Haut-Kontakt-Konzept 1 - Zeichung Manu Sommer-Ritz © SeverinsklösterchenDie Natur weiß es seit Jahrtausenden: Mutter und Kind gehören von Anfang an zusammen – Haut auf Haut.

Wie mühsam wir uns dieses Wissen ins Bewusstsein zurückholen müssen, zeigte ein Workshop von zwei jungen empathischen Hebammen und SAFE®-Mentorinnen aus dem Krankenhaus der Augustinerinnen in Köln, den sie im Rahmen der 2. Internationalen und interdisziplinären Early Life Care Konferenz abhielten. Ihr Engagement für die „Wochenbettpflege“ und ihre Begeisterung wirkten wie Pionierarbeit. Unermüdlich setzen sich Susanne Ritz und Vera Witsch für das Wohlbefinden Neugeborener und ihrer frischgebackenen Mütter und Väter ein. Gleichzeitig motivieren und schulen sie andere Mitstreiter, Kolleginnen, Vorgesetzte.

Das intensive Haut-Kontakt-Konzept der Augustinerinnen Wochenstation ist ambitioniert; betrachtet es doch den Säugling und seine Eltern von Anfang an als kompetent. So etwa die wissenschaftlichen Erkenntnisse, das die elterliche Stimme das Neugeborene in eine konzentrierte Aufmerksamkeit versetzt und Ko-Regulation dem Baby hilft, seine Gefühle wahrzunehmen und sie zu regulieren.

Doch wie schaffen Mütter den Spagat, einerseits das Geburtserlebnis zu verarbeiten und andererseits ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken? Hilfestellung geben die Hebammen im Rahmen der bindungs- und bedürfnisorientierten Frühwochenbettpflege, die darauf abzielt, die emotionale Einheit von Mutter und Kind feinfühlig abzustimmen und zu festigen. Alle Maßnahmen werden dabei dem Aspekt der Bindungsförderung untergeordnet, denn in der engen Mutter-Kind-Verbindung von Anfang an wird die Grundlage für die Persönlichkeitsbildung und die Beziehungsfähigkeit der Kinder gelegt.

Was hier anmutet wie eine Wellness-Oase ist das Wochenbett:

sicher – geborgen – entspannt schlafen, das gilt hier für Eltern und Kind.

Im Flyer der Elterninformation wird von drei goldenen Regeln gesprochen:

1. Gönnen Sie sich und Ihrem Baby so viel Hautkontakt wie möglich.
2. Stillen oder füttern Sie nach Bedarf Ihres Kindes.
3. Reagieren Sie prompt, angemessen und zuverlässig auf die Signale Ihres Kindes.

„So banal kann es sein, gesunde Eltern aufwachsen zu lassen“, sagen Susanne Ritz und Vera Witsch. Hinter ihnen liegen zehn Jahre Arbeit, in denen sie Vorgesetzte und Kollegen immer wieder mitnehmen mussten, um alte Strukturen aufzubrechen, vertraut gewordene Gewohnheiten abzulegen und neue Sichtweisen annehmen zu können und zur Routine werden zu lassen.

Haut-Kontakt-Konzept 2 - Zeichnung Manu Sommer-Ritz © SeverinsklösterchenSo etwa diese Binsenweisheit: „Kalte Hände und Füße beim Neugeborenen sind normal.“ Sie trifft für Neugeborene zu, die allein in ihrem Bettchen liegen, aber nicht für Neugeborene, deren Mütter bzw. Väter ihr Kind jederzeit nackt spüren können wie beim Haut-Kontakt-Konzept. Dabei geht es um „die optimale Temperierung des Neugeborenen“ und bei dieser Methode sind Hände und Füße immer schön durchblutet und gut gewärmt. Das Neugeborene liegt in einer Anhock-Spreizstellung bäuchlings auf dem nackten Bauch der Mutter/Vater im Bondingtop. Nebenbei wird die Ausschüttung des „Kuschelhormons“ Oxytocin gefördert, das in hoher Konzentration über die Haut, im Brustbereich ausgeschüttet wird und zwar bei Eltern und Kind d. h. aufkommendem Stress setzt die Natur massiv etwas entgegen. Auch wirkt der direkte Haut-auf-Haut-Kontakt prophylaktisch gegen den plötzlichen Kindstod, denn durch die Impulse der Eltern wie Geruch, Bewegung erinnert sich das Kind immer wieder an die Atmung.

