugendliche, bei denen sich erste Anzeichen von Schulabsentismus zeigen, bereits frühzeitig aufzufangen und zu stabilisieren, um innerhalb kürzester Zeit selbstständig und ohne weitere Unterstützung den weiteren „Schulweg“ zu gestalten. Bericht im ARTE Journal, Jakob Groth, 24. September 2019

Lebensnahes Lernen. Grundlage für frühkindliche Bildung,

Das Buch Mama, nicht schreien! von Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter beschreibt, warum es sich lohnt liebevoll bei Stress, Wut und starken Gefühlen zu bleiben und warum es gar nicht so einfach ist, starke Gefühle wirklich auszuhalten. Lesen Sie die Rezension von Vanessa Welker