Routinemäßig begleiten die Augustinerinnen Hebammen nach dem neuen Konzept Eltern bereits vor der Geburt, indem sie ein erstes Kennenlernen in Form eines Vorgespräches führen und über das Haut-Kontakt-Konzept gewissenhaft aufklären, um Eltern frühzeitig Sicherheit zu geben und aufkommenden Ängsten von vornherein entgegenzutreten wie etwa: „Kann mein Baby aus dem Bett fallen?, Kann es sich überhitzen?“ Um die elterlichen Gefühle besser zu verstehen, sprechen sie auch die elterliche Bindungsgeschichte an. So kann eine vorausgegangene angstbehaftete Geburtserfahrung oder erlebte familiäre Traumata wie der Plötzliche Kindstod die Freude über das Neugeborene trüben und zwischen Mutter und Kind stehen. Diese Gefühlswallungen erschweren den Bindungsaufbau. Ist das Baby da, geben sie ganz praktische Anleitung und Hilfestellung wie etwa beim Betten von Mutter und Kind, spiegeln die Gefühlsebene wider und intensivieren die Beratung, die immer nur ein Klingelruf entfernt ist.

Der Schlüssel zum Erfolg des Haut-Kontakt-Konzeptes der Augustinerinnen Wochenstation liegt in seiner ganzheitlichen Sichtweise auf Mutter und Kind d. h. Wissen von den Bedürfnissen, Einfühlung in die Bedürfnisse und praktische Umsetzung der Bedürfnisse von Mutter-Vater-Kind. Eine Wohlfühlatmosphäre, die sich an dem seelischen Zustand orientiert, in der das Baby ankommen kann und sich Eltern und Kind wohlfühlen. Spürbar ist die elterliche Zufriedenheit und sichtbar: entspannte Neugeborene.

Matthew Appleton, britischer Körperpsychotherapeut, der sich auf prä- und perinatale Psychologie spezialisiert hat, beschreibt es so:

Wenn du die Babys richtig verstehst, sind sie wie gebannt. Sie sehen dich tief an, als ob sie sagen wollten: Ah, du verstehst mich!

Die Begeisterung und der helfende Ansatz von Susanne Ritz und Vera Witsch erinnert unweigerlich an eine Frau, die sich mit genauso einem unermüdlichen Engagement für frühgeborene Kinder eingesetzt hat und sich dabei auf die Bedeutung von Bindung, Vertrauen und Sicherheit berief: Dr. Marina Marcovich.

Marina Marcovich, Neonatologin, Kinderärztin und Vorkämpferin für den sanften Umgang mit dem Baby wusste bereits in den 80er Jahren, wovon die beiden Hebammen heute sprechen. Sie rüttelte die Schulmedizin wach, setzte mutig neue Maßstäbe und stieß auf Ablehnung in den Fachkreisen. Konventionelle Mediziner fürchteten, die Frühchen würden unnötig in Lebensgefahr gebracht, wenn man sie aus dem Brutkasten nimmt und sich mit der Pflege am Neugeborenen orientiert.

Das frühgeborene Kind ist in der Regel besser an der Mutterbrust aufgehoben als in einem sterilen Raum, Marina Marcovich, 1994.

Unverständlich wenn man bedenkt, dass „alle Kinder, die geboren werden, sich einfach nur wohlfühlen wollen“, wie der 7-jährige Sohn von Vera Witsch sagt. Und natürlich will auch die Ärzte- und Pflegeschaft, dass es dem Neugeborenen gut geht und so sanft wie möglich ins Leben eingreifen. Statt auf High-Tech-Medizin und Medikamente setzte Marina Marcovich auf Mutter Natur: „Sanfte Hilfe für Frühchen“. Statt das Neugeborene im Brutkasten zu versorgen, legte sie Frühgeborene ihren Eltern auf die nackte Brust. Und sie plädierte dafür die Weichen bereits im Kreißsaal zu stellen, denn „oft erzeugt erst der Schock der Trennung das Atemnotsyndrom, dass die invasive Beatmung dann notwendig macht“. Abwarten zu können, sei wichtig. Denn auf dem mütterlichen Bauch kann sich das Neugeborene in Ruhe auf die veränderten Umstände einstellen. Es kennt ihren Geruch und ihre Stimme, und die Chancen, dass es selbst anfängt zu atmen, sind so am größten.

Haut-Kontakt-Konzept 3 - Zeichnung Manu Sommer-Ritz © SeverinsklösterchenDie Känguruh-Methode und die genaue klinische Beobachtung der Frühchen hielt Marina Marcovich als schonender und auch aussagekräftiger, als beispielsweise der routinemäßige Pieks in die Ferse. Die Eltern müssen von Anfang an in die Pflege miteinbezogen werden, denn „auch die Eltern sind zu früh geboren. Wir müssen ihnen Zuversicht geben und sie unterstützen, mit der Situation zurecht zu kommen.“

Friedhelm Porz, Kinderarzt am Zentralklinikum Augsburg legte Anfang der neunziger Jahre den Finger noch tiefer in die Wunde: „Defizite in dieser frühen Eltern-Kind-Phase sind verantwortlich für spätere Verhaltensauffälligkeiten und sogar Misshandlungen seitens der Eltern.“

Seit der Jahrtausendwende ist die Behandlung Frühgeborener nach der Methode von Dr. Marina Marcovich in vielen Kinderkliniken selbstverständliche Routine geworden, auch in Kliniken, die ihr Konzept wenige Jahre zuvor bekämpft haben. Ihr Erfolg mit „sanfter Hilfe für Frühchen“ gibt ihr bis heute recht, wie Fakten und Langzeitstudien wissenschaftlich nachweisen.

Fazit: Mit sanfter Hilfe während der Schwangerschaft, unter der Geburt, im Wochenbett und darüber hinaus wachsen Kinder sicher, geborgen und entspannt von Anfang an heran. Diese frühen Erfahrungen prägen die neue Familie und sie wirken sich präventiv auf die kindliche Entwicklung und seine Beziehungen in der Familie sowie für seinen weiteren Lebenslauf aus. Auch als Gesellschaft profitieren wir von wegweisenden Projekten wie diesen insgesamt. Denn wenn es uns gemeinsam gelingt, Mütter und Väter für die Ergebnisse der Bindungsforschung zu sensibilisieren, sie darin zu bestärken, sich ihrer Einzigartigkeit für ihr Kind bewusst zu werden und ihrer Intuition zu folgen, verhelfen wir ihnen und ihren Kindern zu einem glücklichen, erfüllten Leben.

Redaktion fürKinder

Links zum Thema

Neue WHO-Empfehlungen für Frühchen „Über die Kraft des Kuschelns“, spiegel-online, 16.11.2022
Nach über 40 Jahren sind die Erkenntnisse von Dr. Marina Marcovich bei der WHO angekommen. Es bleibt abzuwarten, wann Frühgeborene routinemäßig in Kliniken vom frühen mütterlichen Hautkontakt profitieren dürfen.
Originalquelle: WHO advises immediate skin to skin care for survival of small and preterm babies, 15.11.2022

Haut-zu-Haut-Kontakt kann zarte Babys retten, Spektrum.de, 04.06.2021 mit Hinweis auf die Studie im New England Journal of Medicine

Die Natur hat alles optimal eingerichtet, Dr. Marina Marcovich

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